« Böse Menschen haben keine Lieder », heißt es im deutschen Volksmund. Wo kommen dann die bösen Lieder her? Sie entstehen z. B. wenn sich die Völker bekriegen. Dabei sind Soldatenlieder nicht unbedingt Kriegslieder. Dieses glückliche Paradoxon dokumentieren die hier von F. Genton gesammelten Beiträge. Der Band geht auf ein Kolloquium zurück, das im November 2003 an der Université Stendhal-Grenoble 3 veranstaltet wurde, und bei dessen Anlass ein deutsch-französisch-russischer Liederabend stattfand. Die Popularität eines Gegenstands macht ihn allzu oft verdächtig, und ihm wird dann von der Forschung der Stempel des Trivialen aufgedrückt. Dabei sind, um wie Herder zu sprechen, die Stimmen der Völkern in Liedern, eine der lebhaftesten Quellen zum Studium de Geschichte. Die Sammlung, die im Andenken des 2003 verstorbenen Chanson-Forscher Marc Robine steht, ist chronologisch angelegt: Sie setzt mit der Zeit der französischen Religionskriege an (Stéphane Gal, « La chanson pendant les guerres de Religion ») - als Gegenstück dazu hätte man sich allerdings einen Beitrag über Luthers Lied Ein feste Burg ist unser Gott gewünscht, das später als « die Marseillaise des 16. Jahrhunderts » bezeichnet wurde - und wird mit dem Aufkommen des deutschen antifranzösisch gefärbten Nationalismus fortgesetzt (Karlheinz Fingerhut, « Les chansons de guerre allemandes de la fin du XVIIIe siècle »), dem sowohl die internationale Rezeption der Marseillaise (Hervé Luxardo, « Les aventures nationales et internationales de la Marseillaise ») als auch Heines scharfe Kritik an der Deutschtümelei der Tendenzdichter (Lucien Calvié, « Chants guerriers et patriotiques en Allemagne de la fin du Saint-Empire au Vormärz ») das nötige Pendant bildet. Die meisten Beiträge beschäftigen sich erwartungsgemäß mit dem 20.Jahrhundert. Es werden zunächst Werke behandelt, deren damaliger Erfolg in krassem Gegensatz zu ihrer heutigen Vergessenheit steht. Dies betrifft vor allem die revanchistischen Lieder, die in Frankreich zwischen 1871 und 1914 entstanden sind (Yves Rassendren, « La chanson nationaliste de 1871 à 1914 ») und all die Chansons, die von den Soldaten des 1. Weltkrieges gesungen wurden. Ihnen sind zwei Beiträge gewidmet (Eberhard Demm, « La chanson française de la Première Guerre mondiale »; Claude Ribouillault, « L'art chansonnier des poilus de la Grande Guerre... »). Dieser bisher kaum erschlossene Riesencorpus - das Archiv der Zensur in Frankreich enthält allein ca. 50 000 Chansons, weitere Quellen stammen aus Schützengrabenzeitungen, Liederheften, Flugblättern, Postkarten, usw. - gewährt einen unverblümten Einblick in den Militäralltag und stellt zweifelsohne ein wichtiges Bruchstück des verschütteten Kollektivgedächtnisses dar. Mit dem Thema Erfolg und Vergessenheit beschäftigt sich der Beitrag von François Genton « Quand Madelon et Lili Marleen », der zwei Lieder behandelt, die dem Krieg ihren Ruhm zu verdanken haben. Während jedoch das erste, ein mitreißendes Chanson, das die Lust der Soldaten auf Wein und Frauen stillen sollte und heute nur noch als Fanfarenmusik weiterlebt, die französische Grenze nie überschritten hat, ist Lili Marleen deshalb zu einem Welterfolg geworden - den Nationalsozialisten zum Trotz bei « Freund und Feind » -, weil es die Nöte und Sehnsüchte des « modernen » Soldaten schlechthin auszudrücken wusste. Dass überhaupt Soldaten am liebsten alles andere als Kriegs- bzw. Propagandalieder anstimmen, zeigt der Beitrag von Ludmila Kastler « Quand les canons et les muses parlent en même temps », der die Lieder der Rotarmisten während des « Großen Vaterländischen Krieges » behandelt. Am populärsten waren damals Lieder wie Katjuscha, das eigentlich von der Liebe eines Mädchens zu einem Grenzsoldaten spricht, in dem aber vor allem die russische Natur auf lyrische Weise gepriesen wird. Gerade Popularität lässt aufhorchen, denn sie ist zugleich Hinweis auf mögliche Mythenbildung: Dies betrifft z. B. das Lied Die Moorsoldaten, das gleichsam, in mehrere Sprache übersetzt - auf französisch heißt es Le Chant des Marais -, zur internationalen Hymne de KZ-Häftlinge geworden ist. Der Beitrag von Renate Overbeck « Les chansons de résistance dans les camps de concentration » untersucht mit Akribie die Entstehung und Verbreitung des zum ersten Mal 1933 im KZ Börgermoor gesungen Textes. Auch die sozialen Kriege haben eine Unmenge Lieder hervorgebracht: Für den Reichtum des österreichischen Arbeiterliedguts, zu dem nicht nur heute unbekannte Verfasser, sondern weltberühmte Komponisten wie Arnold Schönberg, Anton Webern und Hanns Eisler beigetragen haben, zeugt die Untersuchung von Herta Luise Ott « Le chant ouvrier autrichien jusqu'en 1934 ». Als Instrument des politischen Kampfes wurden aber Lieder immer wieder umfunktioniert, d. h. mit mehr oder weniger Erfolg vom Gegner parodiert: Dies dokumentieren die Beiträge von Wilhelm Schepping « De la critique du régime et de la guerre dans les chansons allemandes de l'époque hitlérienne » und von Jean Mortier « Comment les nazis ont récupéré, en les détournant, les chants ouvriers ». Ein Meister der politischen Satire durfte also hier nicht fehlen: Dem Liedermacher Wolf Biermann, dessen früherer Pazifismus auf das Trauma der Bombenangriffe auf Hamburg zurückgeht, und der seit den neunziger Jahren für die amerikanische Intervention in der Golfregion die Trommel rührt, widmet Christian Klein den Beitrag « Guerre et paix dans les chansons de Wolf Biermann de 1960 à 1972 ». Und dass manche Lieder den Krieg nicht direkt und eindeutig behandeln, sondern auch konnotiert, bzw. kodiert sein können, veranschaulichen dir Beiträge von Nathalie Dompier über die Verdrängung der französischen Niederlage von 1940 (« La défaite ne se chante pas ») und von Alexandru Melian über den verborgenen Sinn der rumänischen Nationalhymne (« Les connotations d'un hymne national »). Aber manche Lieder leben ja gerade von Missverständnissen. Am Ende von Fassbinders Film Lili Marleen irrt eine Gruppe deutscher Soldaten an der Ostfront herum, vom Verfasser des Liedes angeführt, bis sie sich voller Zuversicht einer Stellung nähert, aus der die berühmte Melodie erklingt, dann aber MG-Feuer dringt: « Russen...», sagt der sterbende Komponist. « Tout finit par des chansons », heißt es im französischen Volksmund: auch ein tragisch-absurdes Ende kann eine optimistisch-humane Lektion/ und eine gewisse Weisheit enthalten.