B. Cabanes (Hrsg.): Eine Geschichte des Krieges

Cover
Titel
Eine Geschichte des Krieges. Vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Aus dem Französischen von Daniel Fastner, Michael Halfbrodt und Felix Kurz


Herausgeber
Cabanes, Bruno
Erschienen
Anzahl Seiten
903 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Christoph Nübel, Abteilung Forschung, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr

Dieser Band hat sich nichts weniger vorgenommen, als die Geschichte des Krieges im 19. und 20. Jahrhundert im globalen Zusammenhang nachzuzeichnen. In dieser Ära durchlief das Kriegswesen gleich mehrere tiefgreifende Revolutionen. Es war das Zeitalter der Massenmobilisierung und Ideologisierung, in dem die Grenze zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern verwischte. Nicht zuletzt veränderte sich die Kriegstechnik fundamental. Ein Soldat, der 1798 mit Napoleon vor Kairo stand, wäre auf dem Gefechtsfeld des zweiten Golfkrieges 1990/91 nicht nur orientierungslos, sondern sofort tot gewesen. Der enorme Gestaltwandel des Krieges wird von einem großen Autorenteam auf beinahe 1.000 Seiten untersucht. Unter den über 50 Verfasserinnen und Verfassern befindet sich der Doktorand (!) ebenso wie der in den britischen Ritterstand erhobene Emeritus. Sie forschen mehrheitlich in Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Mit dieser Konstellation ist auch eine Vorentscheidung über das Themenspektrum des Bandes getroffen, worauf zurückzukommen sein wird. Um es vorwegzunehmen: Die meisten Beiträge können überzeugen. Sie versammeln ein stupendes Wissen und ermöglichen es, den Wandel des Krieges in dieser Zeit zu verstehen.

Dazu trägt nicht zuletzt die problemorientierte Einleitung des Herausgebers Bruno Cabanes bei. Cabanes hat sich dafür entschieden, das Thema aus einer anthropologischen Perspektive in den Blick zu nehmen, die den Menschen und somit die Erfahrungen und die Repräsentationen der Ereignisse in den Mittelpunkt rückt. Der Krieg ist ein Akt der Kultur, so versteht ihn Cabanes. Freunde des Feldherrnhügels und der Diplomatiegeschichte werden bei der Lektüre also weniger auf ihre Kosten kommen.

Der Band ist in vier Sektionen untergliedert, in denen jeweils eine enorme Themenvielfalt versammelt ist und auf verschiedene Weltregionen eingegangen wird. In „Der moderne Krieg“ werden in 18 Abhandlungen die magistralen Entwicklungen des Krieges – vom Kriegsdenken über Operationen, Technik und Rechtsfragen bis hin zu Pazifismus und Terrorismus – beleuchtet. Die „Soldatischen Welten“, in 13 Texten thematisiert, umfassen Aspekte wie Wehrpflicht, Freiwilligkeit und Verweigerung, Geschlechterstrukturen oder Feldpost. Zivile und soldatische „Kriegserfahrungen“ werden in ihren körperlichen Dimensionen wie Hunger und Tod, Verwundung und Vergewaltigung, aber auch im Kontext von Mobilisierungsstrategien oder des Luftkrieges von insgesamt 19 Aufsätzen behandelt. Abschließend werden die „Kriegsfolgen“ von zwölf Beiträgen anhand von Themen wie Friedensschlüsse, Heimkehrer oder Erinnerungskultur diskutiert.

Es war eine kluge Entscheidung des Herausgebers, den Sektionen einleitende Texte von David A. Bell, John Horne, Stéphane Audoin-Rouzeau und Henry Rousso voranzustellen, die die jeweiligen Kernthemen herausarbeiten und den Gegenstand systematisieren. Die Zuordnung der einzelnen Texte zu den vier Themenfeldern ist diskutabel, aber überwiegend schlüssig. Unter die Beiträge zu den zentralen Strukturmerkmalen des Krieges, die häufig einen Überblickscharakter einnehmen – wie beispielsweise Jörg Echternkamps Analyse des Wandels des Offizier- und Unteroffizierkorps – mischen sich willkommene Fallstudien. Dazu zählen Marius Loris‘ Arbeit über die AK-47, Jochen Hellbecks Studie über die Erinnerung an Stalingrad oder Laurence Bertrand Dorléacs Skizze über Goya, die durch die Beigabe von Abbildungen noch gewonnen hätte.

