Mit dem Titel „Entangled Histories and Negotiated Universals" stellt sich der von Wolf Lepenies herausgegebene Band wie von selbst in die Reihe historischer Forschungsliteratur, die mit Begriffen wie transnationale Geschichte, Vergleich, Transfer, historie croisée und Globalgeschichte der wachsenden Aufmerksamkeit für die globale Dimension historischer Prozesse Rechnung tragen will. Die Freude über diese erste, schnelle Einordnung bleibt dem Leser aber nur kurz, denn ein Blick in das Inhaltsverzeichnis, das Studien vom Imagewandel von Weltbank bis zum Entstehungsprozess wissenschaftlichen Wissens anbietet, wirft die Frage auf, wie die Begriffe entangled histories und negotiated universals die so unterschiedlichen Artikel des Bandes zusammenhalten können.
Ein Konzept sucht man vergebens. Vielmehr beschreibt Wolf Lepenies in seinem Vorwort die Entstehung des Buches aus der Arbeitsgruppe Agora am Wissenschaftszentrum Berlin. Als Milleniumsprojekt geplant, widmete sich die gezielt international besetzte Arbeitsgruppe unter dem Titel „Arbeit – Wissen – Bindung“ den strukturellen Problemen moderner Industriegesellschaften. Historisch vergleichend und anthropologisch angelegt, wurde die Auflösung stabiler Raum-Zeit Verhältnisse durch Globalisierung, Postsozialismus und Postkolonialismus als Ausgang gewählt, um die daraus resultierenden Erschütterungen sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Selbstverständlichkeiten zu analysieren. Mit der Einsicht „that all history is basically a history of relations“(S. 11) formuliert Lepenies die zwei den Band durchziehenden Grundannahmen, denen die einzelnen Beiträge in den vier Themenblöcken knowledge, consequences of globalization, work: historical comparative study und universal terms nachgehen: die Verwobenheit verschiedener lokaler Geschichten über weite Distanzen miteinander und der Prozess des Aushandelns, Einsetzens und Ablösens von Narrativen und Werten, die mit universalem Geltungsanspruch auftreten.
Für den Themenbereich „Wissen“ problematisiert Helga Nowotny in ihrem Beitrag den situativen Moment bei der Entstehung wissenschaftlichen Wissens. Auch wenn jedem Forscher ein universal formuliertes Set an Methoden, Konzepten und Theorien zur Verfügung steht, gibt es eine unbegrenzte Vielfalt an denkbaren Kombinationen dieses Instrumentariums, die abhängen von den jeweiligen örtlichen und institutionellen Bedingungen und zu je unterschiedlichen Ergebnissen führen. Unterstreicht sie so die Bedeutung lokaler Einflüsse auf das Design und die Ergebnisse der Forschung, fordert sie in der Konsequenz eine kritische Selbstreflexion dieser raum-zeitlichen Bedingtheit wissenschaftlichen Wissens als integralen Bestandteil seines eigenen Entstehungsprozesses. Diese Perspektive ergänzt Caroline Baillie mit einem kritischen Blick auf die universitäre Lehre. Sie bemängelt, dass in den meisten wissenschaftlichen Communitys keine Konsensbildung darüber statt findet, welches Wissen in der Lehre vermittelt werden soll und in welchem Zusammenhang es mit den eigenen Forschungen steht. So fordert auch sie, dass Wissenschaft sich selbst kontextualisieren und Studenten viel stärker in die Institution Wissenschaft und in den lokal und personell gebundenen Aushandlungsprozess universalen Wissens integrieren soll.
Diesen theoretischen Impuls der kritischen Selbstreflexion bei der Produktion von Wissen und dessen narrativer Verbreitung nehmen die folgenden Beiträge über die Konsequenzen der Globalisierung auf, indem sie an konkreten Beispielen aus Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Technik die Aushandlungsprozesse von Normen, Werten und Praktiken auf lokaler Ebene als Reflex auf global wirkende Phänomene zeigen.
Stefan Voigt analysiert in seinem Beitrag die Abhängigkeit demokratischer Institutionen von der Existenz eines festen Beziehungsnetzes zwischen den führenden Akteuren, dessen Existenz die klassischen ökonomischen Erklärungsmodelle wie die rational choice Theorie auf den Prüfstand stellt, die den Akteuren ein idealtypisches Verhalten unterstellen. Diesen Gedanken der steuernden Handlungsmacht von Akteuren aufnehmend, vergleicht Kurt Jakobeit die Konjunkturen im öffentlichen Ansehen transnationaler Unternehmen und der Bretton Woods Institutionen seit den 1970er Jahren, indem er das wachsende Negativimage der Letzteren in der weltöffentlichen Meinung im engen Zusammenhang mit der intensiven Öffentlichkeitsarbeit transnationaler Unternehmen analysiert.
