Im „Lexikon Linker Leitfiguren“ (Frankfurt am Main 1988) wird Charles Robert Darwin (1809-1882), der Begründer der Evolutions- und Selektionstheorie, in einem Beitrag von Gerhard Beier vorgestellt, der eine Spalte und damit ca. 300 Wörter länger ist als der Beitrag von Iring Fetscher über Friedrich Engels. Das mag derjenige für merkwürdig halten, dem bei Darwin vor allem der Begriff „Sozialdarwinismus“ in den Sinn kommt und der damit vielleicht gar die Entstellung der Lehre Darwins in der Form der nationalsozialistischen Rassenlehre verbindet.
In dem vorliegenden Buch von David Stack wird der mitunter engen Verbindung von Sozialismus und Darwinismus im Zeitraum von 1859 bis 1914 nachgegangen. Beide, Sozialismus wie Darwinismus, gehören zu den wichtigsten Ideen des 19. Jahrhunderts.
Die meisten der von Stack untersuchten Sozialisten waren Darwinisten, bevor sie sich in der Politik der Linken engagierten. Dabei betont Stack mehrfach, dass weder Darwinismus noch Sozialismus im 19. Jahrhundert fertige Theorien waren. Zumindest für Großbritannien spricht Stack dem Darwinismus für den Wechsel vom Radikalismus zum Sozialismus eine große Bedeutung zu. Sozialisten versuchten in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Arbeit mit wissenschaftlicher Autorität zu fundieren. Aber das geschah in einem offenen Diskurs sozialistischer und darwinistischer Ideen und nicht in einem nur instrumentellen Verhältnis.
„Darwinism was not simply a useful tool to be picked up or discarded at will. Nor was it simply a convenient cover for an independently constructed political argument. Darwinism was woven into the pattern of late-nineteenth- and early-twentieth-century socialism. The two were so intertwined that it makes no sense to regard one as prior to, or making instrumental use of, the other. The language of Darwinism became, for a time, the language of socialism (S. 3).”
Für die letzte Phase seines Untersuchungszeitraums konstatiert Stack eine Verflachung des darwinistisch inspirierten Diskurses der Linken, teilweise Ergebnis der Professionalisierung der Wissenschaften und teilweise der gewachsenen Autarkie der sozialistischen Bewegung.
Nach 1859, nach der Veröffentlichung von „On the Origin of Species by Means of Natural Selection“, wurde Evolution zu einem wesentlichen Bestandteil sozialistischer Theorie.
Nicht nur, aber besonders, bei James Ramsey MacDonald (1866-1937), einer zentralen Figur der Untersuchung, gipfelt diese Verbindung in einer eigenständigen, vom Liberalismus auf der einen Seite und vom Marxismus auf der anderen Seite geschiedenen Form sozialistischen Denkens, das mit einer organisch-evolutionären Sprache gesellschaftlichen Fortschritt als eine Unvermeidlichkeit apostrophierte.
Eine gewisse Überraschung bietet das, was Stack über Alfred Russel Wallace (1823-1913), den Mitentdecker der auf dem Konzept der natürlichen Selektion basierenden Evolutionstheorie, berichtet. Bei Wallace wird die natürliche Selektion als Argument gegen die Ungleichheit der Rassen eingesetzt. Nach einer Reise nach Malakka kontrastierte er gar die von ihm festgestellte Moralität der Eingeborenen mit dem „social barbarism“ im viktorianischen England. Wallace verband noch in späten Schriften Darwinismus mit Fragen politischer und sozialer Reformen. Sozialismus war für Wallace untrennbar mit Fragen menschlicher Evolution verbunden.
Stacks Ausführungen sind nicht auf die britische Linke, die den Hauptgegenstand der Untersuchung bildet, beschränkt. Längere Passagen der Untersuchung beschäftigen sich mit deutschen Sozialisten, mit Marx, Engels, Kautsky und Bernstein.
Marx und Engels behandelten Darwin trotz dessen auf Malthus basierender Position ernsthaft und mit Sympathie. Stack wendet sich in der Frage der Beziehung von Marx und Engels ausdrücklich gegen Peter Singers Vorwürfe, diese hätten das Konzept einer menschlichen Natur zurückgewiesen. Aber er betont auch, dass ihr Denken von der Darwinschen Theorie unabhängig war; es existierte bereits als voll entwickeltes System vor 1859.
Bernsteins Auffassung der Gesellschaft als eines Organismus half ihm, Klassengegensätze auszublenden, denn innerhalb eines Organismus konnte es nur schwerlich grundsätzlich völlig gegensätzliche Interessen geben. Kautskys früher Darwinismus ist gut belegt.
Da Stack die Auseinandersetzungen innerhalb der deutschen Linken in seine Untersuchung einbezieht, scheint mir folgende Kritik angebracht zu sein: Ein Manko des Buches ist das Auslassen deutschsprachiger Veröffentlichungen aus Debatte und Forschung über das Verhältnis von Sozialismus und Darwinismus. Das betrifft vor allem die Kontrahenten in der Zweiten Internationale. Als Beispiel für die politische Kontroverse sei hier Karl Korsch genannt, der in „Die materialistische Geschichtsauffassung“ (1929) eine Art „Anti-Kautsky“ veröffentlichte. Korsch geht mehrfach auf Kautskys Orientierung an einer von ihm als „Hobbes-Malthus-Darwinsche Kampf-ums-Dasein-Theorie“ bezeichneten bürgerlichen Natur- und Gesellschaftsanschauung ein. Auch die umfangreiche deutschsprachige Forschungsliteratur lässt Stack beiseite, was an fehlenden Deutschkenntnissen liegen mag, aber dennoch eine Lücke hinterlässt. Zu Bernstein und Kautsky liegen bereits ansehnliche Ergebnisse vor.
Stack wendet sich mit seinem Text ausdrücklich gegen Peter Singer und sein Buch „A Darwinian Left“ (London 1999). Weder kann noch will Stack Singers Beschwörung einer unveränderbaren Autorität Darwins, seiner Verabsolutierung des biologischen Arguments, das der Naturalisierung sozialer Beziehungen dient und eine Apologie für Sexismus, Rassismus und Ungleichheit liefert, folgen. Singer möchte den Darwinismus wieder zur Grundlage linker Politik machen und empfiehlt der Linken die Fokussierung auf das Statische und Unveränderliche in der menschlichen Natur; damit, so Stack, würde der Linken die Möglichkeit zur Veränderung ihrer selbst und der Gesellschaft genommen werden.
Die Kritik von Stack an Singers biologistischer Position ist berechtigt. Stacks Buch bietet insgesamt eine Bereicherung der wissenschaftlichen Debatte.