J. Requate u.a. (Hrsg.): Europäische Öffentlichkeit

Titel
Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert


Herausgeber
Requate, Jörg; Schulze Wessel, Martin
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Campus Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 37,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Danny Walther, Universität Leipzig

Es war Jürgen Habermas‘ 1962 erschienene Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, in welcher die Kategorie der Öffentlichkeit erstmals als epochales Strukturprinzip interpretiert wurde. Sein Werk löste in der Folge kontroverse Diskussionen aus und trug entscheidend dazu bei, dass die Öffentlichkeitsforschung seit vier Jahrzehnten auf der wissenschaftlichen Agenda einen wichtigen Platz einnimmt. Seitdem haben sich Soziologen, Historiker, Kommunikations-, Medien- und Politikwissenschaftler mit dem Thema beschäftigt, den Kollektivsingular „Öffentlichkeit“ in eine ganze Anzahl von Teilöffentlichkeiten aufgespalten und klassen-, geschlechts- und institutionsspezifische Öffentlichkeiten in zahlreichen Einzel- und Vergleichsstudien eingehend untersucht. Und so verwundert es nicht, dass im Zug der zunehmenden Europäisierung Europas und nicht zuletzt auch der öffentlichen Debatten während des Bosnienkonfliktes, die Frage nach einer „europäischen Öffentlichkeit“ auf die wissenschaftliche Tagesordnung gelangte. Konkret gestellt wurde sie im Jahre 1999 während einer wissenschaftlichen Tagung am Zentrum für Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig, deren Ergebnisse in diesem Band wiedergegeben sind.

Gleich zu Beginn ihrer Einleitung machen die Herausgeber Jörg Requate und Martin Schulze Wessel deutlich, dass es weder angestrebt noch möglich sei, eine neue Definition von „europäischer Öffentlichkeit“ zu geben. Vielmehr stellen sie „den konstruktiven und damit wandelbaren Charakter des Europabegriffs und die daraus folgende Offenheit des Begriffs der europäischen Öffentlichkeit“ in den Mittelpunkt (S. 12). In historischer Perspektive sollen in den einzelnen Beiträgen diejenigen Personen und Instanzen beleuchtet werden, die sich von „Europa“ eine solidarische Resonanz bezüglich ihrer Anliegen erhofften. Eng damit verbunden ist die Frage nach Umständen, in denen deren Appelle entstanden und mittels welcher medialer und anderer Strategien sie publik gemacht wurden. Analysiert man die Faktoren einer kommunikativen Schaffung Europas, dann, so die Herausgeber, wird schnell klar, dass die verschiedenen Appelle an Europa, welchen die Vorstellung einer ganzheitlichen europäischen Öffentlichkeit mehr oder weniger inhärent ist, immer nur Teilöffentlichkeiten erreichen.

In ihrer ersten Hypothese nehmen sie an, dass die Fiktion einer europäischen Öffentlichkeit dennoch transnationale Kommunikation in Gang bringen kann. Es waren, so die zweite Annahme, vor allem in den Nationalstaaten marginalisierte Gruppen und Organisationen, welche an das Forum „Europa“ appellierten und sich davon eine Aufwertung der von ihnen vertretenen Angelegenheiten versprachen. Die Marginalisierungshypothese wird schließlich auch auf geographische Räume angewandt, so dass es vor allem von der europäischen Peripherie aus erfolgversprechend erscheinen musste, die Anliegen in europäische Zentren zu tragen. „Die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit wird [...] als situationsabhängiges Wechselspiel zwischen Peripherie und Zentrum“ verstanden (S. 15).

