G. Budde: Transnationale Geschichte

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Titel
Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien


Herausgeber
Budde, Gunilla; Conrad, Sebastian; Janz, Oliver
Erschienen
Göttingen 2006: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Matthias Middell, Universität Leipzig

Transnationale Geschichte – Thesen und Temperamente

Transnationale Geschichte ist ein bisschen in Mode gekommen. Die Zahl der Vorträge, deren Titel verspricht, dass der Autor oder die Autorin ein Phänomen in transnationaler Perspektive angehen würde, nimmt erheblich zu. Allerdings nimmt auch die Verwirrung darüber zu, wovon eigentlich die Rede ist und in welchem Verhältnis diese Innovation zu anderen steht, die wir in den letzten Jahren erleben durften, oder gar zu dem, was man zusammenfassend und häufig etwas verächtlich die traditionelle Geschichtsschreibung nennt. Erscheint nun ein Band unter dem viel versprechenden Titel „Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien“, dann scheint Abhilfe nahe. Ein Blick auf die Autor/innenliste von Nathalie Zemon Davis bis John Keane lässt ebenfalls erwarten, dass mit großer intellektueller Kraft nach Wegen aus dem Dickicht der Begriffe und Konzepte gesucht wird.

Völlig zu Recht heben die Herausgeber/in, jüngere Schüler/in des Geehrten aus Berlin und Oldenburg, Kockas Engagement für den Vergleich in der Sozialgeschichte, für eine Erweiterung der Europageschichtsschreibung in Deutschland über die klassischen Gemeinplätze in Westeuropa hinaus und – vor allem als Präsident des Comité Internationale des Sciences Historiques 2000-2005 – für die Neubegründung der Ökumene der Historiker/innen nach dem Ende des Kalten Krieges hervor. Damit sind wichtige Inspirationen für das Erstarken der Bemühungen um transnationale Geschichte hierzulande angesprochen. Und Jürgen Kocka hat am Ende des von ihm geleiteten Weltkongresses in Sydney 2005 die Frage nach dem Verhältnis von Nationalhistoriografie und transnationaler Geschichte in der näheren Zukunft des Faches aufgeworfen. Er würde sich selbst vielleicht nicht als Pionier der transnationalen Geschichtsschreibung bezeichnen, aber er hat ihren Aufschwung in den letzten Jahren aufmerksam verfolgt und versucht ihr Platz zu verschaffen, wo sich Hindernisse auftürmten. Zugleich hat er immer wieder nachfragend die Plausibilität des Neuen auszuloten versucht und dafür gesorgt, dass unnötige Konfrontation zu etablierten Ansätzen gedämpft und stattdessen die Verbindung zwischen Bekanntem und Neuem betont wurde.

Dies alles sind gute Gründe, eine erlesene Schar von 19 Historikern und vier Historikerinnen, von denen wiederum elf in den USA lehren, sechs an deutschen Universitäten tätig sind, zwei in England und in Israel sowie je einer in Italien, den Niederlanden und in Indien arbeiten, nach ihren Positionen zum und im neuen Feld der transnationalen Geschichte zu befragen. Einige, die zwischen Bielefeld, New York und Florenz, Cambridge und Harvard, Göttingen und Buffalo, Kalkutta und New York, Princeton und Toronto pendeln, können dabei direkt auf eine transnationale berufliche Existenz und Erfahrung rekurrieren. Sammelbände haben notwendigerweise endliche Listen von Teilnehmer/innen, insofern sagen solche Auszählungen nur bedingt etwas aus, aber sie geben vielleicht doch einen Hinweis, wo die Herausgeber/in die Epizentren der transnationalen Geschichte vermuten. Da sie bewusst darauf verzichtet haben, Schüler/innen des Jubilars zur Festschrift einzuladen, sondern eher Wegbegleiter/innen und intellektuelle Partner/innen für einen Beitrag gewinnen wollten, ergibt sich auch eine Art virtueller Referenzrahmen, auf den Teile der deutschen Debatte um die transnationale Geschichte bezogen sind. Die Trennung von den Area Studies tritt dabei deutlich in den Blick.

Das Einladungsverfahren hat es wohl auch mit sich gebracht, dass eine nicht unbeträchtliche Zahl unter den Angefragten mit Texten geantwortet hat, die in anderen Kontexten entstanden und zwischenzeitlich schon publiziert worden sind – Beleg für die Allgegenwart des Themas und zugleich eine besondere Qualität des Bandes, der auf diese Weise über die Zufälligkeiten mancher Festschrift hinausgeht und auch als eine Art Reader zum Thema gelesen werden kann.

Von der H-Soz-u-Kult-Redaktion um die Moderation des Review-Symposions gebeten, habe ich die Beiträger, die sich am Ende des europäischen und vor Beginn des nordamerikanischen Semesters in der Lage sahen, relativ kurzfristig der Bitte um einen Artikel zu entsprechen, mit Blick auf die Heterogenität des Bandes von allen Ansprüchen an eine umfassende und Kohärenz stiftende Analyse freigestellt. Vielmehr galt die Einladung Reflexionen, die einzelnen Aufsätze aus dieser Festschrift zum Anlass für Weiterführendes zu nehmen. Die Qualität der im Band vereinigten Verfasser/innen bürgt dafür, dass für solche Anregungen reichlich gesorgt ist, und in diesem Sinne wird er sich möglicherweise zu einer häufiger zitierten Referenz entwickeln, auch wenn seine Autor/innen sicherlich den Gedanken weit von sich weisen würden, eine gemeinsame oder gar einheitliche Programmatik zu entwerfen.

