Die Frage, "wie die nationalen Identifikationsangebote von unterschiedlichen sozialen Gruppen verstanden und rezipiert wurden", sei, so konstatierten Heinz-Gerhardt Haupt und Charlotte Tacke noch 1996, "noch weithin unbeantwortet".1 Das vorliegende Buch, hervorgegangen aus der 2001 erfolgten Habilitation Rolf Wörsdörfers, leistet einen essentiellen Beitrag zur Aufhebung dieses Mangels, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur sprengt es die nationalstaatliche Matrix, die der Nationalismusforschung auch heute noch meist zugrunde liegt. Wörsdörfer wählt für seine Studie einen der komplexesten Räume in der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, den romanisch-slawisch-germanischen Grenzraum, und analysiert die "Konstruktion und Artikulation des Nationalen", so der Untertitel, über mehrere zeitliche Demarkationen hinweg. Die Zeitspanne von den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts über den Ersten Weltkrieg, die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg bis zum ersten Nachkriegsjahrzehnt bedeutete für den untersuchten Raum das Kommen und Gehen von nahezu einem Dutzend nach- oder nebeneinander bestehenden Staatlichkeiten: "Die Habsburgermonarchie, das liberal-monarchische, das faschistisch-monarchische, das faschistisch-republikanische und das republikanisch-demokratische Italien, die deutsche Besatzungsmacht, der 'Staat der Slowenen, Kroaten und Serben', das 1929 in 'Königreich Jugoslawien' umgetaufte 'Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen', schließlich die noch in den Sowjetblock eingebundene Föderative Volksrepublik (bis 1948) und das blockfreie titoistische Jugoslawien" (S. 12). Hinzu kamen zwischen 1941 und 1945 eingerichtete partisanische Verwaltungsgebiete sowie das Nachkriegsprovisorium des 'Freien Territoriums Triest', das aus der von den Alliierten kontrollierten Zone A und der von Jugoslawien verwalteten Zone B bestand. Kaum irgendwo sind Staatsgrenzen so häufig hin- und her geschoben worden. Es gelte zu analysieren, so Wörsdörfer (S. 17), "wann, wo und wie gesellschaftliche Gruppen oder Individuen, Behörden, Vereine, Genossenschaften, Partisanenverbände aufeinander trafen, die sich in der einen oder anderen Form national artikulierten" und zu klären, "ob sich im Beobachtungszeitraum an der nordöstlichen Adria eine italienische und eine jugoslawische Nation (bzw. ein italienisches, ein slowenisches und ein kroatisches Volk) gegenüberstanden".
Der italienisch-jugoslawische Grenzraum, "Schlüssel zum Verständnis der gemeinsamen Geschichte" (S. 11) Italiens und Jugoslawiens, steht detailliert im Mittelpunkt, dient aber ebenso als Sprungbrett für eine höhere analytische Ebene: Die Studie ist ein bemerkenswerter Beitrag zur vergleichenden Geschichte, nicht nur, weil sie, als eine der ersten überhaupt, den südosteuropäischen Raum in den Blick nimmt. Der Vergleich der italienischen und der südslawischen Einigungsbewegungen und Staatsbildungen, der italienischen, slowenischen, kroatischen und jugoslawischen Vereine als Träger nationaler Mobilisierung zwischen 1880 und 1940, der Idee der italianità und der des jugoslovenstvo, des faschistischen Italien und der jugoslawischen Königsdiktatur der Zwischenkriegszeit, des italienischen und des jugoslawischen bzw. slowenischen und kroatischen Partisanenkrieges sowie der Nachkriegsstaaten und ihres Umgangs mit dem Grenzraum verdeutlicht, dass gängige Ost-West-Parameter wie der des "rückständigen" Südosteuropa gegenüber dem "modernen" Westeuropa, dem Italien, wenn auch manchmal mit Abstrichen, zugerechnet wird, nicht greifen. Die adriatischen Nachbarn wiesen durchaus vergleichbare Strukturmerkmale auf, und auch die Divergenzen lassen sich kaum hierarchisch ordnen.
