T. Snyder: The Reconstruction of Nations

Cover
Title
The Reconstruction of Nations: Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus. 1569-1999


Author(s)
Snyder, Timothy
Published
Extent
367 S.
Price
£25.00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
José-María Faraldo, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder

Was ist das eigentlich, was ein Buch gut macht? Welche Merkmale muss man finden, um zu sagen, ein Buch sei hervorragend und extrem lesenswert? Und warum aller Fehler zum Trotz sind bestimmte Bücher als epochal einzustufen?

Dies waren meine Überlegungen, die ich nach der Lektüre des Buches von Snyder hatte. Obwohl ich immer wieder von den Forschungen der amerikanischen Universitäten bezüglich Osteuropa enttäuscht war, obwohl zwischen pseudopostmodernistischem Blablabla, oberflächlicher Detailfixierung und massenmedialer Selbstdarstellung kaum Rosinen in Amerika zu finden sind, war Snyder schon früher ein Begriff für mich. Sein Buch über Kazimierz Kelles-Krautz halte ich für sehr klug und seine ersten "Leseproben" des gegenwärtigen Buches, etwa seinen Aufsatz über ethnische Säuberungen in Wolhynien, für viel versprechend. (1)

Und "The Reconstruction of Nations" ist tatsächlich ein großes Buch. Snyder hat eine titanische Aufgabe auf sich genommen und ist dabei erfolgreich gewesen. Das Buch leidet auch unter diesem gewissen Blablablatum, Oberflächlichkeit und Massenmedialismus, die ich genannt habe, es besitzt jedoch gerade das Nötigste davon, um es erträglich und leicht zu machen, und es bringt uns auch einige Neuigkeiten und eröffnet sogar neue Felder der historischen Darstellung in der Nationalismusforschung.

Die Hauptthese des Buches ist schon am Anfang klar: "When do nations arise, what brings ethnic cleansing, how can states reconcile?" (S. 1). Und auf eine sehr elegante Weise zeigt Snyder, wie Nationen aus alten Reichen und multikulturellen staatlichen Traditionen wachsen, und wie neue – das heißt ethnische – nationale Selbstverständnisse geschaffen werden, wie diese Nationen durch ethnische Säuberungen homogenisiert werden und wie schließlich eine gewisse Aussöhnung zustande kommt.

Der Raum, den Timothy Snyder ausgewählt hat, erstreckt sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, über das Intermarium, wo einst Polen-Litauen das größte Reich kontinentalen Europas war. Man könnte das einen gewissen Trick nennen, weil diese Territorien einen Extremfall bilden, und so können die Thesen Snyders von Anfang an als self fulfilling prophecies gelten. Allerdings beschreibt der Autor souverän die unglaublich tragische, gleichzeitig aber auch lehrreiche Geschichte des Zerfalls des alten Reichspatriotismus in mehreren Stücken vom neuen ethnischen Nationalismus.

Mit seiner prägnanten Erzählung macht Snyder nachvollziehbar, wie zum Beispiel Ethnizitäten konstruiert werden, wie ein einziger Dichter der "nationale" Dichter für zwei, drei ethnische Gemeinschaften werden kann, wie eine Person über verschiedene nationale Identitäten verfügen kann, und wie diese Identitäten auf fast freiwillige Weise ausgewählt sein können. Snyder nimmt jedoch die nationalen Gefühle und die kulturellen Konstruktionen des Nationalismus ernst, und das ist ein wichtiger Unterschied zu den "Aufklärern" aller Coleurs, die Nationalismen "entlarven" wollen, statt sie zu verstehen.

Der Höhepunkt des Buches ist zweifelsohne die Darstellung der multiplen ethnischen Säuberungen in der Zeit zwischen 1939 und 1947. Es gelingt Timothy Snyder, die komplexen Zusammenhänge der Verbrechen zu erörtern, und dabei nicht ein einziges Mal mit dem Finger auf einen isolierten Täter zu zeigen. Snyder hat eine ausgezeichnete Fähigkeit, Empathie gegenüber allem und allen zu empfinden, was die historische Rekonstruktion der vieldeutigen Vergangenheiten der gegenseitigen Gemetzel zwischen Deutschen, Polen und Ukrainern möglich macht.

