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Title
Scholars in Exile. The Ukrainian Intellectual World in Interwar Czechoslovakia


Author(s)
Zavorotna, Nadia
Published
Extent
277 S.
Price
$75,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Isabella Löhr, Centre Marc Bloch, Berlin

Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Exil ukrainischsprachiger Wissenschaftler und Intellektueller in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit. Seine Aktualität ist traurig und bestürzend zugleich und so gibt es zumindest auf den ersten Blick eine Reihe von Parallelen zu den aktuellen Ereignissen. Das gilt vor allem für die massenhafte Flucht von Forschenden, die ab dem Sommer 1920 ins europäische Ausland gingen, nachdem die Besetzung weiter Teile der Ostukraine durch die Bolschewiki im Sommer 1920 das Projekt der ukrainischen Staatsbildung gewaltsam beendet hatte. Mit der Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik 1921 wurde die Ukraine zur Unionsrepublik und als solche Teil der föderalen Struktur Sowjetrusslands mit der Konsequenz, dass ihre politischen Kompetenzen beschränkt blieben und sie sich der Herrschaft der Kommunistischen Partei unterordnen musste. Diese gewaltsame Eingliederung in den sowjetrussischen Herrschaftsbereich löste eine Fluchtbewegung aus. Die Hälfte der Flüchtenden waren Bauern, oftmals ehemalige Soldaten, und ein Drittel setzte sich aus der intellektuelle Elite zusammen. Ziele dieser Fluchtbewegungen waren Berlin, Istanbul, Paris, Warschau und vor allem Prag, das im Zentrum dieses Buchs steht. Nadia Zavorotna interessiert sich für die Aufnahme von Intellektuellen, Wissenschaftlern und wenigen Wissenschaftlerinnen in der Tschechoslowakei, wobei der Fokus auf den eigens dafür bereit gestellten staatlichen Mitteln zur Förderung von ukrainischsprachigen Wissenschaftsorganisationen, Personen und Verbänden liegt.

In der russisch-, ukrainisch- und tschechischsprachigen Forschung ist weithin bekannt, dass die Tschechoslowakei bis 1934, als sie die Sowjetunion formal anerkannte, eine wichtige Förderin der ukrainischen Wissenschaft war. Zavorotna argumentiert zurecht, dass dieser Aspekt der Wissenschaftsemigration im 20. Jahrhundert in der englischsprachigen (und, wie ich hinzufügen würde, deutschsprachigen) Literatur bisher wenig wahrgenommen wurde. Entsprechend sieht die Autorin den Mehrwert ihrer Studie darin, diese Geschichte einem breiten englischsprachigen Publikum zugänglich zu machen. Dass dies eine gute Idee ist, zeigt sich schon bei einem Blick ins Inhaltsverzeichnis: Mit der Ukrainian Free University in Prag, der Ukrainian Economic Academy in Podӗbrady, dem Ukrainian Higher Pedagogical Institute, der Ukrainian School of Plastic Arts in Prague, einer Vielzahl von wissenschaftlichen oder professionellen Organisationen wie der Ukrainian Law Society oder speziell auf die Ukraine fokussierter Museen, Bibliotheken oder Archiven wie der Slavonic Library thematisiert die Autorin eine beeindruckende Bandbreite wissenschaftlicher Einrichtungen und damit verknüpfter Netzwerke, die sich in den 1920er Jahren in der Tschechoslowakei gründeten.

Im ersten Kapitel skizziert Zavorotna die politischen Konstellationen, die die staatliche Förderung von ukrainischen Wissenschaftlern, Universitäten und Forschungseinrichtungen begünstigten. Sie ordnet die Maßnahmen in den Kontext der politischen Reorganisation des östlichen Europa nach dem Zerfall der kontinentalen Imperien ein, erläutert die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik in den 1920er Jahren, den Umfang bzw. die Konjunkturen der finanziellen Unterstützung durch die junge Tschechoslowakei und gibt einen knappen Einblick in das sozialgeschichtliche Profil der verschiedenen Gruppen, die als Geflohene in die Tschechoslowakei kamen. In diesem Kapitel werden die zwei Schwächen des Buches bereits deutlich: Die eine sind teilweise ungenaue Angaben, die nicht immer präzisiert oder aufgeklärt werden. In der Einleitung heißt es zum Beispiel, dass ein Drittel der Geflohenen den intellektuellen, wissenschaftlichen oder technischen Eliten angehörte, während im ersten Kapitel eine Tabelle präsentiert wird, mit der Angabe, dass von guten 5.200 Geflohenen (ohne Nennung eines Zeitraums) nur 3,4 Prozent einen Universitätsabschluss besaßen und 5,6 Prozent den Professionen zuzurechnen waren (S. 27). Weitreichender ist jedoch die latente Weigerung der Autorin, die tschechoslowakische Flüchtlingspolitik adäquat zu kontextualisieren, indem sie beispielsweise auf die politischen Kehrseiten jenseits von gutem Willen und Humanitarismus einginge. So wiederholt sie an diversen Stellen, dass die tschechoslowakische Regierung unter Staatspräsident Tomáš Masaryk aus Humanismus und Dankbarkeit gegenüber entlassenen ukrainischen Soldaten sowie aus dem Wunsch heraus gehandelt habe, mit diesen Exilorganisationen eine „Slavic unity“ herzustellen bzw. „the idea of Slavic brotherhood“ zu stärken (S. 14 u. 15). Es bleibt allerdings bei dieser Feststellung. Die Autorin führt an keiner Stelle die problematischen, weil nationalistischen Implikationen dieser panslawischen Gedankenwelt aus, die in den 1920er Jahren fest damit verbunden war, dass die Gebietsgewinne der einen Gebietsverluste der anderen bedeuteten. Dieses Ausblenden wird beispielsweise dann problematisch, wenn sie darauf hinweist, dass ein nennenswerter Teil der Studienabgänger der Ukrainian Economic Academy in den späten 1920er Jahren in die Karpatenukraine ging (heute Oblast Transkarpatien). Diese überwiegend ländlich geprägte Region war mit dem Vertrag von Trianon aus verwaltungstechnischen Gründen der Tschechoslowakei angegliedert worden. Sie blieb jedoch deutlich pro-ukrainisch ausgerichtet, was sich in permanenten politischen Autonomisierungsversuchen äußerte, die zur Folge hatten, dass die Region 1938 den Status als autonome Region innerhalb der Tschechoslowakei erhielt. Diese nationalistische Komponente des ukrainischen Exils, die explizit das Ziel verfolgte, die Vermittlung der ukrainischen Kultur, Geschichte und Sprache zu institutionalisieren und eine künftige ukrainischsprachige Elite auszubilden, bleibt unerwähnt. Dasselbe gilt für das Anliegen der tschechoslowakischen Regierung, mit den wissenschaftlichen Institutionen im Exil die politische Deutungshoheit über die politische und gesellschaftliche Entwicklung der Region angesichts des sowjetrussischen Herrschaftsanspruches zumindest einzufordern. Für die Leser*in ist diese Kontextlosigkeit bisweilen frustrierend.

