Das sich neu definierende Europa wird in der letzten Zeit zum willkommenen Objekt der Historiker auf der Suche nach einem neuen europäischen Geschichtsbild. Das ist keine neue Erscheinung: auch die sich im 19. Jahrhundert neu formierenden nationalen Gemeinschaften hielten es für notwendig und legitim, ihre eigene Geschichte zu suchen bzw. zu konstruieren. Den Reihen der Europa-Historiker hat sich neulich Paul Dukes angeschlossen, ein prominenter britischer Forscher, der zu jener seltenen Gattung der westeuropäischen Historiker gehört, die über Geschichte Osteuropas schreiben können, ohne die breiteren europäischen Horizonte zu verlieren.
Seine Absicht ist schon im Titel des Buches angedeutet: es sollen solche Wege gesucht und analysiert werden, die zum Entstehen des „New Europe“ führten. Unter diesen „Paths“ versteht er „the development of the continent from its origins through premodern times”. Auf der Zeitachse fangen bei ihm diese Wege allerdings erst im 17. Jahrhundert an. Die eigentlichen „origins“, d.h. das Mittelalter und die frühe Neuzeit bis 1618 wird stiefmütterlich (und sehr oberflächlich) auf 10 Seiten behandelt.
Die erste Periode, wo das moderne „neue Europa“ bei Dukes ausführlicher behandelt wird, ist also der Dreißigjährige Krieg, der in die große soziale und politische Krise in der Mitte des 17. Jahrhunderts mündet. Es folgen dann 14 Kapitel, die überwiegend durch Meilensteine der politischen Geschichte abgegrenzt werden. Die nach der Krise folgenden Jahrzehnte werden als die Zeiten des „French Challenge“ bezeichnet und werden durch das Jahr 1721 abgeschlossen, also etwa mit dem Ende der französischen Hegemonie und dem ersten Erfolg Russlands auf der europäischen Bühne. Das dritte Kapitel behandelt die Zeit der neu aufkommenden Mächte, zu denen nicht nur Russland, sondern vor allem Großbritanien und auch Preußen gezählt wird. Die Zeit zwischen 1763 und 1789 wird als eine Zeit der aufgeklärten Regierungen und ihrer Kritiker bezeichnet. Unter den sonst nebeneinander als quasi gleichwertig gereihten Periodisierungsdaten bekommt die Französische Revolution eine Sonderstellung. Ihren Ursachen, d.h. der Entwicklung vor 1789, wird ein selbstständiges Kapitel gewidmet, dem ein weiteres folgt, das die revolutionären Ereignisse und napoleonischen Kriege schildert. Die danach folgende Zeit bis zur Revolution von 1848 charakterisiert der Autor als eine Entwicklung von der Reaktion zum Liberalismus, wobei allerdings die eigentliche Schilderung vor allem der politischen Ereignisgeschichte gewidmet ist. Analog fährt das weitere Kapitel fort, in dem sich hinter dem Hinweis auf einen Systemwandel zum Nationalismus, Sozialismus und Imperialismus in der Zeit bis 1878 vor allem eine strukturierte Geschichte einzelner Staaten verbirgt. Die Zeit bis 1918 ist dann als eine Zeit der Konflikte zwischen Imperien und Klassen geschildert. Ein selbstständiges Kapitel bekommt der Weltkrieg und die Oktoberrevolution, die als organischer Abschnitt bzw. Resultat des Krieges betrachtet wird. Die weitere Gliederung ist dann ziemlich traditionell: die Zwischenkriegszeit, der 2. Weltkrieg und die danach folgende Zeit bis 1969, bezeichnet als die Zeit des Kalten Krieges und der Dekolonalisierung. Das letzte Kapitel behandelt dann die neueste Zeit nach 1969.
Schon aus dieser kurzen Übersicht kann man entnehmen, was der Autor unter Geschichte versteht, nämlich eine politische Geschichte, die über die bloße Ereignisgeschichte hinausgeht. Die politische Entwicklung wird in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Umfeld verstanden und manchmal auch interpretiert, die Elemente des politischen Systems werden berücksichtigt. Es handelt sich also um keine platte narrative Geschichte, wie wir sie in traditionalistischen Synthesen gewöhnlich lesen können. Andererseits betrachtet der Verfasser jedoch die politischen Einheiten – die Staaten – als grundlegende Elemente seiner Schilderung: die europäische Geschichte wird als Geschichte der einzelnen Staaten verstanden. Soziale Geschichte erscheint fast ausschließlich als Indikator bzw. als ein Werkzeug zur Beleuchtung der politischen Veränderungen. Die kausalen Zusammenhänge der internen gesellschaftlichen Prozesse bleiben dann meistens ohne Berücksichtigung. Allerdings gibt es Ausnahmen: jenen historischen Prozessen und Umwälzungen, die der Autor als zentral betrachtet, d.h. vor allem die Französische Revolution und der Erste Weltkrieg mit der russischen Revolution, wird eine ausgezeichnete analysierende Studie gewidmet.
