Dem Optimismus eines Teiles der gegenwärtig konjunkturellen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem sozialen und kulturellen Phänomen Grenze setzen Joachim Becker und Andrea Komlosy mit dem von ihnen herausgegeben Sammelband ‚Grenzen Weltweit’ einen kritischen Kontrapunkt entgegen. So gehen sie nicht von neuer Hybridität und dem Verschwinden von Grenzen und einer zunehmend integrierten Weltgesellschaft aus 1. Statt dessen richten sie ihren Fokus einerseits auf die Genese und die Kontinuität vor allem nationalstaatlich verräumlichter sozialer Begrenzungen, Trennungen und Stratifikationen, andererseits darauf, wie diese Prozesse sich in neuen Entwicklungen verstärkt auch supra- und substaatlich organisiert zeigen. Impliziter ‚Marker’ dieser Prozesse ist dabei in den meisten Beiträgen des Bandes der mehrheitsgesellschaftliche Umgang mit „Fremden“, mit Migrantinnen und Migranten, an Grenzen und außerhalb und innerhalb von ihnen. Das zugrundeliegende Grenzverständnis der Bandes ist geprägt vom sozial- und ökonomiehistoriographischen Hintergrund der Autorinnen und Autoren. Die zentralen Kategorien sind dabei nationale und globale Ökonomie und Staatlichkeit. Die Beiträge überspannen einen zeitlichen Horizont, der vom Mittelalter zur Gegenwart reicht (mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem 20. Jahrhundert) und einen räumlichen Horizont, der Grenzen auf vier Kontinenten untersucht. In einem den Beiträgen vorangestellten systematisierenden Aufsatz zeichnen Becker und Komlosy einerseits eine Entwicklungsgeschichte der Grenze an sich nach und nehmen andererseits eine Typologisierung vor. Besonders gelungen erscheint hierbei die Analyse des „Eisernen Vorhangs“, da dieser weniger als ideologische Konfliktlinie konkurrierender Systeme, sondern als konstruierte Kultur- und faktische Wohlstandsgrenze historisiert wird.
Generell betonen Becker und Komlosy den hohen Homogenisierungsdruck, der innerhalb aller Grenzen herrscht, nach Außen wirkt und sich vor allem in rigiden Exklusionspraktiken äußert. Bekommen die Leser und Leserinnen des Bandes bis zu dieser Stelle sehr viel politische Ökonomie der Staatlichkeit und dazu vergleichsweise wenig ‚Grenze’ geboten, so ist die Analyse in den folgenden Beiträgen enger am eigentlichen Thema. Vor allem vier methodisch komparative Aufsätze zeigen, wie produktiv sich der Vergleich in der Grenzforschung einsetzen lässt.
Hans-Heinrich Nolte vergleicht in seinem Beitrag mit der mittelalterlichen deutschen Ostgrenze, der frühneuzeitlichen russischen Südgrenze und der neuzeitlichen amerikanischen Westgrenze drei ‚Frontiers’, drei expansive Besiedlungsgrenzen. Da weder Ort noch Zeit dabei konstant sind, richtet er sein Augenmerk auf strukturelle und funktionale (Un-)Ähnlichkeiten und den Wandel eines bestimmten Typs von Grenze. Als gemeinsame Merkmale identifiziert Nolte die Saumförmigkeit der Grenze, spezifische Ideologien der Superiorität, konkrete strategische Siedlungsinteressen verbunden mit militärischer Durchsetzungsmacht und die überdurchschnittlich hohen sozialen Aufstiegschancen der Grenzpioniere. Die zentrale These des Autors ist, dass aufgrund von starker Bevölkerungszunahme, von technischem Fortschritt und gesellschaftlichen Vorstellungen von ‚Reinheit’, eine Radikalisierung im Umgang mit den Menschen erfolgte, die dem Frontierprojekt durch ihre bloße Existenz im Wege gestanden haben. Mit der Habsburgermonarchie und dem Osmanischen Reich vergleichen Joachim Becker und Ash E. Odman synchron zwei jeweils im Inneren in hohem Maße kulturell divergente Reiche, die verfallend aus dem Ersten Weltkrieg hervorgingen. Die Grenzen der entstandenen ‚Zerfallsprodukte’ waren entlang der ehemaligen administrativen und kulturellen Binnengrenzen organisiert und maßgeblich von den Siegermächten beeinflusst. Diese rekurrierten auf Ethnizitätskrititerien, schränkten diese aber, wenn es strategisch geboten erschien, durch andere Grenzziehungen ein: Einerseits, um die Verlierer des Ersten Weltkriegs schwächen zu können und andererseits, um den Kommunismus einzudämmen.
