K. Hofmeester: Jewish Workers and the Labour Movement

Title
Jewish Workers and the Labour Movement. A Comparative Study of Amsterdam, London and Paris, 1870-1914


Author(s)
Hofmeester, Karin
Series
Studies in Labour History
Published
Ashgate 2004: Ashgate
Extent
320 S.
Price
89,34 Euro
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Tobias Brinkmann, Department of History/Parkes Institute, University of Southampton

Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl jüdischer Migranten aus dem Ansiedlungsrayon im Russischen Reich, aus dem zu Österreich-Ungarn gehörenden Galizien und aus Rumänien stark an. Zwischen den späten 1870er Jahren und 1914 migrierten fast drei Millionen Juden nach Westen, vor allem in die USA und in geringerem Masse nach Frankreich und nach Großbritannien. Dazu kam eine erhebliche Ost-West Binnenwanderung in Städte wie Łodz, Warschau, Odessa und Kiev im Russischen Reich und insbesondere nach Wien in Österreich-Ungarn. Viele dieser jüdischen Migranten, Männer wie Frauen, fanden Arbeit in der Industrie, ganz überwiegend in der Textilbranche, sowie in verwandten Bereichen wie der Schuhindustrie. Jüdische Arbeiter organisierten sich in Gewerkschaften, von denen viele deutlich sozialistisch ausgerichtet waren. Die interessante Frage des Verhältnisses der organisierten jüdischen Arbeiter zu anderen Arbeitern, zu Gewerkschaften und zu sozialistischen Parteien sowie zur jüdischen Arbeiterschaft in anderen Ländern ist bisher noch nicht hinreichend ausgelotet worden. Insbesondere Nancy Green hat eine Reihe von vergleichenden Arbeiten über jüdische Textilarbeiterinnen in Paris und New York publiziert. 1 Eine vergleichende Studie über Arbeiterbewegungen aus der Perspektive jüdischer und anderer Migranten könnte einiges zum besseren Verständnis der Programmatik und über das Verhältnis zur ethnischer Differenz in den unterschiedlichen Ländern beitragen, nicht zuletzt im Hinblick auf die Transnationalismus Forschung. Denn hier trafen in einer teilweise durch extremen Nationalismus geprägten Epoche zwei transnationale Gegenwelten aufeinander, der Sozialismus und die jüdische Diaspora.

Jüdische und andere Einwanderer fanden anfangs wenig Unterstützung von einheimischen Arbeitern. Abgesehen von Vorurteilen sowie kulturellen und sprachlichen Barrieren galten sie als Lohndrücker und potentielle Konkurrenten, zumal Einwanderer gelegentlich als Streikbrecher eingesetzt wurden. Das Thema Einwanderung war (und ist) für Vertreter von einheimischen Arbeitern brisant. In den USA etwa sprachen sich führende Gewerkschaftler (von denen einige selbst Einwanderer waren) Ende des 19. Jahrhunderts für Einwanderungsbeschränkungen aus, während sich die Gegner von restriktiven Gesetzen darunter unorganisierte Arbeiter aus den Reihen jüdischer und anderer Einwanderer in einem Boot mit Unternehmern fanden. 2

Die Amsterdamer Historikerin Karin Hofmeester hat nun eine vergleichende Studie über jüdische Arbeiter und ihr Verhältnis zur organisierten Arbeiterbewegung in Amsterdam, London und Paris vorgelegt. Auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheint, daß Amsterdam in den Vergleich miteinbezogen wurde. Amsterdam verzeichnete nach 1880 keine nennenswerte Einwanderung osteuropäischer Juden, ähnlich wie die deutschen Industriezentren, etwa an der Ruhr, oder Berlin vor 1914. Hofmeester geht auf die Gründe nicht näher ein. Im Deutschen Reich verhinderte eine restriktive Einwanderungspolitik vor 1914 weitgehend die Ansiedlung von jüdischen Zuwanderern aus Osteuropa; insbesondere Preußen ließ osteuropäische Juden wiederholt in großer Zahl ausweisen; die Zahl der Einbürgerungen war äußerst gering. Die deutschen Juden hatten sich überwiegend verbürgerlicht, so daß vor dem Ersten Weltkrieg nur sehr wenige Juden Arbeiter wurden. 3 Die geringe Zuwanderung osteuropäischer Juden in die Niederlande hatte dagegen einen anderen Grund. Amsterdam gehörte, anders als etwa London, Paris, die Ruhr und Antwerpen (die Liste ließe sich fortsetzen), nicht zu den signifikanten Zentren der industriellen Entwicklung in Westeuropa.

