Zwar ist „‚Solidarität’ [...] ein Schlüsselbegriff soziologischen Denkens“ wie die Herausgeber dieses Bandes konstatieren (S. 9), doch zugleich sind für Herfried Münkler „Begriff und Idee der Solidarität das Stiefkind [...] der Gesellschaftstheorie“ (S. 15). Damit ist eine Schwierigkeit bezeichnet, die sich nach einem Blick auf das Themenspektrum des vorliegenden Bandes erst recht erschließt. Es spannt sich von den Folgen der Globalisierung für die sozialstaatlich garantierten Solidarsysteme über die dadurch aktualisierten subsidiären Instanzen der Familie, aber auch des „Dritten Sektors“ zu so unterschiedlichen Formen sich ausbildender transnationaler Solidaritätsverhältnisse und -netzwerke wie Völkerrecht, Nichtregierungsorganisationen, bewaffnete Gruppen und islamische Netzwerke und endet bei der Frage, wie unter Bedingungen der Globalisierung gesellschaftlicher Zusammenhalt oder „soziale Ordnung“ organisiert und garantiert werden kann. Die Vielfalt der Themenstellungen kann hier nur angedeutet werden. Die Beiträge verweisen jedoch zugleich auf begriffliche und theoretische Fragen, deren Bedeutung auch für die weitere Diskussion eine ausführlichere Auseinandersetzung rechtfertigen dürfte.
Ein grundlegendes Problem, das meist eher implizit den Band durchzieht, ist der Begriff der Solidarität selbst. Dabei besteht eine Schwierigkeit darin, dass explizite begriffliche Bestimmungen hier rar sind und erst recht eine Debatte über die eigentlich unvermeidlich kontroversen Definitionen von Solidarität kaum geführt wird – die dem Band zugrundeliegende Tagung hätte eigentlich deutlich machen müssen, wie nötig das wäre. Der Begriff wird zum einen u.a. auch von den Herausgebern auf Altruismus im Interesse einer Gruppe und auf Brüderlichkeit bezogen und geradezu in Gegensatz zu Reziprozität, d.h. zur Erwartung einer Gegenleistung gesetzt. Daneben steht die ebenfalls auf Gruppen bezogene Pflicht zu vor allem staatlich vermittelter Solidarität, wo Claus Offe eine breiter werdende „Lücke“ zwischen „der Reichweite geteilter Identitäten, Werte und Normen“ und jener „von wahrgenommenen Interdependenzen“ erkennt, die dazu tendiert, „die operativen Solidaritätspotentiale“ eher zu verengen (S. 49). Andererseits betont Franz-Xaver Kaufmann entgegen dem an einer bestimmten Tönnies-Rezeption orientierten soziologischen common sense, dass „explizite Solidaritätsdiskurse [...] überhaupt erst in [...] anonymen Sozialzusammenhängen handlungsrelevant“ werden (S. 56), also gerade nicht auf ‚gemeinschaftliche’ Nähe orientiert sind, dass daher nicht „Solidaritätsverlust“, sondern eine „Vervielfältigung der Solidaritätshorizonte“ (S. 67) ein Problem für die auch auf Umverteilung beruhende „sozialstaatlich vermittelte Stabilität“ darstellt, die jedoch „selbst ein Standortvorteil im internationalen Wettbewerb sein“ kann (S. 67). Hier kommt es also gerade auf die Reziprozitätsbeziehung an. Ilona Ostner wiederum diskutiert Solidaritätsformen vor allem zwischen Generationen im Nahbereich der Familie, während Helmut K. Anheier und Mattias Freise den Begriff einfach „durch ehrenamtliches und freiwilliges Engagement“ bestimmt sehen (S. 113). Bezogen auf internationale Abkommen rückt auch Christian Tomuschat „uneigennützige Erwägungen“ (S. 138) in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, die auf eine Spannung zwischen fehlender Verrechtlichung und faktisch