Handbücher zu Europa haben Konjunktur. Allein in deutscher Sprache liegen drei Handbuchserien von den Verlagen Kohlhammer, Siedler und Ulmer fast komplett vor, in englischer Sprache noch nicht vollständige mehrbändige neue Synthesen sowohl von der Cambridge University Press als auch von der Oxford University Press. Eher noch bekannter sind Synthesen zu einzelnen Epochen der europäischen Geschichte, für das 20. Jahrhundert Marc Mazowers „Dunkler Kontinent“ und Harold James „Europe reborn“ und für die Zeit seit 1945 Tony Judts „Postwar“.
Volker Berghahn, einer der bekanntesten Deutschlandkenner unter den Historikern der USA, Professor an der Columbia University, legt eine Synthese der Geschichte Europas in der ersten Jahrhunderthälfte vor, die 2002 in deutsch unter dem Titel „Europa im Zeitalter der Weltkriege“ herauskam, offensichtlich aber nicht übersetzt, sondern vom Autor für das englische Publikum umgeschrieben wurde. Das Hauptthema des Buches ist die Gewalttätigkeit, die Kriege und Genozide der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Europa unzähligen Millionen Menschen das Leben kosteten. Berghahn möchte aber auch immer die Alternative behandeln, die friedliche, wirtschaftlich prosperierende, europäische Zivilgesellschaft, die vor dem Ersten Weltkrieg bestand, danach nur kurz in der Stabilisierungsphase der 1920er-Jahre greifbar war und sich dann nach dem Zweiten Weltkrieg durchsetzte. Die Grundthematik dieses Buches sind also nicht nur der Niedergang Europas in einer Orgie der Gewalt und die Schuldigen an diesem Niedergang, sondern auch die europäische Alternative der Zivilgesellschaft. Aus diesem Grund ist für Berghahn die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert auch nicht verstehbar ohne seine Beziehungen zu den USA. Sie nehmen einen breiten Raum in seiner Darstellung ein.
Das Buch ist chronologisch aufgebaut, enthält ein erstes Kapitel über die Vorkriegszeit seit 1900, über die wirtschaftlichen und zivilen Errungenschaften des langen 19. Jahrhunderts, aber auch über die Gewalt in den Kolonien; ein zweites Kapitel über Zeit von 1914 bis 1923, über den Ersten Weltkrieg, die Gründe des Kriegsausbruchs, den totalen Krieg und die gewalttätige unmittelbare Nachkriegszeit; ein drittes Kapitel über die Zeit zwischen 1924 und 1935, die kurze wirtschaftliche und politische Stabilisierung unter starkem Einfluss der USA und danach ihr Scheitern aufgrund der Weltwirtschaftskrise, aufgrund der Stärke der militaristischen Milieus in Deutschland und aufgrund des stalinistischen Terror in der UdSSR; ein viertes Kapitel über die entgrenzte Gewalt zwischen 1935 und 1945, über die deutsche Kriegsmobilisierung, über den terroristischen Zweiten Weltkrieg und das Ausbeutungssystem des NS-Europa; am Ende ein abschließendes Kapitel über die Niederlage der Achsenmächte und die Wiederkehr des zivilen, wirtschaftlich prosperierenden Europa, dabei auch die tragende Rolle der USA. Insgesamt ist diese Epocheneinteilung auf den ersten Blick ungewohnt, aber wohl durchdacht.
Das Buch ist eine besonders kurze Synthese, knapp 150 Seiten lang, viel kürzer als die anderen Synthesen über Europa. Es gibt kaum etwas an ihr zu kritisieren, außer dass man es sich länger gewünscht hätte. In seiner Kürze ist es ausgewogen. In dieser Kürze kann es kein Handbuch im klassischen Sinn mit vielen Karten, Bildern, Zitaten und Literaturangaben sein, sondern hat es eher den Charakter einer essayartigen tour d’horizon über ein halbes Jahrhundert der Gewalt. Es behandelt die Geschichte Europas in ihrer ganzen Breite, internationale Beziehungen ebenso wie Wirtschaftsgeschichte, Militärgeschichte ebenso wie Kulturgeschichte, Ideengeschichte ebenso wie Sozialgeschichte und politische Geschichte, erstaunlich angesichts der Kürze des Buches. Es ist ein Buch über das ganze Europa, nicht nur über Westeuropa, so weit möglich auch nicht nur über die großen Länder. Russland bzw. die Sowjetunion wird mitbehandelt. Es stellt den Beitrag Deutschlands an diesem halben Jahrhundert Gewalt in Europa deutlich und unmissverständlich heraus und versteckt ihn nicht hinter einem europäischen Gesamtbild. Es konzentriert sich auf Gewaltakteure und ihre Verantwortung, verliert sich nicht in strukturelle Bedingungen von Gewalt. Es ist ein hervorragender, klarer, gut durchdachter, gedankenreicher, höchst anregender, entschiedener, spannend zu lesender, überzeugender Essay über die lange Epoche der Gewalt in Europa während des vergangenen Jahrhunderts.