Die niederländische Hauptstadt repräsentiert einen Sonderfall, weil ein nennenswerter Teil der einheimischen Juden Arbeiter waren, vor allem Diamantenschleifer – und sie organisierten sich. Die jüdischen Arbeiter waren keine Einwanderer und sprachen Holländisch, aber als Juden hatten sie eine Präferenz für „orange“ anstatt für „rot“: wie die meisten niederländischen Juden legten auch die jüdischen Arbeiter noch Ende des 19. Jahrhunderts großen Wert auf eine symbolische Bindung an das Königshaus. Das war neben antisemitischen Vorurteilen ein Grund, warum die Integration der jüdischen Arbeiter in der frühen Phase der Arbeiterbewegung in den späten 1880er Jahren schleppend verlief. In den 1890er Jahren änderte sich das. Nach der Jahrhundertwende setzte sich die „Allgemeine Niederländische Diamanten-Gewerkschaft“ ausdrücklich dafür ein, daß ihre Mitglieder an jüdischen und anderen religiösen Feiertagen nicht zur Arbeit verpflichtet wurden.

Der Aufbau der Arbeit illustriert, daß im Gegensatz zu Nancy Greens Studien der Vergleich bei Hofmeester eher kurz kommt: in drei Kapiteln wird die Entwicklung der jüdischen Arbeitervereinigungen und deren Verhältnis zu Gewerkschaften und sozialistischen Parteien für die drei Städte ausführlich aber getrennt analysiert. Der Autorin konzentriert sich dabei vor allem auf die Organisationsgeschichte. Erst im letzten mit etwas über zwanzig Seiten sehr knappen Kapitel werden die drei Fallstudien zusammengeführt.

Eine wichtiges (wenn auch nicht gänzlich neues) Ergebnis der Studie ist, daß jüdische Arbeiter und Arbeiterinnen auf Ablehnung bei nichtjüdischen Arbeitern stießen, nicht nur weil sie Einwanderer (in Paris und London) und Juden waren, sondern weil sie in neuen Branchen wie der Textilindustrie tätig waren. Trotzdem wurden jüdische Arbeiter spätestens nach der Jahrhundertwende weitgehend in die jeweiligen Arbeiterbewegungen integriert. Die Enstehung und Entwicklung jüdischer Arbeiterorganisationen, antijüdische Anfeindungen durch andere Arbeiter, sowie die Aufnahme der jüdischen Arbeiter schildert Hofmeester mit großer Detailschärfe. Sie stützt sich hier unter anderem auf jiddische Zeitungen.

Leider kann „Jewish Workers and the Labour Movement“ die Potentiale des Themas über das Feld der Arbeitergeschichte hinaus nicht überzeugend ausschöpfen. Aus Sicht der Migrationsgeschichte und der neueren jüdischen Geschichte wirft die Arbeit mehr Fragen auf als sie beantwortet. Es stellt sich insbesondere die Frage, ob sich am Beispiel der jüdischen Migration aus Osteuropa eine Korrelation zwischen wirtschaftlicher Dynamik und gesellschaftlicher Öffnung nachweisen läßt.

Die detaillierte Analyse geht auf Kosten des Kontexts. Für alle drei Städte wird die jüdische (Vor-)Geschichte äußerst knapp und zu oberflächlich vorgestellt. Die Studie hätte gerade von einer ausführlicheren Schilderung der Amsterdamer Situation erheblich profitiert. Amsterdam repräsentiert in vielerlei Hinsicht einen „Sonderweg“ der neueren jüdischen Geschichte: überdurchschnittlich viele Juden waren arm, und der Anteil der orthodoxen Juden war Ende des 19. Jahrhunderts vergleichsweise hoch. Welche Rolle spielte hier das spezifisch niederländische Modell des „verzuiling“? Hofmeester beschäftigt sich kaum mit den Arbeitgebern in der Amsterdamer Diamantenbranche, von denen nicht wenige jüdisch waren – schlossen sie an jüdischen und christlichen Feiertagen ihre Fabriken? 4 Die Beschreibung von London und Paris kann auch deshalb nicht überzeugen, weil die Dynamik der Migration völlig ausgeblendet wird. Nicht nur trafen ständig neue jüdische Einwanderer ein, viele migrierten vor allem nach Amerika weiter. Die internationale Vernetzung der jüdischen und nichtjüdischen Arbeiter (etwa über die jiddische Presse) wird ebensowenig thematisiert wie die Rolle von anderen Einwanderergruppen in London (Iren) und Paris (Polen, Italiener, Chinesen). Das Literaturverzeichnis ist vor der Drucklegung nicht mehr aktualisiert worden und reicht bis 1999/2000.

1 Green, Nancy L., Ready-to-Wear and Ready-to-Work: A Century of Industry and Immigrants in Paris and New York (Durham 1997); siehe auch: Godley, Andrew, Jewish Immigrant Entrepreneurship in New York and London 1880-1914, Enterprise and Culture (Basingstoke 2001).

2 Tichenor, Daniel J., Dividing Lines. The Politics of Immigration Control in America (Princeton 2002).

3 Siehe dazu nun: Lässig, Simone, Jüdische Wege ins Bürgertum: Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert (Göttingen 2004).

4 Zum Hintergrund mit weiterführenden Literaturverweisen: Blom, J.H.C. et alii (Hgg.), The History of the Jews in the Netherlands (Oxford/Portland, OR 2002), v.a. 192–296.

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11.03.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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