Die Übernahme eines Teilbandes innerhalb einer Handbuchreihe läßt dem Autor wenig bis keinen Spielraum für die Entwicklung eigenständiger Zugangsweisen zum Thema. Ziel eines "Handbuchs" sollte sein, dem Leser schnell und zuverlässig auf den jeweils aktuellen Stand der Forschung zu bringen, und darüber hinaus ein rasches Nachschlagen zu ermöglichen. Die von den Herausgebern des "Handbuchs der Geschichte der Internationalen Beziehungen" gewählte Gliederung ihrer Bände gewährleistet dies. Das "Handbuch" ist geteilt in zwei Abschnitte, A. Strukturen und B. Ereignisse, wobei unter "Strukturen" 1. Rahmenbedingungen und 2. Akteure dargestellt werden.
Den Anspruch an ein Handbuch, kompakte Information zu liefern, wird der vorliegende Band über "Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht" vollauf gerecht. Wer einen Einstieg in die internationale Dimension der Epoche sucht, dem bietet Erbe einen nüchternen Überblick über eine Phase der Um- und Neuformierung des internationalen Systems. Zwischen 1785 und 1830 verschwanden nicht nur zeitweise Akteure des internationalen Systems, die seit Jahrhunderten dazu gehörten (z. B. die geistlichen Kurfürsten und Landesherren Deutschlands, wie ja auch die gesamte Ordnung des Alten Reichs aufgelöst wurde, die Republiken Venedig und Genua, das Königreich Polen), neue traten hinzu (die USA, Griechenland, die südamerikanischen Staaten), sondern es kamen auch neue Ideen der Gestaltung der Außenpolitik auf (Prinzip der Nichtintervention, Legitimität, Heilige Allianz, nationale Selbstbestimmung).
Diesen Veränderungen trägt insbesondere der Abschnitt über die Akteure Rechnung, der vieles an "Ereignissen" aufnimmt. Die einzelnen Abschnitte über die Akteure folgen einer klaren Gliederung (Porträt des Akteurs, Ressourcen, Wirtschaft, Militär, Innen- und Außenpolitik, mit der wiederkehrenden Frage, wie auf die Herausforderung der Französischen Revolution reagiert wurde). Rück- und Querverweise erleichtern hierbei das Nachschlagen, so dass, auf diese Weise entlastet, der Abschnitt "Ereignisse" einen konzisen Überblick bietet von den letzten Jahren des Ancien Régime über die Revolutions- und Napoleonischen Kriege bis hin zur Restauration der Jahre 1815 bis 1830 im Zeichen der Heiligen Allianz. Hierbei verzichtet Erbe auf eine ausführliche Diskussion über die Bedeutung der Epoche für die Geschichte des Staatensystems, d. h. ob eine Transformation der Außenpolitik der Akteure von einer unsicheren, instabilen Gleichgewichtspolitik hin zu einer friedenssichernden Politik des "Equilibrium" stattfand, wie es Paul W. Schroeder konstatiert 1.
Bleibt hierzu eine Stellungsnahme aus, so verdeutlicht die Darstellung aber gleichwohl die ungeheuren Kräfte, die von der Französischen Revolution ausgingen und nach und nach ganz Europa erfaßten. Es ist eine Zeit der schnellen Veränderung, in der Verträge zwischen den Akteuren nur geringe Stabilität und Sicherheit brachten. Beinahe jeder Friedensvertrag zwischen 1795 und 1814 hatte nur wenige Jahre Bestand, und beinahe jeder Friedensvertrag brachte eine vollständige Veränderung der politischen Landkarte mit sich. So verschwanden die staatlichen Ordnungen des Ancien Régime in Italien und in Deutschland, eine stabile Neuordnung fand aber nicht statt. Territorien wurden dem einen oder anderen zugeschlagen (z.B. Preußens Entschädigung für linksrheinische Verluste 1795/97 und dann 1803, deren Verlust 1806 (S. 141-144)), dann aber wieder entzogen und in eine Staatsgründung von Napoleons Gnaden eingebracht (Königreich Westfalen 1806; Norditalien: von der "Cisalpinischen Republik" über die "Italienische Republik" zum "Königreich Italien" unter König Napoleon (S. 199 f.)).