Ebenfalls von der Habsburgermonarchie geht Andrea Komlosy aus, wenn sie diese hinsichtlich der Grenzregulation diachron zur Europäischen Union in Beziehung setzt und sich dabei auf eine wegweisende frühere Arbeit stützen kann 2. Entgegen den Vorstellungen von großer Freizügigkeit bezüglich Migration vor 1914 und nach 1989, streicht Komlosy die jeweiligen sozialen Bedingtheiten und Einschränkung dieser ‚Freizügigkeit’ heraus. Im Grenzbildungsprozess macht sie bei beiden multinationalen Einheiten eine relative Verschiebung der Bedeutung von den ökonomisch teilweise dysfunktional gewordenen Binnen- hin zu den Außengrenzen aus – gipfelnd im jeweils „fortifikatorischen Charakter“ der Grenzsicherung. Sollte in der Habsburgermonarchie allerdings vor allem Binnen- und Auswanderung kontrolliert und gegebenenfalls verhindert werden, richtet sich in der EU das Regulationsinteresse auf die Einwanderung.
Einen Vergleich auf anderer Ebene unternimmt Helga Schulz, wenn sie durch nationalstaatliche Grenzen geteilte Städte in Europa untersucht, zum Beispiel Gorizia/Nova Gorica, Görlitz/Zgorzelec oder Komárno/Komárom. Von 60 solcher Orte, entstanden zumeist in Konflikten, für Schultz aber auch „Laboratorien der europäischen Integration“, unterzieht sie 20 einer genaueren vergleichenden Betrachtung. Der systematischen Unterscheidung von konkurrierenden Städtepaaren und kooperierenden Doppelstädten folgend, kommt sie zu dem Schluss, dass in der historischen Entwicklung eine Verschiebung von Konkurrenz zu Kooperation stattfand, als eine Zunahme von grenzüberschreitenden Interaktionen. Gemeinsam ist diesen Städten vor allem eine relative wirtschaftliche Marginalität, Asymmetrien in Ressourcen und Infrastruktur und eine geringe Größe.
Weitere Beiträge konzentrieren sich auf jeweils eine Grenze. So wendet Henning Melber die neomarxistische Staatstheorie Nicos Poulantzas – und vor allem dessen Vorstellung einer „Raummatrix“, mittels derer der Staat das Soziale ordnend und kontrollierend verräumlicht – auf die koloniale Grenzbildung und die postkoloniale Grenzentwicklung am Beispiel Namibias an. Karen Imhof steht mit der Grenze zwischen den USA und Mexiko vor dem Problem der bestbeforschtesten Grenze bezüglich der Frage peripherer Ökonomie, Grenzregime und Migration 3. Der von ihr gewählte Erklärungsansatz begnügt sich allerdings nicht, wie viele Untersuchungen zum Thema, damit, die Migration mit Wohlstandsgefälle und Ketten- bzw. Netzwerkmigration zu erklären, sondern bezieht diese Phänomene selbst auf das nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) und die dadurch bedingte Erosion bisheriger Produktions- und Reproduktionsmuster in Mexiko.
