Die Diskussion um die Notwendigkeit, das lange vernachlässigte Verhältnis der Aborigines zu den "weißen" Australiern innerhalb der australischen Geschichtsschreibung zu dokumentieren, scheint spätestens seit den History Wars der 1990er-Jahre erneut entfacht zu sein.1 Im Hinblick auf gegenwärtig zunehmende indigene Forderungen nach dem Erhalt der ihnen gebührenden Landrechte und anhaltenden Kontroversen um eine nötige Aussöhnung von indigener und nicht-indigener Bevölkerung ist festzustellen, dass die Debatte innerhalb der australischen Geschichtswissenschaft um die Darstellung(en) einer geteilten historischen Vergangenheit weiterhin andauert.
Die Auswirkungen des australischen Historikerstreits auf andere akademische Disziplinen und die zunehmenden Forschungsaktivitäten bezüglich indigener australischer Kultur(en) lassen sich, wie die von Rodney Harrison und Christine Williamson herausgegebene Aufsatzsammlung außerordentlich gelungen beweist, auch für archäologische Studien auf dem Fünften Kontinent erkennen.2 Während die Bemühungen der australischen Regierung unter John Howard, ein positiveres Bild der Geschichte des Landes durchzusetzen von linksgerichteten Historiker/innen und Medien als white blindfold view (Perspektive, die die Vernichtung und Entrechtung der indigenen Bevölkerung ignoriert) scharf kritisiert werden, wirft die Allianz von Konservativen den linksliberalen Akademikern vor, negative Aspekte der australischen Geschichte zu stark hervorzuheben (black armband view). Auch unter den linksliberalen Historikern selbst findet sich kein Konsens hinsichtlich der Frage, ob das gewaltsame Verhalten gegenüber den Aborigines seit der Kolonisierung Australiens als Genozid verstanden werden sollte.
Die Publikation „After Captain Cook“ leistet in diesem Kontext einen wichtigen Beitrag zu einem zwischenkulturellen Dialog, der beiden Bevölkerungsgruppen die Möglichkeiten einer Annäherung bietet. Die durch die Forschungsaktivitäten gewonnenen Ergebnisse dienen der Wiedererarbeitung einer der Öffentlichkeit bekannten Geschichte Australiens aus einer anderen, indigenen Perspektive, die sich anschaulich in allen Beiträgen dieser Aufsatzsammlung widerspiegelt. Gleichermaßen wenden sich die Autor/innen von einer Konzentration auf gewaltgezeichnete Kontakte zu einer wachsenden Erforschung der friedlichen, wechselseitigen Beeinflussung beider Bevölkerungsgruppen. Zur Frage, ob sich die australische Gesellschaft als "post-genocidal" definiert, wird keine direkte Stellung bezogen, jedoch wird auf die Verantwortlichkeit der Archäologie bei der Bereitstellung von Beweisen für den juristischen Kampf der Aborigines um Rechte am Land, verwiesen.
Während in der Vergangenheit eine Trennung zwischen indigener Vorgeschichte und Kolonisierungsgeschichte der Siedler innerhalb der archäologischen Untersuchungen festzustellen ist, erforschen die Beiträge nun vor allem die indigene Vergangenheit Australiens nach dem Jahr 1788, das die Einleitung der Kontaktperiode zwischen europäischen Siedlern und der Urbevölkerung markiert. In diesem Kontext werden Aborigines folgerichtig nicht mehr als passive Empfänger, sondern aktive Beteiligte innerhalb des Siedlerkolonialismus verstanden (S. 4).
Die Publikation wendet sich nicht nur an das internationale akademische Publikum der Archäolog/innen, Anthropolog/innen und Historiker/innen, sondern stellt auch für indigene Gemeinschaften und Geschichts- sowie Australieninteressierte im Allgemeinen eine bereichernde, interessante Einführung in die innovativen methodischen und theoretischen Forschungsansätze der australischen Archäologie des vergangenen Jahrzehnts dar, bereichert durch eine Vielfalt von Literaturhinweisen und visuellen Abbildungen. Die Beiträge bieten einen interessanten Überblick der archäologischen Forschungslandschaft des Fünften Kontinents und stellen im Hinblick auf gegenwärtige politische und soziale Entwicklungen das Potential einer Kontaktarchäologie Australiens heraus.
Die Vielfalt der Forschungsansätze erschließt sich bereits aus den Beiträgen von Ferrier, Lydon, Williamson, sowie Harrison, die der ersten Thematik “Research On The Archaeology Of The Recent Indigenous Past in Australia“ zugeordnet sind. Die Anwendung des "shared history"-Ansatzes von Murray 3 erläutert Harrison für sein mittlerweile umgesetztes Forschungsprojekt zur pastoralen Industrie Australiens 4, die er als eine Kontaktzone identifiziert, deren Wahrnehmungen gleichermaßen für Siedler und Aborigines eine Bedeutung in der Entwicklung einer australischen Nationalidentität innehatten. Am Beispiel von nicht-traditionellen archäologischen Artefakten, Fotografien und Tagebüchern der Coranderrk Aboriginal Station aus den 1860er-Jahren artikuliert Jane Lydon die Möglichkeit, andere Forschungsmaterialien bei der Enthüllung eines zwischenkulturellen Dialogs zu nutzen. Lydon weist überzeugend anhand der Aufnahmen des deutschen Fotografen Charles Walter die aktive Teilnahme der Aborigines am Entstehungsprozess der Bilder nach.