Eine ganze Reihe von Beiträgen beschäftigt sich dann auch vornehmlich mit diesen Interdependenzprozessen, wobei die Vielfalt der „europäischen Peripherien“ sich in der Bandbreite der Aufsätze widerspiegelt. Zugleich wird an der großen thematischen Streuung deutlich, dass die im Titel suggerierte Analyse einer europäischen Öffentlichkeit zu kurz gegriffen ist. Manche der vorgestellten Versuche die Öffentlichkeit zu erreichen, hatten trotz ihrer europäischen Bezugspunkte einen stark internationalistischen Charakter. Hier sind vor allem die im Bosnienkonflikt von verschiedenen nationalrevolutionären Bewegungen angerufene „Ressource Weltöffentlichkeit“ (vgl. den Beitrag von Stefan Troebst) und das Wirken des späteren tschechoslowakischen Ministerpräsidenten Tomáš Masaryk in den westeuropäischen Metropolen während der Zeit des Ersten Weltkrieges, zu nennen (vgl. den Beitrag von Frank Hadler). Dieser vertrat explizit die Ansicht, man müsse „die Welt überzeugen, dass das, was wir wollen, zu ihrem Vorteil ist. Die Tschechische Frage ist eine Frage der ganzen Welt, nicht nur (eine) für uns.“ (S. 121)

Dass die in der Einleitung kurz angerissene transnationale Kommunikation der Gelehrten im Zeitalter der Aufklärung nicht in einem Beitrag näher ausgeführt wird, ist bedauerlich. Hier hätten die Fragestellungen dieses Bandes gerade vor der Folie der von den Herausgebern aufgegriffenen und modifizierten These Larry Wolffs, wonach die Identitätsfindung der westeuropäischen Aufklärer durch Differenzsetzung gegenüber einem von ihnen „erfundenen“ und definierten Osteuropa geschah, neue Eindrücke vermitteln können.1

Im Zeitalter der Aufklärung beginnt auch François Guesnets Untersuchung der politischen Praxis europäischer jüdischer Gemeinschaften im Kontext der öffentlichen Meinung. In einem Zeitfenster zwischen 1744 und 1881 beschreibt der Autor, mit Hilfe welcher Strukturen und Medien die Juden ihre Interessen nach außen hin vertraten. Guesnet kommt zu dem Schluss, dass es in den knapp anderthalb Jahrhunderten einen „Strukturwandel im Gebrauch von Öffentlichkeit“ gegeben habe. Noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein spielte das bewährte Mittel der Fürsprache bei den Juden die entscheidende Rolle. Sie wurde vor Königen und an Fürstenhöfen vorgebracht, um die gewünschten Ziele zu erreichen. Hier von einer angerufenen „europäischen Öffentlichkeit“ zu reden, so der Autor, wäre jedoch übertrieben. Eine Vorstufe zur „europäischen Öffentlichkeit“ bildet für ihn die bürgerliche Öffentlichkeit, welcher die Juden reserviert gegenüber standen, da im städtischen Bürgertum antijüdische Tendenzen schon seit der Frühen Neuzeit auftraten und Ende des 18. Jahrhunderts nicht selten auch explizit formuliert wurden.

Der Strukturwandel hin zu einer „europäischen Öffentlichkeit“ beginnt für Guesnet mit der sogenannten Damaskus-Affäre. Einflussreiche Juden waren im Jahre 1840 des Ritualmordes an einem Mönch beschuldigt worden. Nach ersten Versuchen der Juden, für die Verteidigung der Inhaftierten mobil zu machen, griffen die großen Presseorgane in England, Frankreich und den deutschen Gebieten den Fall auf. Die Zeitungen entwickelten sich im Verlaufe der Angelegenheit zu den entscheidenden Trägern der Auseinandersetzung und verliehen ihr eine europäische Dimension.

