L. Behrisch (Hrsg.): Vermessen, Zählen, Berechnen

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Titel
Vermessen, Zählen, Berechnen. Die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert


Herausgeber
Behrisch, Lars
Reihe
Historische Politikforschung 6
Erschienen
Frankfurt am Main 2006: Campus Verlag
Anzahl Seiten
181 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Frithjof Benjamin Schenk, Ludwig-Maximilians Universität München

Im 18. Jahrhundert wurden Maß und Zahl zu entscheidenden Kategorien der Wahrnehmung im wissenschaftlichen und politischen Diskurs der europäischen Welt. Die Frage, welche Auswirkungen die zunehmende Erfassung der Bevölkerung in Statistiken, die Kartierung von politischen Territorien und die Quantifizierung ökonomischer und demographischer Prozesse für die Wahrnehmung des Raumes in der Frühen Neuzeit hatte, steht im Mittelpunkt des von Lars Behrisch herausgegebenen Sammelbandes über die politische Ordnung des Raums im 18. Jahrhundert. Ziel des Buches, das neben der konzeptionellen Einleitung sechs geschichtswissenschaftliche Beiträge und eine literaturwissenschaftliche Fallstudie beinhaltet, ist es, der „wechselseitigen Dynamik zwischen theoretischen Quantifizierungsmodellen, konkreten Praktiken des Messens und Zählens sowie der Raumwahrnehmung der politischen Akteure“ nachzuspüren und so zu einem besseren Verständnis der „gesellschaftlichen Breitenwirkung des Diskurses von Zahl und Maß“ (S. 15f.) beizutragen. Überzeugend ordnet Behrisch in der Einleitung dieses Erkenntnisinteresse in die aktuelle Forschungslandschaft zur Geschichte politischer Raumkonzepte, der Kartographie, des Katasters, der Zahlenstatistik und der Bevölkerungserhebung ein und entwirft ein ambitionsreiches Programm zur Untersuchung der Frage nach dem Bedeutungszuwachs von Maß und Zahl in gesellschaftlichen Diskursen und politischen Praktiken im 18. Jahrhundert entlang folgender Leitfragen: Welche Handlungszwänge und welche Motivationen bewirkten, dass sich immer mehr Fürstenstaaten im 18. Jahrhundert in ihrer Herrschaftspraxis empirischer Informationen bedienten? Welche Rolle spielten dabei politische Konkurrenz, wechselseitige Rezeption und der grenzüberschreitende Wissenstransfer? Und schließlich: Welche nicht intendierten Folgen zeitigte die zunehmende Selbstverpflichtung von Herrschaft auf die Maxime der Rationalität?

Besonders überzeugend gelingt die Diskussion der Frage, welche Auswirkungen Praktiken des Messens und Zählens im 18. Jahrhundert auf den Wandel von entsprechenden Raumbildern hatten, in den Beiträgen von Martin Aust über die Geschichte der Landvermessung und Kartographie in Russland und von Achim Landwehr über den Wandel von Kartierungspraktiken im Grenzland zwischen dem Habsburgerreich und Venedig vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Beim Vergleich dieser beiden Beiträge wird deutlich, dass die Entwicklung der Landvermessung – von der Erfassung des ökonomisch genutzten Landes hin zur vollständigen topographischen Kartierung von politischen Territorien im 18. Jahrhundert – nicht in erster Linie der technischen Entwicklung der Geodäsie, also der Ausmessung und Abbildung der Erdoberfläche als Ganzes geschuldet war, sondern eher auf einen Wandel der Vorstellungen von den politischen und ökonomischen Aufgaben des Staates zurückzuführen ist. Zwar ermöglichte in Russland erst die Einführung moderner Instrumente der Landvermessung aus dem Westen unter Peter dem Großen die erste vollständige Kartierung des Landes in den 1760er-Jahren. Der mitteleuropäische Fall zeigt jedoch, dass die Kompetenz, mit dem Astrolabium umzugehen, kein hinreichender Grund für den Wandel von kartographischer Praxis war. Während im russischen Fall die machtpolitisch bedingten Interessen des Staates an der effizienteren Nutzung der eigenen Ressourcen (Holz für den Flottenbau etc.) und der Verbesserung der Infrastruktur des Landes (Straßen und Kanäle) die systematische Kartierung des eigenen Territoriums motivierte, führte in Venedig eher ein gewandeltes Verständnis von politischen Grenzen zur Aussendung von Vermessern in die Randgebiete des eigenen Landes. In beiden Fällen bewirkte die systematische Erfassung des Territoriums eine Abwertung traditioneller räumlicher Perzeptionsmuster und die Durchsetzung der Vorstellung von homogenen und durch ununterbrochene Linien abgrenzbaren Ländern.