Den „imposed and negotiated universals“ gehen Ivan Krastev und Elizabeth Dunn in ihren Beiträgen über Korruption nach. Krastev untersucht, wie sich unter Führung globaler Akteure ein normativer Antikorruptions-Diskurs herausbildete, der seine neoliberale Prägung hinter moralischen Verurteilungen versteckt und derart die unterschiedlichsten politischen Akteure vereinen kann. Dagegen zeigt Dunn anhand einer ethnographischen Lokalstudie zu einer Lebensmittelfirma in Polen, wie Korruptionsvorwürfe zu einem „negotiating tool“ werden, wenn sie integriert werden in die Neubewertung individueller Arbeitslebensläufe in postsozialistischen Ländern.
Recht, Technik und Sprache sind Gegenstand von Shalini Randeria, Vinh-Kim Nguyen und Daniel Dor, die die Vermittlung, Kontextualisierung und Auseinandersetzung um diese stark formalisierten Universalien auf regionaler Ebene problematisieren. Führt Randeria anhand verschiedener Rechtsregime und deren Prägung durch bestimmte Akteursgruppen vor, wie Recht zu einem ‚Kampfplatz’ wird, „on which interpretations of culture are contested, regulation of labour and access to property is challenged and relations of power and authority are negotiated“, zeigt Nguyen, wie in Afrika westliches medizinisches Wissen an die lokale Infrastruktur angepasst werden muss und fordert eine kritische Medizin, die unbedingt die lokale Bedingtheit biologischer Phänomene anerkennt.
Befassten sich die vorangehenden Beiträge mit räumlich weit gefassten Problemen, wenden die Beiträge für den Bereich Arbeit den Blick auf Entstehung und Wandel gesellschaftlicher Selbstverständnisse. So analysiert Benedicte Zimmermann für Deutschland und Frankreich am Wechsel des 20. und des 21. Jahrhunderts die Bedeutung von Beschäftigung und Arbeitslosigkeit als Kategorien sozialer Organisation, um vor allem im Rahmen gegenwärtiger arbeitspolitischer Transformationsprozesse Arbeit als Ergebnis sozialer Verhandlungen zu begreifen. Sebastian Conrad zeigt für Japan und Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, wie als Reaktion auf eine intensive transnationale Fluktuation von Gütern und Arbeitern ein nationalisiertes Verständnis von Arbeit entsteht, das selbst Ergebnis einer „history of entanglement“ ist.
Elisio Macamo zeigt schließlich anhand der Kolonialgeschichte von Mozambique, dass die politische Beteiligung von weiten Teilen der Gesellschaft an Debatten über die eigene soziale Organisation nur auf der Basis von Arbeitsverhältnissen funktioniert, für die sich die politische Führung verantwortlich erklärt. So weist Macamo daraufhin, dass für Europa die diesbezüglichen Erfahrungen aus der Kolonialgeschichte einen wichtigen Fundus in der gegenwärtigen Auflösung fester Kategorien von Arbeit bilden können.
Zum Stichwort „universalism“ schließlich findet man einen Beitrag von Yi Zheng zur derzeitigen Konjunktur der Konfuzianismusdebatte in Asien, besonders in China, die interpretiert wird als ein lokal spezifischer Umgang mit Modernisierung, indem die aktuellen, der Globalisierung geschuldeten sozialen und ökonomischen Transformationsprozesse in China mit einem traditionellen Erbe produktiv verknüpft werden.
Der Band greift eine Fülle aktueller Fragestellungen und Probleme auf und spiegelt damit eine Bandbreite von Themen, die sehr präzise einen Einblick in politische, soziale, wirtschaftliche, technische und vor allem ideologische Herausforderungen geben, die für soziale Gruppen und für ganze Gesellschaften im Rahmen von Globalisierung, Postkolonialismus und Postsozialismus zu bewältigen sind. Dabei überzeugt das Konzept der Agora – wie S.C. Humphrey es im Schlussbeitrag noch einmal betont -, mit dem das ganze Projekt überschrieben ist: der Gedanke, dass die aufgeworfenen Probleme nicht den Charakter einer Naturgewalt haben und noch weniger Produkt hegemonialer Machtausübung sein sollten, sondern Gegenstand öffentlicher Diskussion sein sollen, sei es in der Anwendung globaler Rechtskonzepte in spezifischen lokalen Konstellationen oder bei der Debatte um die Bedeutung von Arbeit als gesellschaftlichem Wert. Neben den sehr lesenswerten Einzelbeiträgen leistet der Band in diesem Sinne einen wertvollen Dienst, indem er in vielen Facetten auf die Koexistenz konkurrierender historischer und zeitgenössischer Interpretationen von sozialen und kulturellen Verhältnissen hinweist und verdeutlicht, dass diese Konkurrenz erstens unauflösbar ist und zweitens nicht mehr über politisches Ungleichgewicht, sondern nur sinnvoll mittels einer kritischen Auseinandersetzung mit den Bedingungen vor Ort gehandhabt werden kann.