Der Zugriff ist also thematischer, nicht chronologischer Natur. Es liegt nahe, dass sich aus dieser Grundentscheidung inhaltliche Überschneidungen ergeben. Das war dem Herausgeber bewusst, weshalb am Ende der Texte nicht nur annotierte Literaturlisten, sondern auch „Querverweise“ zu anderen Beiträgen zu finden sind. Eine Praxis, die wir aus Handbüchern kennen und die den Schluss nahelegt, dass der Band unausgesprochen damit kokettiert, in dieser wissenschaftlichen Literaturgattung verortet zu werden. Allerdings spricht der zumeist essayistische Stil, der Verzicht auf eine Forschungsdiskussion und die sparsame, nicht immer nachvollziehbar erfolgende Setzung von Fußnoten dafür, dass der Band sein Publikum auch in der breiteren, militärgeschichtlich interessierten Öffentlichkeit sucht.

Unter der Vielzahl der Beiträge ragen einige besonders heraus. Der Band erblickt in den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen, die tatsächlich von einer zuvor ungekannten Mobilisierung von Massen und Ideen gekennzeichnet waren, den Auftakt in ein neues Zeitalter der Kriegführung, wie etwa Alan Forest anhand der Wehrpflicht aufzeigt. Zum Problem der Aufweichung der Grenzen zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten, ein weiteres zentrales Kriegsmerkmal der Epoche, kann man in den Beiträgen von Bruno Cabanes, Robert Gerwarth oder Karen Hagemann viel lernen. Ausgesprochen luzide – und heute ganz besonders relevant – ist die Darstellung Victor Luzons zur chinesischen Militärgeschichte. Sie zeigt, dass die Herrschaft der Kommunistischen Partei erst durch den Zweiten Weltkrieg ermöglicht wurde und stark militärisch geprägt war. Die Lektüre der Texte Christian Ingraos und Anne Rolland-Boulestreaus macht deutlich, dass Militär- und Gewaltgeschichte zusammenzudenken sind. Der Connaisseur wird zudem bemerken, dass in einer ursprünglich frankophonen Veröffentlichung Clausewitz als der wesentliche kriegstheoretische Gewährsmann gilt, wohingegen auf Jomini nur am Rande verwiesen wird.

Wo viel Licht ist, findet sich auch Schatten. Widersprüchlich ist, dass die Kriegs-Chronologie im Anhang des Buches festhält, das Zeitalter der Volkskriege sei auf dem Schlachtfeld von Valmy angebrochen (S. 861) – Goethe lässt grüßen. Dagegen machen zahlreiche Beiträge deutlich, dass Neuerungen nicht unvermittelt auftraten, sondern die Zeit um 1800 als Sattelzeit des modernen Krieges zu begreifen ist. In manchen Abschnitten fällt der Band hinter den Forschungsstand zurück. So feiert George Mosses These, der Erste Weltkrieg habe eine gesellschaftliche „Brutalisierung“ ausgelöst, unter anderem bei Hervé Mazurel eine Wiederauferstehung (S. 488). In den Gewalttaten der Deutschen, begangen 1914 in Belgien, erkennt Audoin-Rouzeau eine Grenzüberschreitung (S. 468). Indes können wir das beschriebene Gewaltphänomen nur im europäischen Kontext verstehen. Es müsste also – eine Leerstelle im Band, aber mittlerweile Stand der Forschung – das ganze Panorama der Kriegsgewalt gegen Zivilisten 1914 berücksichtigt und die Fälle Nordfrankreich, Elsass-Lothringen, Serbien, Galizien und Ostpreußen ebenfalls in den Blick genommen werden. Eine globalgeschichtliche Herangehensweise wäre sogar aufgefordert, solche Zusammenhänge auch für andere Kontinente zu erfassen. Besonders misslich ist, wenn autobiographische Erzählungen aus der Feder Ernst Jüngers oder der „Anonyma“ (alias Marta Hillers) immer wieder als Beispiele für Kriegserfahrungen herangezogen werden, ohne zu erklären, dass diese Publikationen nicht die Realität des Krieges, sondern seine literarische Überformung widerspiegeln.

