Diskurse zu Indien sind bisher meist westlich geprägt. Der westliche Universalismus beherrscht auch den Diskurs der indischen Intellektuellen. Er konstituiert den Fluchtpunkt der „Modernität“, nach dem sich die sozialwissenschaftliche Perspektive richtet. Andere Sichtweisen erscheinen als „verzerrt“, Sie werden allenfalls als traditionsverhaftet eingeordnet, denn „Tradition“ ist partikular und rückwärtsgewandt und steht daher im Gegensatz zum Universalismus der Moderne.
Der vorliegende Sammelband, von dessen 22 Autoren 17 aus Indien stammen, ist diesem Dilemma der Diskurse zu Indien gewidmet. In der Einleitung plädieren die Herausgeber für eine kosmopolitische Reorientierung der Soziologie. Für sie bedeutet „kosmopolitisch“ eine Berücksichtung anderer Perspektiven als der des westlichen Universalismus. Das schließt auch ein neues Verständnis der „Tradition“ ein, die in ihrer Vielfalt und Wandelbarkeit betrachtet werden muss. Sudhir Chandra und Tapankumar Raychaudhuri thematisieren indische Auseinandersetzungen mit der eigenen Tradition in ihren Beiträgen, die am Anfang des Bandes stehen. Sudhir Chandra spricht dabei von der „Wiedergewinnung einer Welt, die unsere bleibt, ungeachtet der Tatsache, dass sie uns intellektuell fast verloren gegangen ist“. Das ist bei ihm jedoch nicht ein Streben nach einer Ideologie des Neo-Traditionalismus, sondern ein Bemühen um Selbstverständnis in einer „bedrückenden Gegenwart“. Raychaudhuri untersucht in diesem Sinne den Wandel religiöser Empfindungen im Bengalen des 19. Jahrhunderts, dessen Bildungselite vom zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl der britischen Kolonialherren herausgefordert wurde. Die Auseinandersetzung mit dieser Herausforderung regte zur Selbstbehauptung an und führte keineswegs zu einer unkritischen Übernahme westlicher Maßstäbe. Raychauduri betont die katalytische Wirkung der Begegnung mit westlichem Denken.
Im unabhängigen Indien hat sich diese Herausforderung verstärkt, obwohl die Kolonialherrschaft überwunden worden ist. Sudipta Kaviraj, der ein geradezu seismographisches Gespür für die Veränderung indischer „Diskurse“ hat, berichtet in seinem Beitrag („Religion, Politik und Moderne“) über die jüngste Zeit, entdeckt aber dort keine katalytischen Effekte, sondern eher ein Auseinanderdriften der Diskurse. Er konstatiert, dass die indische Politik „ seit den 1960er Jahren eine massive Veränderung in Stil, Sprache und Verhaltensweisen erlebt, die ... die kulturellen Vorstellungen der ländlichen indischen Gesellschaft reflektiert...“. Diese weichen stark von denen der indischen Elite ab, die zu Nehrus Zeiten die Macht ererbte, sie aber nicht dazu nutzte, etwa durch Gestaltung und Intensivierung der Grundschulbildung ihre Vorstellungen der breiten Masse der Bevölkerung zu vermitteln.
Neben dem sich machtvoll in den Vordergrund drängenden „Diskurs“ der ländlichen Gesellschaft, gibt es in Indien auch noch den „Diskurs“ der vielfach fragmentierten tribalen Gesellschaft, dem Suresh Sharma seinen Beitrag über „Tribale Identität und die moderne Welt“ gewidmet hat. Mit rund acht Prozent Anteil an der indischen Bevölkerung haben die Stammensangehörigen heute eine Gesamtzahl von rund 80 Millionen. Sie wurden von der „verkasteten“ bäuerlichen Gesellschaft schon immer ausgegrenzt und allenfalls als landlose Landarbeiter ausgebeutet. Der importierte Diskurs der Moderne ordnet sie als „Überbleibsel“ vergangener Zeit ein. Der moderne Staat hat die Eigenständigkeit der Stämme als „scheduled tribes“ gesetzlich anerkannt, aber ihre Rechte auch oft genug missachtet, wenn es darum ging, Staudämme zu bauen, oder das Stammesland aus anderen Gründen vom Staat beansprucht wurde.