Das transnationale Moment ist auch gut eingefangen: Snyder hat keine Geschichte Polens (oder Litauens, oder Weißrußlands oder der Ukraine) geschrieben, vielmehr hat er eine Erzählung (betont sei das Wort!) der Verflechtungen und der Kollisionen zwischen verschiedenen imaginierten Gemeinschaften verfasst.

Allerdings ist "Polen" der Held seines Epos, glücklicherweise aber kein "Polen" in der Opferrolle, wie es so oft sowohl von polnischen als auch deutschen Historikern bevorzugt wird, sondern ein erfolgreiches und selbstbewusstes "Polen", das eine historische Mission erfüllt hat. Timothy Snyder honoriert etwas, was für die meisten Europäer, Deutsche eingeschlossen, unbemerkt geblieben ist: die unglaubliche Leistung seitens polnischer politischer und kultureller Eliten, den sich durch den Verfall der Sowjetunion und die Geburt neuer Staaten in den von Polen historisch beanspruchten Territorien ergebenden Gefahren zu begegnen und, ohne nennenswerten Revanchismus, eine vorbildhafte Politik der guten Nachbarschaft und des friedlichen Zusammenlebens zu betreiben.

Diese Stärke des Buches wird allerdings gleichzeitig geschwächt, weil Snyder die ganze Neuostpolitik Polens aus den emigrierten Kreisen um Jerzy Giedroys herleiten lässt. Ohne die wichtige Rolle der Zeitschrift "Kultura" relativieren zu wollen, plädiere ich für eine funktionalere, geopolitischere Erklärung. Und man sollte auch nicht die Wirkung langjähriger Diskurse der Kommunisten aus den Augen verlieren: die Überzeugung über die Richtigkeit des Verlaufs der Ostgrenze ist jetzt fest in der Mitte der polnischen Gesellschaft eingebürgert.

Das einzige wichtige Problem von "The Reconstruction of Nation" scheint mir der Stil und die Struktur zu sein. Timothy Snyder verfügt über exzellente handwerkliche Fähigkeiten, seine Prosa ist oft reizend und lebhaft, aber die extreme Komplexität des Subjekts läßt ihn scheitern. Nein, ich gehe zu weit. Das Buch ist auf keinen Fall gescheitert! Die chronologische Dichtungsweise macht strukturelle Unregelmäßigkeiten unvermeidbar, die Vielfalt des Beschriebenen braucht Wiederholungen, um nicht die Pfaden zu verlieren. Die Wandlungen der Perspektive zwischen Stadtgeschichte, regionaler, politischer, dann kulturpolitischer Geschichte sind letztendlich faszinierend.

Aber man merkt beim Lesen, dass Timothy Schneider eigentlich mehr wollte, dass er viel ehrgeiziger war, er wollte vielleicht eine totale Geschichte, auf jeden Fall eine vollendete Erzählung. Und das ist es, was ihm nicht gelungen ist, dafür sind die Teile zu unregelmäßig, sie passen nicht so richtig zu den vorgesehenen Löchern.

Aber das ist etwas, das eigentlich für niemanden wichtig sein sollte, weil "The Reconstruction of Nations" trotzdem als epochal eingestuft werden kann. Ich bin davon so fest überzeugt, dass ich –würde das in meinen Händen liegen – das Buch in allen Schulen der betroffenen Länder als Pflichtlektüre einführen würde. Es fällt mir wirklich schwer zu glauben, dass jemand ein extremer Nationalist werden kann, wenn er ein solches Buch gelesen hat.

(1) Snyder, Timothy, Nationalism, Marxism, and Modern Central Europe: A Biography of Kazimierz Kelles-Krauz, Harvard University Press, 1998 und Snyder, Timothy, “To Resolve the Ukrainian Question once and for All": The Ethnic Cleansing of Ukrainians in Poland, 1943-1947, in: Journal of Cold War Studies, Band 1, Heft 2 (1999).

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Published on
10.04.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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