Die Annahme, es habe eine bürgerliche Öffentlichkeit als Vorstufe einer „europäischen Öffentlichkeit“ gegeben, scheint mir jedoch so nicht haltbar. Vielmehr müsste zwischen einer ganzen Anzahl recht heterogener Teilöffentlichkeiten differenziert werden, die primär erst durch mediale Vermittlung jenes Konstrukt namens „bürgerliche Öffentlichkeit“ bildeten. Das Verhältnis der Juden zu einer „bürgerlichen Öffentlichkeit“ bedarf also je nach Struktur und personaler Zusammensetzung der einzelnen bürgerlichen Teilöffentlichkeiten einer differenzierteren Untersuchung. Zudem darf auch die jüdische Öffentlichkeit nicht als Einheit verstanden werden. Zum anderen lässt sich auf der semantischen Ebene festhalten, dass die von Guesnet bereits für die Zeit der Aufklärung verwendeten Begriffe der „öffentlichen Meinung“ (.S. 43) und jener der „Öffentlichkeit“ erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts ihre Wirkmächtigkeit entfalteten. Das Fehlen eines bestimmten Begriffes ist immer auch ein Verweis auf das Fehlen einer mit spezifischen semantischen Aufladungen versehenen Bewusstseinskategorie, welche durch Handlungen gesellschaftlich wirksam wird. Nicht zufällig setzen sowohl Guesnet als auch Hans-Christian Maner in seinem Beitrag über die rumänischen 1848er Revolutionäre die erstmalige explizite Appellation an eine „europäische Öffentlichkeit“ in die Zeit um 1840. Leider werden bei ihren Erklärungsversuchen immer nur mögliche Gründe für eine Hinwendung nach Europa angegeben, während die Kategorie der Öffentlichkeit scheinbar als semantisches Apriori fungiert.

Neben dem Verhältnis religiöser Gemeinschaften zur „europäischen Öffentlichkeit“ werden in verschiedenen Beiträgen die Nationalbewegungen Europas vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg und die Versuche ihrer Einflussnahme zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Gelungen ist dabei die Symbiose aus Einzel- und Überblicksanalysen.

Xosé-Manuel Núnez‘ Analyse eines Europa der Nationen und Sabine Bamberger-Stemmanns Untersuchung „Zur Publizistik nationaler Minderheiten in der Zwischenkriegszeit“ bilden den Abschluss des mit „Appell nationaler und religiöser Gruppen an eine europäische Öffentlichkeit" überschriebenen ersten Teil des Bandes. Beide Aufsätze zielen darauf, den Rahmen der vorangegangenen Einzeluntersuchungen zu erweitern. Inhaltliche Anordnung und thematische Ausrichtung der Beiträge führen den Leser somit nicht nur durch die Geschichte der „europäischen Öffentlichkeit“, sondern auch vom Besonderen zum Allgemeinen. Gleichzeitig wird der Analysebereich der Appelle zeitlich bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges und thematisch, vor allem in Núnez‘ Beitrag, um die Ebene der Rezipienten erweitert. Sein Aufsatz bestätigt im Großen, was die Einzeluntersuchungen im Kleinen gezeigt hatten, nämlich die Bedeutung von Trägergruppen wie Journalisten, Wissenschaftlern, Intellektuellen oder Regierungskreisen als Bedingung der Möglichkeit des Gehörtwerdens in einer „europäischen Öffentlichkeit“. Zahlreiche Beiträge des Bandes weisen nach, dass es oft persönliche Kontakte waren, die transnationale Netzwerke schufen und dadurch erst Einflussnahme ermöglichten. Dabei wurde die „europäische Öffentlichkeit“, so Núnez, von den „Ethnonationalisten“ immer wieder mit der Gefahr eines drohenden Krieges konfrontiert, sollte die Frage der nationalen Minderheiten nicht gelöst werden. Auch die vorangegangen Aufsätze zeigen, wie stark nationale Fragen und der Frieden in Europa in den öffentlichen Diskursen miteinander verknüpft wurden.

Alle Beiträge aus dem ersten Teil des Buches zeigen, dass Breitenwirkung und tatsächlicher Erfolg der Appelle langfristig immer nur dann möglich waren, wenn die Kommunikationsnetze breit gefächert wurden und die konkreten Anliegen der Minderheiten mit solchen Themen ummantelt waren, die in den westeuropäischen Machtzentren Aufmerksamkeit versprachen.