Außer den Stammesangehörigen haben auch die Unberührbaren (scheduled castes) einen prekären Sonderstatus in der indischen Gesellschaft. Ihre Gesamtzahl ist mit schätzungsweise 300 Millionen noch größer als die der Stammensangehörigen. Sie haben in jüngster Zeit einen eignen Diskurs begründet und sich als Dalits (die Gebrochenen) bezeichnet. Es gibt sogar bereits eine eigene von Dalits geschriebene Literatur, und es gibt besondere politische Parteien, die sich anheischig machen, ihre Interessen zu vertreten. Der vorliegende Sammelband gibt keinen Einblick in diese Probleme. Die Dalits werden nur im Schlusskapitel kurz erwähnt. Dort geht es um ihre religiösen Optionen. Sonst wird über die Artikulation ihres Selbstverständnisses nicht berichtet. Wenn man an dieser sonst so umfassenden Darstellung der „Diskurse über Indien“ Kritik üben will, dann kann man auf diesen Mangel hinweisen. Auch Ravi Ahuja geht in seiner kritischen Bestandsaufnahme der indischen Arbeitsgeschichte, einem der besten Beiträge des Bandes, nur sehr kurz auf die Unberührbaren als Bergarbeiter in den Kolar Goldfields ein. Das ist freilich auch darauf zurückzuführen, dass Arbeitsgeschichte hier lediglich als Geschichte der Industriearbeit verstanden wird, während die Arbeitsgeschichte der Unberührbaren eher die Landarbeit betrifft. Im Gegensatz zu Max Webers Prognose zur Proletarisierung in Indien, die eine Massenwanderung der Unberührbaren vom Land in die Industrie beinhaltete, konnten diese der abhängigen Landarbeit meist nicht entkommen.
Es ist unmöglich, die große Zahl der anderen Beiträge zu diesem Sammelband in einer Rezension angemessen zu würdigen. Abschließend soll nur noch auf das Schlusskapitel von Martin Fuchs eingegangen werden, der an die „Diskurse über Indien“ ein Plädoyer für eine multiperspektivische Soziologie anschließt. Er wendet sich gegen die bisherige soziologische Modellbastelei, aber auch gegen den Kulturvergleich. Der Vergleich, den er tadelt, ist der kontrastierende Vergleich, der die westliche Moderne unausgesprochen als Norm akzeptiert und diese auf den fremden Vergleichsgegenstand projiziert. An die Stelle der „Fremdanalyse“ möchte er eine interaktive und interkulturelle Hermeneutik setzen. Er versucht, Max Weber für diesen Ansatz zu reklamieren, obwohl er gemeinhin als Vertreter der „Fremdanalyse“ gesehen wird. Dabei zeigt er auf, dass Weber nicht normativ urteilte, sondern dass sich die Bestimmung des Eigenen bei ihm aus rekursiven Explorationen anderer Konstellationen entwickelte. Gerade die Unsicherheiten bei Webers Bewertung Indiens zeigen für Fuchs die Kreativität seiner Explorationen an. Man sollte also Webers Methode folgen, seine Schlussfolgerungen aber nur bedingt akzeptieren. Die Hermeneutik Gadamers, die Fuchs ebenfalls erwähnt, hat den Nachteil, dass der von Gadamer betonte „wirkungsgeschichtliche Zusammenhang“ das „Fremde“ nicht einschließen kann. Wenn nun aber demgegenüber die „radikale Differenz“ der Kulturen betont wird, lehnt Fuchs auch das als einen Holzweg ab. Letztlich wendet er sich einem groß angelegten Kulturvergleich zu, den der amerikanische Indologe Sheldon Pollock skizziert hat. Pollock stellt die „Latinität“ der römischen Eroberer dem „Sanskrit“ der Brahmanen gegenüber. Beide haben eine „Vernakularisierung“ erfahren, die in Regionalsprachen und -literaturen und in verschiedenen Formen sozialer Praxis ihren Ausdruck gefunden hat. Der Einfluss der Römer war sozusagen „imperativ“, während das Angebot der Brahmanen eher „konjunktivisch“ wirkte. Hier könnte ein neuer „Diskurs über Indien“ beginnen, der über die in diesem Sammelband vorgestellten Diskurse hinausführt.