Eine gewisse Unausgewogenheit der historischen Auffassung spiegelt sich auch in einer ungleichmäßigen Schilderung bzw. Interpretation der politischen Ereignisse. Neben den erwähnten sozialgeschichtlich interpretierten Prozesse finden wir personalistisch aufgefasste traditionelle Schilderungen, wie z.B. im Falle der napoleonischen Kriege. Ein anderes mal wieder wirkt der Text eher als ein Kommentar zu Ereignissen, deren Akteure allgemein bekannt sind. So erscheinen Wallenstein oder Richelieu plötzlich im Text auf, ohne eingeführt und dem Leser vorgestellt zu werden.
Als eindeutig positiver Aspekt des Buches gilt die Bemühung des Autors, in sein Europabild möglichst alle europäische Regionen einzugliedern, d.h. alle in der gegebenen Zeit existierenden Staaten, natürlich bei Respektierung der politischen Dominanz der Großmächte. Dieses additive Nebeneinander führt jedoch dazu, dass die weniger bedeutenden, d.h. schwächeren und kleineren Staaten in einem Subkapitel unter der Bezeichnung „the other states“, oder „the rest of Europe“ - natürlich als Einzelfälle - behandelt werden. Es ist verständlich, dass ein britischer Verfasser in seiner Synthese der englischen bzw. britischen Geschichte manchmal eine unproportional größere Aufmerksamkeit widmet. Verstehen heißt hier aber nicht zu akzeptieren: die neuen Synthesen europäischer Geschichte sollten die Nationalität der Autors nicht ostentativ verraten.
Es wäre jedoch ungerecht, die synthetisierenden Bemühungen des Verfassers zu übersehen. Diese erscheinen vor allem in den generalisierenden Betrachtungen, die am Ende der meisten Kapitel stehen, und wo die grundlegenden Veränderungen jener Zeit zusammenfassend charakterisiert werden. So wird z.B. das 18. Jahrhundert durch die Durchsetzung des Prinzips des politischen Gleichgewichts und durch die aufkommende europäische koloniale Expansion gekennzeichnet. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts wird mit dem Liberalismus (vielleicht nicht ganz überzeugend) verbunden, die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dann mit dem Aufstieg des Sozialismus und mit dem Imperialismus.
Damit kommen wir zur zentralen Frage: wo sieht Paul Dukes die Wege zum „neuen Europa“? Schon angesichts der starken Betonung politischer Ereignisse können wir nicht erwarten, dass er diese Wege in der wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung suchen wird. Das neue Europa entsteht in seiner Sicht vor allem aus den großen revolutionären Umwälzungen der Französischen, aber auch der Englischen bürgerlichen Revolution, und zwar sowohl in der politischen Liberalisierung, wie auch in der Befreiung, verstanden als Beseitigung der auf Privilegien beruhenden sozialen Ungleichheit. Und dann natürlich der Kampf gegen die autoritären Regime, vor allem die faschistischen, während des 20. Jahrhunderts.
Es überrascht in diesem Zusammenhang, dass Paul Dukes die politische Modernisierung ausschließlich durch das Phänomen „Liberalismus“ bezeichnet, während ihm der Terminus Demokratie so wenig bedeutet, dass „democracy“ auch im Index der Begriffe fehlt. Dies könnte auch durch eine begriffliche Originalität, welche den Liberalismus zugleich als Demokratie versteht, erklärt werden. Dies ist aber nicht der Fall, denn es fehlen im Text so berühmte Kapitel aus der Geschichte der demokratischen Bewegungen, wie die Levellers in der englischen und die jakobinische Verfassung in der französischen Revolution. Auch die demokratischen Forderungen der Revolutionen 1848, z.B. die demokratische Linke in Frankfurt, sind nicht mal erwähnt. Es bleibt also zu vermuten, dass Paul Dukes bewusst unter den Wegen zum neuen Europa nur den Liberalismus und seinen Gegenspieler Sozialismus, nicht aber die Demokratie versteht. Es ist signifikant, wie er die grundlegenden Merkmale des „Rise of Europe“ im 19. Jahrhundert zusammenfasst. Es gehören dazu: die Entfaltung der Kommunikation und des Handels, der Darwinismus, die Revolution, Nationalismus, der Kampf zwischen der Bourgeoisie und dem Proletariat und die steigenden Spannungen unter den Großmächten.