Daneben sind einige Lässlichkeiten und kleinere Fehler zu bemerken. Kennern der Entwicklung des Infanteriegewehrs wird auffallen, dass – anders als Michael Neiberg in seinem Beitrag über die Kriegstechnik schreibt – das preußische Zündnadelgewehr nicht mit Metall-, sondern mit Papierpatronen geladen wurde (S. 135). Anders als Heather Jones anführt, ist die verbrannte Erde, die deutsche Truppen 1917 in Frankreich beim Rückzug in die Siegfriedlinie hinterließen, kein Beispiel für den Einsatz von „Hunger als Waffe“ (S. 639). Wegen der Zerstörungen mussten die bestens versorgten Ententetruppen nicht darben, allerdings wurden ihre Operationen behindert, weil sie kaum noch Infrastrukturen vorfanden. Richard Overy lässt den Bombenkrieg gegen zivile Ziele im Ersten Weltkrieg erst 1915, im Zweiten einige Monate nach Ausbruch der Kämpfe beginnen (S. 569, S. 572). Allerdings wurde beispielsweise Freiburg schon im Dezember 1914 von französischen Fliegern bombardiert, während deutsche Stukas die polnische Stadt Wieluń 1939 sogar noch vor Eröffnung der Kämpfe an der Westerplatte in Schutt und Asche legten. Ihre Zerstörung kann als erstes deutsches Kriegsverbrechen gelten, begangen gleich zum Auftakt des Zweiten Weltkrieges in Europa. Diese frühen Angriffe sind eindrücklicher Beleg für Overys These, dass die Bombardierung von Zivilisten ein wesentliches Merkmal der Großkonflikte zwischen Erstem Weltkrieg und Vietnamkrieg waren.

Die Übersetzung der 2018 zunächst auf Französisch vorgelegten Publikation überzeugt insbesondere dort, wo sie beispielsweise die spezifische Tonart französischen Schreibens auch im Deutschen vermittelt und so den vielstimmigen Sound internationaler Forschung spürbar werden lässt. Ursprünglich englischsprachige Beiträge wurden jedoch offenbar aus der französischen Fassung übersetzt, wobei auch sinnentstellende Fehler übernommen wurden (S. 649/frz. S. 561; S. 374/frz. S. 320). Insbesondere die Fachterminologie stellt jede Übersetzung vor große Herausforderungen, die überwiegend gut bewältigt wurden. Indes kennt man eher den „uneingeschränkten“, nicht den „exzessiven“ U-Boot-Krieg (S. 155); der „Kommandeur“ ist Befehlshaber eines selbstständigen Truppenteils, während im Text wohl eher der militärische Führer auf dem Gefechtsfeld gemeint ist (S. 450/frz. S. 387). So reizvoll der Gedanke sein mag, es gab keine „europäischen Einigungskriege“, sondern „conflits des unifications nationales européennes“ (S. 466/frz. S. 402).

Die Mehrzahl dieser Monita wird wohl eher für den Experten und weniger für den allgemeinhistorisch interessierten Leser relevant sein. Anders steht es möglicherweise mit dem einleitend vom Herausgeber erhobenen Anspruch, den Krieg „auf globaler Ebene darzustellen“ und mit der „westlichen Lesart zu brechen“ (S. 14f.). Dieses Versprechen kann der Band trotz der Vielzahl an Themen und Verfassern nur begrenzt einlösen. Es mag an der Herkunft der Autorinnen und Autoren liegen, dass in den meisten Beiträgen europäische und nordamerikanische Entwicklungen im Mittelpunkt stehen. Ein zweiter Fokus gilt Asien, das unter anderem durch die weiterführenden Aufsätze von Victor Louzon (China) und Sheldon Garon (Japan) untersucht wird. Eine Abkehr von westlichen Perspektiven, wie sie von Vertretern des Postkolonialismus gefordert wird, bietet der Band (mit Ausnahme von Meredith H. Lairs Beitrag über die lokalen Folgen des Massakers von Mỹ Lai) eher weniger. So werden jene Weltgegenden, die lange als imperiale Peripherie galten, hauptsächlich aus der Sicht der (ehemaligen) Kolonialmächte thematisiert.

Insgesamt jedoch nimmt man den Band mit Gewinn zur Hand. Die versammelten Beiträge bieten ganz überwiegend erhellende systematische Einblicke in die Geschichte des Krieges und eine Fundgrube an historischen Beispielen. In der Gesamtschau machen sie deutlich, dass Militär und Krieg im 19. und 20. Jahrhundert kaum einen lebensweltlichen Bereich unangetastet ließen. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass eine Militärgeschichte auf der Höhe der Zeit diese Vielzahl an Themen in den Blick nimmt – und dass sich offenbar ein breites Publikum dafür interessiert. Wie man Militärgeschichte heute methodisch offen und aus internationaler Perspektive schreiben kann, zeigt dieses Buch.

Redaktion
Veröffentlicht am
04.02.2021
Redaktionell betreut durch
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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