Der Kolonialismus habe nicht zu einer globalen Homogenisierung der Weltzeit geführt, sondern sei im Senegal nur sehr fragmentarisch implementiert worden. Sebastian-Manès Sprute schildert mit einem sehr bewanderten und durchweg kritischen Stil die Geschichte der Zeitpolitik im kolonialen Senegal. Sprute widmet sich dem bisher wenig betrachteten Themenfeld der Zeit auf sehr profunde und innovative Weise. Er verbindet das Thema mit zentralen Debatten der Kolonialgeschichte und liefert einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des französischen Kolonialismus. Die Abhandlung ist sehr umfassend und anschlussfähig an zahlreiche Forschungsfelder wie die koloniale Arbeitspolitik, Religionsgeschichte und Urbanität.
Im ersten Kapitel führt der Autor in die koloniale Geschichte und Philosophie der Zeit ein. Inspiriert durch Weber, Elias und Foucault erläutert Sprute die zentrale Problematik des Buches - die Kolonialisierung der Zeit. Häufig werde vergessen, dass im Jahr der Kongo-Konferenz ebenfalls die Greenwich Mean Time (GMT) zum Weltzeitnormal erkoren wurde.
Im zweiten Kapitel diskutiert Sprute die implizierten Zeitnormen der französischen Kolonialideologien der Assimilation und Association. Während des 19. Jahrhunderts habe sich in den meisten europäischen Gesellschaften „rationales und progressives Verständnis von Zeit“ (S. 49) gebildet. Dieser Prozess der Standardisierung sei ein wichtiger Bestandteil der mission civilisatrice gewesen. Das von der europäischen Aufklärungsphilosophie geprägte Fortschrittsdenken und der koloniale Paternalismus seien konstitutiv für europäische Zeitvorstellungen gewesen. Rassistische Vorstellungen von Infantilität, Faulheit oder eines „schwarze[n] Müßiggang[s]“ (S. 77) werden als Beispiele für die Rhetorik der Zivilisierungsmission herangezogen. Der französische Kolonialdiskurs habe sich von einer „radikale[n] zeitliche[n] Andersartigkeit der Afrikaner“ (S. 90) abgegrenzt.
Im dritten Kapitel untersucht Sprute die infrastrukturelle Dimension der Standardisierung von Zeit im Senegal. Ab 1905 habe die direkte Telegraphie-Verbindung zwischen Dakar und Brest eine schnellere Kommunikation von standardisierten Zeitsignalen erlaubt. Von Dakar aus wurden Zeitsignale in andere Städte der Föderation Französisch-Westafrika gesendet. Senegal sei damit in technischer Hinsicht keine Peripherie im empire francais gewesen, sondern ein Subzentrum mit Einfluss auf andere koloniale Zeitzonen.
In Kapitel vier wird die koloniale Entwicklungspolitik und die mise en valeur anhand spezifischer „technisch-maschineller Ensembles“ (S. 145) besprochen. Das Ineinandergreifen der Telegraphie und der Eisenbahntechnik habe die Zeitinfrastruktur im Kolonialstaat zunehmend exakter gemacht. Ein anderer maßgeblicher Faktor für Zeitvereinheitlichung sei die Organisation der Arbeit gewesen. Die agrarpolitische Orientierung auf eine Erdnuss-Export Wirtschaft habe dazu geführt, dass der saisonale Kalender, maßgeblich die Arbeitsmigration und Lebenswelt der Arbeiter/innen beeinflusste. Darüber hinaus führe der code civil zu einer Verfestigung zivilrechtlicher und nichtreligiöser Zeitnormen. Die zeitspezifischen Ordnungspolitiken hätten zu einem „bifurcated state“ mit „direkten und indirekten Arbeitszwängen“ (S. 176) geführt.
Im fünften Kapitel geht Sprute der Exaktheit der Uhrzeiten nach. Trotz der zunehmenden Verbreitung von Uhren an öffentlichen Institutionen wie zum Beispiel Rathäusern, Kirchen oder Moscheen sei es zu einer sehr fragmentarischen Einführung des Weltzeitstandards im Senegal gekommen. Die zeitspezifischen Infrastrukturen seien durchaus vorhanden gewesen, allerdings strebte die Kolonialadministration gar nicht nach einer vollständigen Implementierung der Weltzeit. Die französische Kolonialregierung förderte die „Entstehung eines hierarchisierten und heterogen strukturierten temporalen Systems“ (S. 202).