Die Aufsätze von Riches sowie Veth und McDonald bilden den zweiten Teil der Aufsatzsammlung – "Native Title and The Archaeology of The Recent Aboriginal Past". Die Autor/innen beziehen in ihren Beiträgen Stellung zu jüngsten juristischen Entscheidungen in Australien hinsichtlich indigener Einforderungen von Landrechten. Die im Native Title Act (1993) festgelegte Forderung, die kontinuierliche Beziehung einer spezifischen Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Areal nachweisen zu müssen, um das Recht auf Land einklagen zu können, wird als Privilegierung einer Minorität der Aborigines korrekt identifiziert. Riches verweist auf die Verantwortung der akademischen Disziplin am Dialog um die Landrückgabe teilzunehmen, kritisiert in diesem Zusammenhang die vorangegangene Repräsentation indigener Vergangenheit durch australische Archäologen und wirbt für die Kontaktarchäologie als neue Forschungsrichtung, um in Zusammenarbeit mit der Historiografie Mythen von der Besiedlung Australiens durch eine homogene, sich nicht verändernde indigene Bevölkerung abzulösen. Die Fähigkeit australischer Archäologen Aussagen zu Ethnizität und Gruppengebundenheit anhand der Analyse archäologischer Daten zu treffen, die als Beweise im Rahmen von Gerichtsprozessen um Landrechte genutzt werden können, hinterfragen Veth und McDonald am Beispiel von indigener Steinkunst mit dem Ergebnis, dass Kunst als ein aussagekräftiger Indikator für die soziale Verortung von indigenen Bevölkerungsgruppen gewertet werden kann.
Im abschließenden Teil "Contact Archaeology and Heritage Management" wird vordergründig die Frage nach dem Erhalt, der Zugehörigkeit und dem Umgang mit dem kulturellen Erbe der Aborigines diskutiert. Byrne untersucht die soziale und kulturelle Bedeutung von Kontaktstätten in New South Wales für die heute lebenden Aborigines. Das Potential neuer Studien zur indigenen Archäologie nach 1788 sieht Byrne vor allem in der Überwindung der Trennung von Vorgeschichte und historischer (weißer) Archäologie, indem eine Aufarbeitung der Zwischenperiode stattfindet und somit eine Verbindung der Aborigines zu ihren Vorfahren vor der Ankunft der weißen Siedler in Australien geschaffen wird.
Die überzeugenden Ergebnisse ihres Forschungsprogramms zur Anwendung nicht-invasiver Techniken, um unmarkierte Gräber von Aborigines des Ebenezer-Mission-Friedhofs in Victoria zu dokumentieren, stellen Brown, Avery und Goulding vor. Das Projekt, welches auf Wunsch und in Zusammenarbeit mit der Wotjobaluk-Gemeinschaft entstand, steht beispielhaft für die wachsende Teilnahme der indigenen Bevölkerung an der Festlegung der archäologischen Forschungsagenda. In der Analyse der Langzeitstudie von Godwin und L’Oste zu kulturellen Plätzen der Aborigines im Bowen Basin, Queensland, werden Diskussionspunkte der vorangegangenen Beiträge aufgegriffen und die Möglichkeiten für eine interdisziplinäre Forschung von Archäologie, Anthropologie und Geschichte für den Erhalt und die Erforschung des kulturellen Erbes der Aborigines am konkreten Beispiel plausibel erläutert.
Im Epilog fokussiert Murray nochmals die Konzepte von “shared histories“ und "conjectural histories" 5 und betont das sich in den Beiträgen reflektierende Potential der Kontaktarchäologie für die Entwicklung unabhängiger historischer Narrative, die Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Geschichten der Aborigines und australischen Siedler adressieren und somit einen Beitrag für den Prozess der Aussöhnung zwischen nicht-indigenen und indigenen Bevölkerungsgruppen leisten können (S. 9). Die Bedeutung der Aufsatzsammlung für die Zukunft der australischen Archäologie und der Gesellschaft Australiens im allgemeinen fasst Murray abschließend richtungweisend zusammen: "If Aboriginal history is the hidden history of Australia that is slowly being revealed and reaching out to people through the reconciliation process, it is also a history we have to imagine, to conjecture and to debate as new possibilities for understanding emerge from its practice." (S. 218)
Anmerkungen:
1 Als History Wars wird die seit den 1990er-Jahren in Australien geführte Debatte um die Interpretation und Darstellung der australischen Geschichte hinsichtlich der Geschichte des Kontaktes mit Aborigines bezeichnet. Eine überzeugende, detaillierte Darstellung der öffentlichen Debatte und ihrer Bedeutung für die australische Gesellschaft liefern: MacIntyre, Stuart; Clark, Anna, The History Wars, Carlton 2004.
2 Eine knappe, aufschlussreiche Diskussion der wichtigsten Publikationen bezüglich des australischen Historikerstreits führen: Bonnell, Andrew G.; Crotty, Martin, An Australian "Historikerstreit"? Review Article, in: Australian Journal of Politics and History 50 (2004), S. 425-433.
3 Murray, Tim, Contact archaeology. Shared histories? Shared identities?, in: Hunt, S.; Lydon, J. (Hgg.), Sites. Nailing the Debate. Archaeology and Interpretation in Museums, Historic Houses Trust of New South Wales, Sydney 1996, S. 199-213.
4 Harrison, Rodney, Sharing the Landscape. An Archaeology of Attachment to the Heritage of the Pastoral Industry in NSW, Sydney 2002.
5 Murray, Tim, Conjectural histories. Some archaeological and historical consequences of Indigenous dispossession in Australia, in: Lilley, Ian (Hg.), Native Title and the Transformation of Archaeology in a Postcolonial World, Sydney 2000, S. 65-77.