verpflichtenden, im „Alltag“ verwurzelten Strukturzusammenhängen „kooperativer Solidarität“ (S. 146) auf internationaler Ebene hinweisen. Ähnlich sieht Heike Walk das Engagement von NGOs „für Themen, die weder durch eigene Betroffenheit noch durch unmittelbare Interessen geprägt sind“ (S. 177), während Katrin Radtke und Klaus Schlichte für die Unterstützung bewaffneter Gruppen durch Emigranten in der „Diaspora“ „widersprüchliche Elemente der Solidarität“ (S. 182) erkennen, die sie im Rahmen einer „moralischen Ökonomie“ auf „soziale Bindungen mit den Gleichursprünglichen“ zurückführen (S. 183), und deren Hilfsnetzwerke sich in Zwangsapparate zur Erpressung von Abgaben transformieren lassen. Weiter verweisen Radtke & Schlichte auf die Geschichte internationaler Unterstützung für bewaffnete Bewegungen, aber auch auf die französische Afrika-Politik, die sie jenseits vordergründiger Interessen als Ausdruck „transnationale[r] klientelistische[r] Netzwerke“ (S. 189) sehen. Soweit erscheint der Begriff der Solidarität als widersprüchlich und heterogen, und es bleibt Reinhard Schulze vorbehalten, zu Beginn seines höchst instruktiven Beitrags über islamische Solidaritätsnetzwerke das dringend Notwendige zu leisten: eine eingehendere Diskussion, die auch die Begriffsgeschichte berücksichtigt – hier nicht nur im okzidentalen, sondern auch im arabischsprachigen Raum. Dabei ergeben sich Spannungen zwischen einer deskriptiven und einer „selbstreferentiellen“ (S. 195), häufig emphatisch politischen Bedeutung, die in der Regel jedoch „mitgedacht“ wird (S. 200). Dennoch bleibt für den westlichen wie den arabischen Diskurs diese Unterscheidung wesentlich. In der abschließenden Diskussion zwischen Jürgen Habermas, Rudolf Stichweh und Johannes Berger dominiert dann erneut die Dimension der gesellschaftlichen Integration mit der Frage, ob und wie ‚Solidarität’ auf Weltebene oder etwa innerhalb der EU vorstellbar oder auch funktional sei.
Damit ist der angesprochene Themenkreis keineswegs erschöpft, m.E. aber ein entscheidendes Problem benannt, das sich ähnlich auch für den zweiten zentralen Begriff, den des „Transnationalen“ aufzeigen ließe. Auch hier scheint es zuweilen, als solle es um Beziehungen außerhalb staatlicher Grenzen gehen, die die Ebene der Nation über-, evt. auch unterschreiten, wobei selten klar zwischen den beiden wesentlichen immer wieder herangezogenen, auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Paradigmen der EU und der UN unterschieden wird. Am Beispiel der Diaspora zeigt sich jedoch, wie wenig realitätsadäquat ein solches Modell (noch) ist, das letztlich den modernen Nationalstaat in der Perspektive des unter dem Gesichtspunkt der Globalisierung kritisierten „Container“-Modells oder gar der „‚Blutsbande’ nationalstaatlich verfasster Gesellschaften“ (S. 224; Streeck) als Referenzpunkt beibehält. Im Fall der im Gefolge von Migrationsprozessen entstandenen Unterstützungs- und Mobilisierungsmechanismen werden dezidiert nicht-staatliche Kollektividentitäten aufgerufen oder meist neu geschaffen und umgeformt, die freilich dennoch partikular, nämlich ethnisch – und gerade nicht national – definiert sein können. Umgekehrt funktionieren familiale Solidarität, die von Steffen Sigmund dargestellte Stiftungstätigkeit oder der Dritte Sektor wenigstens in der in diesem Band eingenommenen Perspektive im Rahmen des Nationalstaates.