In Kapitel sechs argumentiert Sprute, dass der Arbeitszwang in der auf Exportproduktion und staatliche Steuereinnahmen ausgelegten Kolonialökonomie, einen Zeitzwang erzeuge. Es gebe eine saisonale Arbeitsmigration, welche den landwirtschaftlichen Arbeitsrhythmus bestimme. Die Einführung eines 8-Stunden-Tages sei zwar geplant, aber erst 1944 praktisch umgesetzt worden. Das Zwangsarbeitssystem sei von der Administration bewusst nicht reformiert worden. Nach und nach habe sich die koloniale Handelswirtschaft jedoch zum „Rückgrat der Durchsetzung der Weltzeitordnung in der Kolonie“ (S. 359) entwickelt.
Im siebten Kapitel hinterfragt Sprute die alltäglichen zeitspezifischen Handlungen der urbanen Gesellschaft im Senegal. Der Autor analysiert Zeitnormen bei Festen und im Alltag der kolonialen Gesellschaft. Sprute geht ebenfalls auf die ambivalente Rolle des Islams in der kolonialen Zeitpolitik ein. Der Islam sei von der Kolonialadministration nicht als konkurrierendes, sondern komplementäres Zeitregime gesehen worden. Der Islam habe zwar als Trennlinie zu christlichen Zeitvorstellungen gedient, allerdings sei der Islam Noir für die Kolonialadministration auch eine Disziplinierungsquelle gewesen.
Sprutes Buch zeichnet sich durch eine sehr disziplinierte Quellenarbeit aus. Diese stammen primär aus dem senegalesischen Nationalarchiv, aber auch diverse Primärquellen wie Kolonialratgeber, Kalender, sowie Fotos und Postkarten von Gebäuden schaffen ein anschauliches Bild der kolonialen Zeitordnungen. Die Quellenarbeit ist fundiert und gewissenhaft, stellt jedoch ausschließlich die kolonialen Zeit- und Raumvorstellungen der Kolonisierenden in Westafrika dar. Aufgrund der Quellenauswahl widmet sich der Autor umfangreich den urbanen Räumen Senegals und erwähnt die soziale Zeit in ländlichen Kontexten nur selten.
Sprute geht mit dieser „obrigkeitlichen“ (S. 39) Perspektive sehr explizit und machtkritisch um. Nichtsdestotrotz, wären nichtstaatliche oder nichtoffizielle Quellen sehr interessant, insbesondere, wenn es um Zeit im Alltag geht. Die zentrale Stellung des Kolonialstaates in der Analyse wird von Sprute an vielen Stellen selbst widerlegt. Die „heure légale“ (S. 190) Zeit sei während des Untersuchungszeitraums nur sehr marginal implementiert worden. Diese eingeschränkte zeitpolitische Reichweite des Staates wirft die Frage auf, ob der Staat überhaupt der zentrale Ort der sozialen Disziplinierung von Zeit war. Es ist fraglich, ob sich ein so soziales Phänomen wie die Zeit wirklich vollständig durch die Vogelperspektive der staatlichen Archive erforschen lässt.
Das Buch eignet sich für ein fachliches Lesepublikum, da der häufige Gebrach von Konzepten und der Argumentationsstil die Lektüre anspruchsvoll machen. Passagenweise informiert die Studie ausgedehnt über die Kolonialgeschichte Senegals, manchmal auch mit nebensächlichen Details, die nur gering im Bezug zur sozialen Zeit stehen, wie zum Beispiel die ausschweifenden Ausführungen der militärischen Eroberung (S.113f.) oder die geographische Aufteilung der vier Kommunen (S. 166f.). Der Autor verwendet an vielen Stellen „zeitspezifisch“, ohne jedoch zu erklären, welcher Aspekt der Zeitproblematik (zum Beispiel das Geschichtsverständnis, Uhren, Exaktheit, saisonale Rhythmen, etc.) im Vordergrund steht.
Dennoch ist der innovative Charakter der Problemstellung und die profunde Theoriearbeit hervorzuheben. Sprutes Studie eröffnet eine Reihe hochinteressanter Fragestellungen, die bisher in der Forschung zum französischen Kolonialismus, als auch in der Geschichte Senegals nur wenig Beachtung bekommen haben. Was bedeutete die „Desakralisierung von Raum und Zeit“ (S.262) im 19. Jahrhundert für die städtische Bevölkerung im Kolonialstaat? Wie wurde die 1885 etablierte Weltzeitordnung im Senegal implementiert? Sprute betont sehr überzeugend die Rolle von Maschinen-Ensembles, bei der Standardisierung von Zeit. Ebenso plausibel erklärt er die fragmentarische Implementierung der Weltzeit und die territoriale Differenzierung in koloniale Zeitzonen.
Sprutes Appel zur weiteren Beschäftigung mit dem Themenkomplex Zeit und Kolonialismus ist absolut beizupflichten. Sozio-historische oder anthropologische Arbeiten über Zeitvorstellungen von Arbeiter/innen oder Dorfbewohner/innen aber auch die Erforschung des Widerstands gegen koloniale Zeitnormen wären eine wichtige Erweiterung des Forschungsfelds.