Nachdem die Debatte um die transnationale Geschichte in Deutschland in den letzten Jahren mehr und mehr in Gang gekommen ist, markiert dieser Band – so kann zumindest vermutet werden angesichts der Prominenz des Jubilars, dem die Beiträge gewidmet sind – einen weiteren Schritt in die Mitte des Faches. Die Folgen könnten von wachsender intellektueller Aufmerksamkeit auch außerhalb der Disziplin selbst zu institutioneller Unterstützung und Konsolidierung einerseits und zum raschen Verbrauch eines massenhaft verklebten Labels andererseits reichen. Weitere Klärung tut also Not, und vielleicht kann dieses Review-Symposion dabei helfen, die Waage in Richtung einer ambitionierten theoretisch-methodischen Bestimmung zu neigen.

Gründe für den Schwenk in Richtung einer transnationalen Geschichte gibt es viele: Sie reichen von der aktuellen Erfahrung, dass Handlungen an weit entfernten Plätze unsere Lebenswelt massiv beeinflussen, über die Wiederentdeckung von Spuren früherer Einwirkungen des heute als fremd Konstruierten bis zur neuen Aufmerksamkeit für supranationale Strukturen. Oft wird allerdings übersehen, dass der Terminus „transnational“, der für die Bezeichnung dieser verschiedenen Phänomene an Popularität gewinnt, selbst bereits eine lange Karriere hinter sich hat und deshalb durchaus verschiedene Assoziationen wecken kann, unter denen die Referenz auf grenzüberschreitende Firmenkonglomerate und ihre Handlungsmacht sowie der Verweis auf die Entfaltung einer besonderen Kultur der Migranten-Netzwerke, die sich nicht mehr eindeutig einem Land und Ort zuordnen lassen, besonders hervorstechen. Die Inspiration aus der öffentlichen Debatte und den Nachbardisziplinen erweist sich als fruchtbar, aber für die Historiker/innen bleibt zu klären, wie weit sie dem neu entdeckten Pfad folgen wollen. Handelt es sich um eine Art „Nationalgeschichte in der Erweiterung“, die die Herausforderung klein raspelt zu einem zusätzlichen Kapitel am Ende der Handbücher, oder stehen die etablierten Narrative auf grundsätzlichere Weise zur Disposition.

Die Antworten auf diese Frage unterscheiden sich nach Temperament und Ambition, nicht nur bei den Autor/innen des vorliegenden Bandes. Die Festschrift für Jürgen Kocka bietet allerdings eine hervorragende Gelegenheit, die unterschiedlichen Strategien zu beobachten, die mit der noch vagen Bezeichnung der transnationalen Geschichte verbunden sind. Die einen sehen diesen neuen Ansatz als Feld, das neben den bestehenden seinen Platz finden soll, andere diskutieren die besondere Eignung einzelner Themen (von der Kolonialgeschichte bis zur jüdischen Geschichte). Eine weitere interessante Spur tut sich auf, wo nach Zu- oder Abnahme des Gewichtes von Verflechtungen und Interaktionen entlang der historischen Entwicklung oder im synchron angelegten Vergleich verschiedener Weltregionen gefragt wird. Der weitestgehende paradigmatische Anspruch verbindet sich aber vielleicht mit dem Versuch, den spatial turn für die Geschichtswissenschaft fruchtbar zu machen und damit eine Entwicklung des nach dem Selbstverständnis vieler vor allem mit der Dimension der Zeit befassten Faches einzuleiten, in der keine räumliche Konfiguration mehr selbstverständlich ist, sondern lediglich als Resultante konfligierender Ordnungsentwürfe auf Zeit betrachtet wird. Imperien, Nationalstaaten, Händler- und Migrantennetzwerke, Regionen, Städte mit ihren Beziehungen in Umland und ferne Gegenden lassen sich damit dann nicht mehr einfach in eine Hierarchie zwingen, bei der der Nationalstaat und die Zivilisation die Ankerkategorien sind, nach denen nicht nur Historiker/innen ihre Geschichten erzählen, sondern auch ihre Institutionen ordnen. Transnationale Geschichte, die den verschiedenen Wegen historischer Akteure sich zu vernetzen folgt, mag auf den ersten Blick unübersichtlicher anmuten als frühere Versionen den Stoff zu ordnen. Aber sie rückt näher an die tägliche Erfahrung der Menschen, die vor der Herausforderung eines jeux d’échelles, eines sehr flexiblen Spiels mit den Maßstäben, stehen. Es bleibt abzuwarten, ob damit eine gesellschaftliche Orientierungsfunktion (zurück-)zugewinnen ist. Es lohnt ohne jeden Zweifel den Einsatz.

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10.10.2006
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