Auch auf anderen Ebenen bricht die Studie mit historiografischer Tradition: Wörsdörfer wertet Quellenmaterial und Literatur aller vier untersuchten Sprachgruppen aus, hat in deutschen, italienischen, slowenischen und kroatischen Archiven gearbeitet. Bislang orientierte sich Geschichtsschreibung auch in dieser Hinsicht hauptsächlich an nationalstaatlichen, eher monolinguistischen Grenzen und Optiken. Seine Studie ist bedingt chronologisch angelegt, mit einigen dem Vergleich dienlichen Verschiebungen, und konzentriert sich methodologisch auf diskursive, symbolische, rituelle und lebensweltliche Aspekte der "Konstruktion und Artikulation des Nationalen".
Die Darstellung des Partisanenkriegs gehört wegen der innovativen methodischen Herangehensweise zu den spannendsten Kapiteln des Buches. Auf einen ereignisgeschichtlichen vergleichenden Abriss ("Zweierlei Zusammenbruch: Belgrad, 6. April 1941 – Rom, 8. September 1943") folgt eine die post-jugoslawischen Historiografien etwas zu pauschal abhandelnde Zusammenfassung des Forschungsstandes. Anschließend konzentriert Wörsdörfer sich auf lebensweltliche Aspekte des Partisanendaseins, skizziert im Detail den Kriegsverlauf in der Grenzregion und beleuchtet das Spannungsfeld zwischen Nationalismus und Internationalismus in der massiv radikalisierten Situation. Die komplizierte, oft verworrene, manchmal geradezu grotesk erscheinenden Sinngebungsversuche durch Symbole wie dem roten Stern und der italienischen bzw. der jugoslawischen Trikolore, die national konnotierten Namen der Brigaden sowie die nationalisierten Inhalte der partisanischen politischen Schulung, Propaganda und Erinnerungskultur – hier die Bezugnahme auf das Risorgimento, dort die Rückbesinnung auf slowenische und kroatische Symbolik, die solidaritätsfördernder war als die jugoslawische – sind nur einige Aspekte der Schwierigkeiten mit der Aneignung nationaler Identifikationen. Daneben bestand eine interkulturelle bzw. interethnische Praxis auf verschiedenen Ebenen; insbesondere der Kampf gegen die deutschen Besatzer wurde zeit- und teilweise von Italienern und Slawen gemeinsam getragen. "Wahrscheinlich waren Slowenen, Kroaten und Italiener einander niemals zuvor so nah gewesen wie in bestimmten Momenten des Kampfes gegen die deutsche Besatzungsmacht […]." (S. 407) Eindrücklich zeigt sich Solidarität auch an zahlreichen Berührungspunkten im Bereich der Fest- und Gesangskultur. Gleichzeitig weist Wörsdörfer auf unterschiedliche Sinngebungen für ein und dasselbe Ereignis hin: Die Slowenen kennen etwa den ersten, mehrtägigen Kampf gegen die heranrückenden Deutschen als Goriška fronta (Front von Gorica), in Anlehnung an die Isonzo-Front des Ersten Weltkriegs. Die Italiener sprechen von der battaglia di Gorizia (Schlacht um Gorizia) und erinnern keine Grenzverteidigung, sondern die "erste wirkliche Kampfhandlung der Resistenza" (S. 385).
Das Nachkriegsjahrzehnt war ein virulentes: Wörsdörfer konzentriert sich auch hier auf die 'sozialen' und 'nationalen' Aspekte der Ereignisse. Eine zentrale Rolle im Abrechnungsfuror spielten die jugoslawische Geheimpolizei OZNA (Oddelek za Zašito Naroda, Volksschutzabteilung) als kommunistisches Säuberungsinstrument, sowie die Foibe als Kristallisationspunkt nationaler und ideologischer Legitimations- und dann Erinnerungspolitik, wobei die besondere Komplexität der Lage die simplifizierende Mythenbildung um 'Opfer', 'Täter', 'Anklage' und 'Schuld' noch förderte. Wörsdörfer kontextualisiert die Foibe-Problematik – das Verschwinden von Menschen in Karstschlünden zum Zeitpunkt der italienischen Kapitulation im September 1943 und zum Kriegsende – als "traurige Höhepunkte eines weitgehenden Auseinanderfallens einer pluriethnischen Gesellschaft" (S. 500). Es wird deutlich, dass jede einseitige oder monokausale Interpretation Auslassungen begeht: Die "Grenzen zwischen der 'legitimen' Hinrichtung und dem Racheakt" seien "unklarer, als man annehmen möchte" (S. 499), die Verquickung nationaler und ideologischer Identitäten und Gegensätze kaum mehr entwirrbar.