Ebenfalls unter dem Paradigma des Kolonialismus durch Siedlung und Grenzbildung brandmarkt Victoria Waltz ausgesprochen einseitig den Prozess der israelischen Staatswerdung und die nachfolgende Politik. Ausgehend von einer scheinbar überzeitlichen palästinensischen Entität beschreibt sie diese als Opfer imperialer Strategien erst britischer dann jüdischer Eroberung. Der Krieg von 1948 gerät ihr zu einem reinen israelischen Vertreibungsfeldzug, durchgeführt durch eine angeblich bestens ausgerüstete imperiale Eroberungsarmee. In ihrer Chronologie von moralisch illegitimer Landnahme durch Gewalt oder raumplanerische Winkelzüge, können schließlich Mauer/Zaun des aktuellen Konfliktes nicht auch als Schutz der Israelis vor Attentaten und Anschlägen gesehen werden, sondern ausschließlich als Instrument totaler Unterwerfung. Hannes Hofbauer untersucht Grenzen als Ergebnis des jugoslawischen Staatszerfalls. Bildet für ihn die krisenhafte jugoslawische Ökonomie die Basis von Desintegration und schließlich Zerfall, waren die Linien, an denen die Brüche vollzogen wurden, geprägt von einer Mischung hegemonialer Bestrebungen westlicher Mächte, anknüpfend an alte Bündnisse, Abhängigkeiten und Ressentiments. Hofbauer zeigt auf, welche hohe symbolische Bedeutung Grenzen und ihren Insignien in den Kriegen und Konflikten um die neue territoriale Ordnung zukam. Eine andere Art territorialer Desintegration und Grenzbildung untersuchen schließlich Joachim Becker und Paola Visca, wenn sie monetäre Grenzen betrachten. Dollar, Peso und etliche regionale Behelfswährungen bildeten während der letzten Staats- und Wirtschaftskrise Argentiniens jeweils in bestimmten Territorien Räume von Gültigkeit, Verbreitung und Austausch.
Der Sammelband zeigt seine Stärken generell in seinen konsequent kritischen sozial- und ökonomiegeschichtlichen Zugängen, in einer konzentrierten klaren Konzeptionalisierung von Grenze und verweist damit implizit auf zwei relevante Mankos innerhalb der im deutschen Sprachraum eher kulturwissenschaftlichen Borderstudies 4. Dort nämlich herrscht ein eher assoziativer, oft metaphorischer Grenzbegriff und eine Selbstbeschränkung auf das Feld kollektiver Identität und Alterität vor. Der Band ist dabei sehr um Systematisierung bemüht und herausgeberisch eng geführt. Joachim Becker und/oder Andrea Komlosy sind an fast der Hälfte der Beiträge zumindest beteiligt. Die Nachteile des gewählten Zugangs liegen auf der Hand. Neben dem streckenweise recht hemdsärmeligen Antiimperialismus ist es vor allem ein bestimmter Schematismus der Betrachtung der die jeweiligen Grenzen teilweise recht unscharf lässt. Untersuchte Phänomene werden in der Regel zügig auf ihre materialistische Basis heruntergebrochen, bei konsequenter Unterbelichtung von Grenzideologien und Identitäten einerseits und einem gewissen strukturellem Desinteresse an der „Grenze vor Ort“ (von Rahden), an den genauen Mechanismen grenzregionaler (Des-)Integration, Grenzökonomien, Grenzerfahrungen, Grenzüberschreitung oder konkreter Grenzsicherung. Gerade bei der Betrachtung dieser Felder hätte das analytische Potenzial der Autorinnen und Autoren sicherlich weitere fruchtbare Ergebnisse liefern können.
Anmerkungen:
1 Bhabha, Homi K., The Location of Culture, London 1994. Gómez-Pena, Guillermo, The New World Border. Prophecies, Poems & Loqueras for the End of the Century, San Francisco 1996.
2 Komlosy, Andrea, Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt und Migration in der Habsburgermonarchie, Wien 2003.
3 Z.B.: Massey, Douglas, The New Area of Mexican Migration to the United States in: The Journal of American History 86(1999)2, S. 518-536.
4 Görner, Rüdiger; Kirkbright, Susanne (Hgg.), Nachdenken über Grenzen, München 1999. Bauer, Markus; Rahn, Thomas (Hgg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997. Faber, Richard; Naumann, Barbara (Hgg.), Literatur der Grenze. Theorie der Grenze, Würzburg 1995.