Eine andere Möglichkeit, die Öffentlichkeit anzurufen, stellen militärische Auseinandersetzungen dar. Der zweite große Teil des Bandes widmet sich diesem Thema. Fehlen im ersten großen Abschnitt Untersuchungen zu aktuellen Öffentlichkeitsdiskursen, so wird dies hier besonders durch die Beiträge zu den Konflikten im ehemaligen Jugoslawien ausgeglichen. Stefan Troebst zeigt, mit welchen Strategien nationalrevolutionäre Bewegungen auf dem Balkan die „Ressource Weltöffentlichkeit“ anzapften. Es wird klar, dass auch hier von den Akteuren bewusst Topoi erzeugt werden, welche das Bild der Bewegung in der Öffentlichkeit bestimmen sollen - in diesem Falle der des „heldenhaften Widerstandskämpfers gegen Gewaltherrschaft“ (S. 232).

Ein Plus des Buches besteht darin, dem Leser die Möglichkeit zu bieten, die Wirkmächtigkeit dieser Strategien am Beispiel der „Diskussion um den Jugoslawienkonflikt in Deutschland und Frankreich (1990 bis 1996)“ (Requate/ Vollert) unmittelbar nachvollziehen zu können. Der Aufsatz bildet den gelungenen Abschluss des Bandes. Den Autoren geht es dabei primär um die Wirkungen dieses europäischen Ereignisses auf die Rezipientenseite. Die sich im Jahre 1991 über traditionelle Unterschiede in den deutschen Medien- und Parteienlandschaft hinwegsetzende Forderung nach einer schnellen Anerkennung Sloweniens und Kroatiens wird als Konglomerat heterogener Motivlagen beschrieben. Zugleich wird hier die Dichotomie von Eigen- und Fremdwahrnehmung klar, verweisen die Erklärungen von französischer Seite bezüglich des deutschen Handelns doch stark auf den Einfluss geschichtlich geprägter Wahrnehmungsmuster. „Dabei ist es sogar nur sekundär, in welchem Maße das außenpolitische Handeln einer Regierung tatsächlich von historischen Kontinuitäten bestimmt wird.“ (S. 324)

Den Autoren gelingt es, den Bogen zur Einleitung zu schließen, indem sie deutlich machen, dass es selbst bei einem Ereignis wie dem Jugoslawienkonflikt weder eine europäische Öffentlichkeit, noch eine europäische Debatte gegeben hat. Vielmehr war es eine ganze Reihe von europäischen Debatten, welche einerseits die Konturen der nationalen Grenzen nachzogen, andererseits diese sprengten. Diese Dichotomie spiegelt sich auch in einem aktuellen Sammelband zu transnationalen Öffentlichkeiten und Identitätsbildungsprozessen wider. Während manche Forscher, wie z.B. Jürgen Gerhards, die Bedeutung der Nationalstaaten in diesen Diskursen stark herausstreichen, gehen andere, wie etwa Hartmut Kaelble, von bereits längerfristig existierenden transnationalen Bewegungen aus, die sich in den vergangenen Jahrzehnten noch einmal deutlich verstärkt. Die Vielzahl von Teilöffentlichkeiten und Auseinandersetzungen resultiert nicht zuletzt aus dem von den Herausgebern konstatierten „konstruktiven und damit wandelbaren Charakter des Europabegriffs“ (S. 12).

Insgesamt bietet der vorliegende Band ein breites Spektrum von Aufsätzen, wobei besonders die gelungene Verbindung von Einzel- und Überblicksbeiträgen zu nennen ist, die dem Leser immer wieder zum kritischen Vergleich animieren. Darüber hinaus ermöglicht es die Zusammenstellung der Beiträge, verschiedene Topoi der Öffentlichkeitsdiskurse in ihren zeitlichen und räumlichen Ausprägungen und Entwicklung zu betrachten.

Besonders hervorzuheben ist die Einbindung der in der europäischen Geschichtsschreibung meist noch immer vernachlässigten Randgebiete des Kontinents, besonders jener in Südosteuropa. In einigen Beiträgen gerät allerdings die Frage nach dem spezifisch „europäischen“ in den produktiven und rezeptiven Prozessen der Konstituierung von Öffentlichkeit(en) aus den Augen, überdies stören eine ganze Anzahl von Rechtschreibfehlern bis hin zu fehlenden Wörtern mitunter das Lesevergnügen.

Anmerkung:
1 Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.

Redaktion
Veröffentlicht am
20.09.2004
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