Interessante Einsichten bietet auch der Vergleich der beiden Migrationsbewegungen – der "konsistenten Minderheit" (S. 524) der Slowenen und Kroaten aus dem faschistischen Zwischenkriegsitalien nach Jugoslawien und der Mehrheit der Italiener aus dem jugoslawischen Nachkriegsistrien nach Italien. Während der Faschismus die Italienisierung bzw. Entslawisierung der Region betrieb, verlangte der Kommunismus ein Bekenntnis zum Tito-Staat, in welcher Sprache auch immer. Italienisierte der Faschismus rigoros das Erscheinungsbild der Region und verbot slawisches Kultur- und Geistesleben, forcierte der Tito-Staat durch mehr oder weniger indirekte Repressionen die Abwanderung, durch die Verdrängung italienischer Beamten aus öffentlichen Ämtern, durch das Wirtschaftsleben regelnde Gesetze, die vor allem Italiener trafen, durch Druck auf italienische Eltern, ihre Kinder in slowenische Schulen zu schicken u.a.m. Die slowenischen und kroatischen Exilanten im Zwischenkriegsjugoslawien waren 1925 maßgeblich an der Gründung des Minderheiteninstituts in Ljubljana beteiligt, welches die in Italien verbliebenen Slawen mit einem gesättigten nationalen Selbstverständnis ausstattete, um der faschistischen Diskriminierung die Stirn zu bieten. Gleichzeitig blieben die Exilanten selbst Bürger zweiter Klasse – nicht nur die soziale und berufliche Integration erwies sich als schwierig, sie erhielten auch nie die jugoslawische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Die Rolle der italienischen esuli nach dem Zweiten Weltkrieg in Italien war kaum minder zwiespältig: Siedlungen für die Istrianer wurden im Raum Triest gezielt dazu genutzt, vorher mehrheitlich slowenisch besiedelte Dörfer und Quartiere zu "italienisieren".
Am Ende beider Weltkriege stand anstatt der Lösung der nationalen Fragen neues Leid im Zuge von Diskriminierung, Flucht und Vertreibung. Wörsdörfer plädiert für eine Annäherung der Perspektiven: Zwar habe die slowenisch-kroatische Abwanderung der Zwischenkriegszeit nicht das Ende einer Regionalkultur bedeutet – wie es für die italienische in Istrien der Fall war –, die "kulturellen Verwüstungen" (S. 569) des italienischen Faschismus seien aber keineswegs zu unterschätzen.
Die kontextgebundene Nennung der Ortsnamen mal in der slawischen, mal in der italienischen Variante – manchmal mit der jeweiligen Übersetzung in Klammern – macht es ortsunkundigen Lesern nicht immer leicht, sich zu orientieren, ist aber als 'political choice' durchaus akzeptabel. Die Vielsprachigkeit des Raumes wird so noch einmal deutlich, und in Zweifelsfällen hilft die Ortskonkordanz im Anhang.
Das Buch ist die erste umfassende deutschsprachige Studie über den italienisch-jugoslawischen Grenzraum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es hinterfragt festgefahrene, manchmal quasi unbewusste Bilder und Denkraster – Stichwort 'Vorzimmer zum Balkan' – und bricht die Dynamiken der Erinnerung und des 'mental mapping' auf: Ein gewichtiger Beitrag zur europäischen Kultur- und Nationalismusgeschichte.
Anmerkung:
1 Haupt, Heinz-Gerhardt; Tacke, Charlotte, Die Kultur des Nationalen. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung des europäischen Nationalismus im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hardtwig, Wolfgang; Wehler, Hans-Ulrich (Hgg.), Kulturgeschichte heute, Göttingen 1996, S. 266f.