Der vorliegende Band enthält 13 Aufsätze über Geschichte, Kultur(en) und Gesellschaft(en) im Mittelmeerraum zwischen dem 8. und 14. Jahrhundert. Untersucht wird die Vielschichtigkeit der Méditerranée – man könnte fast sagen im Sinne von Fernand Braudel – als in sich geschlossener Raum, aber gleichzeitig offen für alle von außen kommenden Einwirkungen und Einflüsse: politische und kulturelle Schnittstelle zwischen Ost und West wie Nord und Süd, geprägt von Konfrontationen und historisch gewachsenen Antagonismen ebenso wie von pragmatischen Allianzen und Handelsbeziehungen jenseits religiöser, regionaler oder politischer Grenzen. Thematische Schwerpunkte sind u.a. das ambivalente Verhältnis zwischen Christen und Muslimen, die prekäre Situation von Byzanz im Kräftespiel neuer Großmächte, die Vorreiterrolle der italienischen Seerepubliken bei der Entwicklung von Handelsnetzen und ‘Protokolonalismus’, sowie die spezifische Rolle der Mongolen als Scharnier zur Verbindung des Mittelmeerraums, Europas und des Nahen Ostens mit Zentralasien.
Im Einzelnen handelt es sich um folgende Beiträge: “Der islamische Orient nach der Jahrtausendwende” (Peter Feldbauer), “Byzanz und Europa” (J. Koder), “Die Kreuzzüge. Feudale Kolonialexpansion als kriegerische Pilgerschaft” (Ingolf Ahlers), “Kaufleute an der Macht. Voraussetzungen des Protokolonialismus in den italienischen Seerepubliken am Beispiel Pisa” (Michael Mitterauer), “Die italienischen Seerepubliken” (John Morrissey), “Das Weltsystem im 13. Jahrhundert: Sackgasse oder Wegweiser?” (Janet Lippmann Abu-Lughod), “Italiens Kolonialexpansion. Östlicher Mittelmeerraum und die Küsten des Schwarzen Meeres” (Peter Feldbauer / John Morrissey), “Byzanz im Spätmittelalter. Wirtschaft und Gesellschaft” (Katerina Mitsiou), “Der islamische Osten im Spätmittelalter” (Peter Feldbauer), “Gold und Djihad: Der Maghreb, Europas afrikanische Grenze” (Gottfried Liedl), “Staatsfeudalismus in Kastilien. Die Entstehung des frühabsolutistischen Staates” (Ferdinand Gschwendtner), “Die andere Seite der Reconquista: Islamisch Spanien im Wirtschaftsraum des Spätmittelalters” (Gottfried Liedl), “Der Aufstieg der Osmanen im Mittelmeerraum” (Manfred Pittioni).
In allen Aufsätzen geht es mehr oder minder um Erklärungsansätze für das im positiven wie negativen Sinne so ‘erfolgreiche’ Modell der “Europäisierung der Welt”. Dabei wird deutlich, dass die Voraussetzungen für diese, nicht zuletzt durch Kolonialismus und Imperialismus vorangetriebene Europäisierung – wenn man denn dieser historischen Deutung zustimmt – in erheblichem Masse außereuropäischer Natur waren, d.h. ein mittelalterliches Weltsystem mit Schwerpunkt im Osten (Asien) dem Aufstieg des Westens (Europa) und seiner später folgenden (globalen) Hegemonie zeitlich voranging (zugespitzt bei Abu-Lughod, S. 131ff.; auch Feldbauer, S. 191ff.).
Hier ist nicht der Platz, auf alle Aufsätze einzugehen bzw. sie detailliert zu kommentieren; deshalb nur einige Beispiele, die mir bei der Lektüre entweder als besonders interessant und positiv aufgefallen sind oder gewisse Zweifel hervorgerufen haben:
Feldbauers “Der islamische Orient nach der Jahrtausendwende” (S. 11ff.) und “Der islamische Osten im Spätmittelalter” (S. 193ff.) gehören zu den besten Beiträgen des ganzen Buches. Auf breiter Literaturbasis werden die politischen, die kulturellen und vor allem die wirtschaftlichen Entwicklungen bzw. ihre wechselseitigen Beziehungen dargestellt; mit der kritischen Schlussfolgerung, dass bis in das 15. Jh. nicht pauschal von muslimischer Abhängigkeit und Unterlegenheit gegenüber dem christlichen Westen gesprochen werden kann (S. 211).
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Liedl mit Blick auf das islamische Spanien (al-Andalus). Gerade der muslimische Stadtstaat Granada profitierte im 13.-15. Jh. von dem wirtschaftlichen Bündnis mit dem christlichen Genua, während der Rest des ehemals islamischen Territoriums auf der iberischen Halbinsel schon längst der politischen christlichen Reconquista anheim gefallen war (S. 260ff.).
Abu-Lughods “Das Weltsystem im 13. Jahrhundert” (S. 131ff.) bringt neue und anregende Einsichten über das Verhältnis von West und Ost bzw. Europa und Asien: eine ‘nicht-eurozentrische’ Perspektive, die die Verfasserin schon früher in größeren Studien ausgeführt hat.
Sicherlich kann man in einzelnen Punkten anderer Meinung sein als Feldbauer, Liedl und Abu-Lughod, ganz abgesehen einmal von den teilweise noch bestehenden Forschungslücken. Bei anderen Beiträgen habe ich aber grundsätzliche Kritik anzumerken:
Die Kreuzzüge “als eine umfassende religiös-militärische Expansion der lateinischen Christenheit zu begreifen” (S. 59), und zwar nicht nur in Bezug auf Palästina sondern überall in Europa, ist durchaus problematisch (Europa als Ganzes?); angesichts der kontroversen und anhaltenden Diskussion dieses Themas, aber auch der unterschiedlichen Forschungspositionen scheint mir der Ansatz von Ahlers zu einseitig, mindestens aber zu verkürzt. Ähnliches gilt für seine Ausführungen über das Rittertum (S. 70ff.).
“Byzanz im Spätmittelalter” (S. 174ff.) ist nicht gut lesbar; bei Mitsious Darstellung der Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich klare Strukturen (für mich) nicht erkennen, eine Überfrachtung des Textes mit griechischen Termini macht die Lektüre nicht einfacher. Auch Pittionis “Der Aufstieg der Osmanen” (S. 295ff.) lässt viele Fragen offen; der Artikel ist zu kurz und zu allgemein gehalten, teilweise auch nicht auf dem aktuellen Forschungsstand.
Wenn Liedl den “Maghreb als Europas afrikanische Grenze” charakterisiert – eine an sich höchst anregende Deutung –, läuft er meines Erachtens Gefahr, zu viel bzw. zu verschiedene Themen in die Interpretation hinein zu packen; dabei werden auch die Theorien von Ibn Khaldun (14. Jh.) zu unkritisch übernommen (S. 215ff.).
Grundsätzlich bleibt aber fest zu halten, dass alle Artikel viel Sachinformationen bieten. Der historisch interessierte Leser oder Laie bekommt für die meisten Themenbereiche einen guten Überblick, der Berufshistoriker kann aus den verschiedenen Interpretationen und Analysen anregende Denkanstöße gewinnen. Neue Fragestellungen werden formuliert, Lösungsansätze und -vorschläge unterbreitet. Dabei halte ich die Kombination von politischer, wirtschafts-, sozial- und kulturhistorischer Geschichtsschreibung für besonders fruchtbar. Kurzum, ein nützliches Buch, welches die interkulturelle und translokale Marschroute der Herausgeber – Expansion, Interaktion, Akkulturation – sehr schön belegt!