Spätestens hier rückt der Terminus „Zivilgesellschaft“ ins Blickfeld, etwa bei Anheier und Freise geradezu als sozialer Ort für die „Herausbildung von Solidarität“ in „neo-tocquevillescher“ Perspektive (S. 113), wobei sich jedoch verstärkt die Frage der Grenzen eines solchen Zusammenhangs und der daraus sich ergebenden Verpflichtungen oder Identifikationen stellt. Habermas, Stichweh und Berger konvergieren in der Annahme, auf Weltniveau sei (allenfalls) eine schwache Solidarität, etwa in Form der universellen Anerkennung von Menschenrechten und ihrer Garantie durch die UN vorstellbar. Diese zunächst eingängige These erweist sich freilich als Sprengsatz unter diesem Argumentationsgebäude, wenn man auch nur die gesamte Bandbreite der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einschließlich der sozialen Rechte und des in Artikel 28 verbrieften Rechtes auf eine gerechte Weltordnung ins Auge fasst und erst recht, wenn man mit Tomuschat das Recht auf Entwicklung ernst nimmt (vgl. S. 141f.). Dann rückt nämlich die globale Ungleichheit, die im Zuge des aktuellen Globalisierungsschubs deutlich angestiegen ist, ins Blickfeld der Überlegungen.
Damit ist ein tiefer Widerspruch zwischen den weitgehend auf Nationalstaaten des industriell entwickelten Westens bezogenen Analysen des vorliegenden Bandes und einem gesellschaftlichen Weltzusammenhang bezeichnet, der nur schlaglichtartig immer wieder aufscheint, etwa, wenn Offe weltweite Krisen aufzählt, ohne die für den Westen brisante Flüchtlingsproblematik zu erwähnen (vgl. S. 47f.). Tomuschat bezeichnet sodann „die Fürsorge für die Flüchtlinge“ als „die edelste Blüte internationaler Solidarität“ (S. 140), ohne dass irgendwo reflektiert würde, was dies angesichts der Grenzregime im Mittelmeer oder am Rio Grande und anderswo bedeutet. Wenn in der Abschlussdiskussion „Botswana“ als Paradigma für ein Land hergenommen wird, in dem Frauen gesteinigt werden (S. 273, 276f.), so ist die offenkundige Verwechslung mit Nigeria als Diskriminierung symptomatisch: Niemand würde es wagen, die Behauptung drucken zu lassen, die Corrida finde in Helsinki statt. Systematischer zeigt sich Eurozentrismus, wenn Stichweh sich umstandslos auf westeuropäische Rechtstraditionen als Grundlagen des „Bewusstsein[s] der Menschheit von ihrer Zusammengehörigkeit“ (S. 240) beruft, offenbar ohne zu bedenken, dass dies etwa aus der Sicht ostasiatischer Denktraditionen anders aussehen könnte.
Der Grundbegriff der Solidarität ist so im vorliegenden Band insbesondere auch von den Herausgebern nicht ansatzweise expliziert und bleibt im Hinblick auf die Einzelbeiträge widersprüchlich. Diese Spannung könnte fruchtbar gemacht werden, wenn sie expliziert würde. Leider haben die Herausgeber auf eine derartige kritische Diskussion verzichtet. Dennoch zeigt dieser Band, dass das spannungsreiche Verhältnis zwischen gegenseitigen Abhängigkeiten oder anders, Funktions- und Wirkungszusammenhängen einerseits und zwischen kollektiven Identitätskonstruktionen andererseits weit sorgfältigerer Ausarbeitung bedarf. Durkheim hat dazu mit der nicht nur und nicht in erster Linie in evolutionärer Perspektive zu verstehenden Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität eine bedenkenswerte Ausgangsbasis geschaffen. Es muss irritieren, dass dies im vorliegenden Band an keiner Stelle aufgegriffen wurde.
Wenn in der Abschlussdiskussion Rainer Lepsius auf das höchst problematische Verhältnis zwischen „Solidaritätskonstruktionen“ und „Nationalbewusstsein“ zumal in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts verweist (S. 271f.), so bezeichnet er mit unterschiedlichen Spielarten des Nationalismus nicht nur eine Lücke in der Auseinandersetzung mit der Frage der Solidarität – und zugleich ein virulentes Problem des Nationalstaates. Er unterstreicht zugleich das begriffliche Problem noch einmal nachdrücklich: Es geht um die Klärung eines widersprüchlichen und in seiner Ausfächerung vielfältigen sozialtheoretischen Grundbegriffs, für die dieser Band wichtiges Material bereit stellt, aber kaum Schritte auf Lösungen hin anbietet.