Paul Dukes analysiert die Wege zum „neuen Europa“ nicht nur auf der Ebene der „objektiven“ Prozesse, sondern auch auf der subjektiven Ebene der Selbstbesinnung der Europäer. Dies ist vor allem im Kapitel „The Arrival of Europe“ der Fall, wo das entstehende Bewusstsein der Zusammengehörigkeit Europas und der gemeinsamen Interessen der Europäer dargestellt wird. Deutlich wird dabei, dass dieses Bewusstsein eine sehr lange Zeit fast ausschließlich Angelegenheit der nicht besonders zahlreichen Schichten der Gebildeten und eventuell auch der Reichen gewesen ist. Die englischen Reisenden durch Europa und die großen Denker der frühen Neuzeit waren nur erste Zeichen einer neuen europäischen Identität und es wäre schwierig zu belegen, dass sich diese Exklusivität bis zum Zweiten Weltkrieg wesentlich verringert hat.
In einem so breit angelegten Werk muss man immer mit gewisser Toleranz die kleinen Irrtümer und Fehler betrachten. Aus diesem Grunde sollen hier nur einige Beispiele erwähnt werden. Die katastrophale Niederlage der Haager Koalition im sog. Dänischen Krieg wird bei Dukes euphemistisch als „fighting with mixed success“ (S. 15) bezeichnet. Das alte Ostpreußen war seiner irrtümlichen Meinung nach „originally peopled by Slavs“ (S.75). Elsass und Lothringen werden auf S. 77 als „old Habsburg dominions“ genannt. Die Beibehaltung der Leibeigenschaft in Russland, Österreich (sic!) und Preußen wird durch die Gefahr einer Bauernflucht von einer Obrigkeit zur anderen, oder sogar zu den Kosaken (sic!) erklärt (S.86). Die nationalen Bewegungen in der Habsburgermonarchie in der Revolution 1848 werden aus dem „Nationalismus“ erklärt, ohne jede Erwähnung des Kampfes gegen Feudalismus und für die Bürgerrechte. Neben solchen Irrtümern und Ungenauigkeiten stört manchmal den Leser die Bemühung des Verfassers, keine eigene Meinung, keine eigene Interpretation zu äußern und stattdessen die „Autoritäten“ (oft sehr ausführlich) zu zitieren. Dies sollte eigentlich kein Grund zur Kritik sein, wenn nicht eine, sondern mehrere unterschiedliche Interpetationen zitiert wären, oder wenn die Zitate durch einen Kommentar des Autors begleitet wären. Dies ist leider nur selten der Fall.
Zusammenfassend soll konstatiert werden, dass Paul Dukes eine sorgfältig geschriebene und relativ gut informierte Synthese vorlegt, deren starke Seiten in drei Punkten zusammengefasst werden können: 1. das Werk ist in vollem Sinne des Wortes gesamteuropäisch, es berücksichtigt auch die weniger bekannten und außenpolitisch schwächeren Staaten und den „Osten“ Europas;
2. obwohl die Schilderung der Ereignisse um eine verstehende Interpretation bemüht ist, wird dem Leser deutlich vor Augen geführt, was der Verfasser als progressive Prozesse und Veränderungen in der europäischen Entwicklung betrachtet;
3. obwohl es sich überwiegend um Erzählung politischer Ereignisse handelt, werden die zentralen Veränderungen und Konflikte in ihrem sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhang untersucht und interpretiert.
Alle diese Positiva ändern nichts an meiner Meinung, dass es sich um eine im Grunde immer noch traditionalistisch verstandene Geschichte Europas handelt, die sich von den früheren Synthesen in einigen Akzenten sympathisch unterscheidet, aber keinen Meilenstein auf der Suche nach einem neuen Verständnis und eine neuen Interpretation der Geschichte der Gesellschaften und Nationen unseres Kontinents bedeutet.