Die folgenden Kapitel setzen sich mit den einzelnen Institutionen auseinander. Das ist informativ, erfährt man doch einiges über die Fakultäten, Studiengänge, wissenschaftlichen Aktivitäten, über das soziale Profil der Studierenden, über die Reichweite der jeweiligen Institution in Forschung und Lehre sowie über prominente Vertreter einzelner Disziplinen. Dabei kommen interessante Details zu Tage wie im Fall der Ukrainian Economic Academy. Angesichts ihrer Schließung, weil die tschechoslowakische Regierung die Finanzmittel wegen der politischen Anerkennung der Sowjetunion stoppte, gründete sich das Institut 1932 als Ukrainian Technical-Economic Institute als Fernuniversität neu. Innerhalb der ersten zwei Jahre verschickte es weltweit knapp 6.800 Pakete mit Vorlesungen und Lehrbüchern zum Selbststudium (S. 70). In den Kapiteln zeichnet Zavorotna ein präzises und detailliertes Bild der wissenschaftlichen Aktivitäten ukrainischer Wissenschaftler vorwiegend in Prag und entsprechend sind sie vor allem den Leser*innen zu empfehlen, die sich gezielt über Personen, Disziplinen oder Institutionen informieren möchten oder die mehr über das Funktionieren von wissenschaftlichen Hilfsprogrammen erfahren wollen. Den Zusammenhang zwischen den Kapiteln stellt Zavorotna mit der Annahme her, dass diese zahlenmäßig eher kleine Gruppe nachhaltig über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg gewirkt habe, weil sie einen Wissenskanon zusammenstellte und bewahrte, der maßgeblich zur Formierung der Ukrainian Studies beitrug. So plausibel dieses Argument erscheint: Es wäre schön gewesen, wenn sie es mit Analysen untermauert hätte, die über die Wirkung und langfristige Bedeutung dieser eindrucksvollen Forschungs- und Lehrlandschaft hinaus Auskunft geben würden.

Für die mit der westeuropäischen und angloamerikanischen Literatur zum Thema Exil und Wissenschaftsemigration vertrauten Leser*innen hält das Buch einige Überraschungen bereit, unter anderem die staatlich initiierten Hilfsprogramme, die die neue tschechoslowakische Regierung Anfang der 1920er Jahre auflegte. Diese beschränkten sich nicht auf humanitäre Nothilfe und medizinische Versorgung, sondern beinhalteten eine großangelegte Bildungsoffensive, die sich in der staatlichen Unterstützung von Hochschulen und Wissenschaft äußerte. Interessant ist daran die Dimension der staatlichen Planung, die enge Verschränkung von humanitärer und wissenschaftlicher Hilfe und ihre konstitutive Rolle im Prozess des tschechoslowakischen nation-building. Insbesondere die Studien zu den 1930er und 1940er Jahren neigen dazu, Maßnahmen für geflohene Intellektuelle und Forschende primär im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu sehen, sie als singulär darzustellen und Vorläufer jeder Art zu auszublenden. Zavorotna korrigiert dies auf eine wohltuende Weise und weist durch die zeitliche Erweiterung auf die frühe Zwischenkriegszeit sowie durch den Blick auf das östliche Europa auf die doch nicht ganz kleinen blinden Flecken dieser Forschungsrichtung hin. Bei aller Kritik an der bisweilen oberflächlichen politik- und gesellschaftsgeschichtlichen Einordnung seines Gegenstands besteht hierin die zentrale Leistung des Buches, dem zu wünschen ist, dass es in der Exilforschung rezipiert wird.

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21.04.2022
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