Es war zweifellos diese Erfahrung einer Epoche der Instabilität, die hinter der Ordnung des Wiener Kongresses steht. Denn die führenden Politiker waren vom Ancien Régime geprägt, und es dürfte die zentrale Erfahrung der Epoche gewesen sein, dass das Instrumentarium vorrevolutionärer Außenpolitik nicht mehr mit der Gegenwart kompatibel war. Daher stellt der Wiener Kongreß nicht eine simple Restauration dar, die ja durch Napoleons Hundert Tage kurzfristig Gefahr lief, wie so viele Ordnungsversuche zuvor, wieder umgestoßen zu werden, sondern die Etablierung eines neuen Status quo. Diesen versuchte vor allem Metternich, der die "neuen Prinzipien" der Außenpolitik der Epoche wie kaum ein anderer verkörperte, zu bewahren. Dass es in dieser erneuerten und neuen Ordnung Gewinner und Verlierer gab, steht außer Frage: Englands Weg zum Empire stand nun nichts mehr im Wege.
Deutlich wird, und dies ist eines der Verdienste dieses Bandes, dass nicht nur die europäische Politik einer tiefgehenden Transformation unterzogen wurde. Parallel dazu setzte eine Dynamisierung weltumspannender Interaktionen im internationalen System ein, der zu einer engeren Verbindung von bislang nur in losem Kontakt stehenden Teilsystemen führte. In erster Linie war dies verbunden mit dem Ausbau europäischer Brückenköpfe in Übersee zu veritablen Kolonien – etwa die Unterwerfung Indiens unter englische Kontrolle. Aber auch Akteure, die nicht der direkten Kontrolle europäischer Mächte unterworfen wurden, fanden sich in die europäischen Verwicklungen einbezogen. Dies gilt für Persien, das zwischen die Fronten des englisch-russischen Kampfes um Vorderasien geriet. Dabei zeigt sich nicht nur, dass schon im frühen 19. Jahrhundert jene Zonen von Bedeutung waren, die auch in der Gegenwart wieder zu den Brennpunkten der internationalen Politik gehören, sondern auch, dass ein Staat wie Persien sich mit denselben Problemen konfrontiert sah, die jetzt ebenfalls die islamischen Staaten erschüttern: Erneuerung unter Anlehnung an westliche Modelle oder radikale Ablehnung des westlichen Staatsmodells (S. 254-260).
Dass diese Entwicklungen, der langsame Aufstieg der USA zu einem Akteur im internationalen System sowie der Weg Mittel- und Südamerikas in die Unabhängigkeit, gleichgewichtigen Eingang in die Darstellung gefunden haben, zählt zu den Stärken des Bandes.
Zwei Korrekturen seien noch angefügt, die in eine zweite Auflage eingehen sollten: Joseph de Maistre, neben Bonald der zentrale Theoretiker einer theokratischen Restauration, war kein Franzose, sondern Savoyer und damit Untertan des Königs von Sardinien (S. 37). Und in die Literaturliste über "Mittel der Außenpolitik" (S. 55) sollte auch die alte, aber nicht ersetzte Studie von Frédéric Masson über das französische Außenministerium zwischen 1787 und 1804 aufgenommen werden, ebenso wie die vollständigen Angaben zu "Fischer/Knott/ Seewald, Zwischen Wilhelmstraße und Bellevue, 1998" 2.
Anmerkungen
1 Schroeder, Paul W., The Transformation of European Politics 1763-1848, Oxford 1994.
2 Masson, Frédéric, Le Département des Affaires Etrangères pendant la Revolution 1787-1804, Paris 1877 [ND Genf 1977]. Fischer, Bernd (Hg.), Knott, Anja, Seewald, Enrico (Mitarbeit), Zwischen Wilhelmstrasse und Bellevue. 500 Jahre Diplomatie in Berlin, Berlin 1998.