Welche Rolle der Wandel der politischen Agenda der Fürstenstaaten des 18. Jahrhunderts für die Durchsetzung quantifizierender Praktiken und Diskurse spielte, wird auch in anderen Beiträgen deutlich: Dies gilt insbesondere für David Bitterlings Aufsatz über ökonomische Raumdiskurse in Frankreich im späten 17. beziehungsweise frühen 18. Jahrhundert, Anton Tantners Ausführungen über die „Seelenkonskription“ und numerische Erfassung der Häuser im Habsburgerreich in den 1770er-Jahren sowie Lars Behrischs Artikel über die Geschichte der Landwirtschaftsstatistik in der Grafschaft Lippe im späten 18. Jahrhundert. Bitterling legt dar, dass die Finanzkrise des französischen Staates um 1700 zu einer Diskussion darüber geführt habe, ob das Problem eher über eine Steuerung der im Umlauf befindlichen Edelmetalle in den Griff zu bekommen sei, oder über eine effizientere Nutzung des landwirtschaftlichen Potentials des Landes. Letztere Position habe vor allem der französische Marschall Sébastian le Prestre de Vauban vertreten, dessen Schriften über die Funktionsweise von Gutswirtschaften (Domänen) und deren Vorbildcharakter für die Organisation der französischen Volkswirtschaft als Ganzes den Diskurs über das französische Staatsterritorium als homogener und nach außen klar abgegrenzter Raum deutlich beeinflusst habe.

Auch das Interesse der Habsburgermonarchie an der systematischen Erfassung der „Seelen“ des Reiches und der von diesen bewohnten Häuser war, wie Tantner argumentiert, letztendlich machtpolitisch bedingt. Insbesondere die Erbfolgekriege hätten einen „Innovationsdruck“ bewirkt, der dazu führte, dass im Habsburgerreich bereits seit den 1750er-Jahren, früher als in anderen Staaten, die systematische Zählung der eigenen Untertanen in Angriff genommen worden sei. Die Seelenkonskription der 1770er-Jahre habe vor allem ein neues Rekrutierungssystem vorbereiten sollen und zudem darauf abgezielt, die staatliche Steuereinhebung zu erleichtern. Bei der Festlegung der räumlichen Einheiten, die der Gebäudezählung zugrunde gelegt wurden, orientierte man sich nicht an der Zugehörigkeit zu entsprechenden Grundherrschaften, sondern an den Grenzen von Pfarren und Gerichtsbezirken. Damit sei auch die Grundlage für die in der Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffenen Ortsgemeinden gelegt worden. Wichtig erscheint in diesem Kontext der Befund, dass die numerische Erfassung von Häusern und die Auflistung von Untertanen in Bevölkerungstabellen nicht nur einen egalisierenden, sondern auch einen ausgrenzenden Effekt hatten. So galt es, die von Juden bewohnten Häuser – im Gegensatz zu den anderen Gebäuden, die mit arabischen Ziffern zu beschriften waren – mit römischen Zahlen zu kennzeichnen und sie so auch mit einem äußerlich gut sichtbaren Stigma zu versehen.

Lars Behrisch führt in seinem Text die Entwicklung der Landwirtschaftsstatistik in der Grafschaft Lippe auf die zunehmende Sorge der Landesherren um die ökonomischen Ressourcen des Landes und die Wohlfahrt des Gemeinwesens zurück und betont deren Bedeutung für einen Wahrnehmungswandel des politischen Territoriums als einheitlichen Wirtschaftsraum. Christine Lebeau widmet sich verschiedenen Berichten über Staatshaushalte in Frankreich und in der Toskana im späten 18. Jahrhundert und fragt nach deren Einfluss auf den Wandel von Raumwahrnehmung und -planung sowie nach der wechselseitigen und grenzüberschreitenden Rezeption der entsprechenden Diskurse. Dabei betont sie, dass auch Diskurse und Praktiken der Statistik maßgeblich zur Konstruktion von territorialer/nationaler Einheit in den untersuchten Ländern beigetragen haben.

Etwas aus dem Rahmen fällt der Aufsatz von Matthias Buschmeier und Christian Fieseler über die theoretische Auseinandersetzung mit und die Praxis der Reisebeschreibung bei Johann Wolfgang von Goethe beziehungsweise Friedrich Nicolai und August Ludwig Schlözer. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive widmen sie sich der Frage, inwiefern das wachsende Interesse an Statistiken und Zahlen im 18. Jahrhundert das Genre des Reiseberichts beeinflusst hat. So facettenreich diese Fallstudie auch ist, so lenkt sie doch von der eingangs formulierten Frage nach dem Wechselverhältnis von mathematischen beziehungsweise naturwissenschaftlichen Diskursen und der Praxis politischer Herrschaft etwas ab. Allerdings macht die Berücksichtigung dieses Themas deutlich, dass die Durchsetzung von Maß und Zahl als Wahrnehmungskategorien im 18. Jahrhundert nicht nur politische Diskurse und Praktiken maßgeblich veränderte, sondern dass dieser Prozess als ein umfassender kultureller Perzeptionswandel zu beschreiben ist.

Der eingangs formulierten Selbsteinschätzung Behrischs ist zuzustimmen, dass der Band „keine kohärente Gesamtdarstellung“ der Auswirkung des Diskurses von Maß und Zahl auf Prozesse der Raumwahrnehmung im 18. Jahrhundert bieten kann (S. 18). Dennoch hätte man sich als Leser der Fallstudien zuweilen über eine stärkere Berücksichtigung der in der Einleitung formulierten Schlüsselfragen gefreut. Ein Grund, warum das Buch nur punktuell Aufschluss zu dem umfassenden Fragenkomplex geben kann, ist der sowohl geographisch als thematisch weit gefasste Rahmen des Buches. Die Zusammenschau von Fallstudien zur osteuropäischen und zur westeuropäischen Geschichte ist dabei eher als besonderes Verdienst des Buches hervorzuheben. Das weite Themenspektrum – von der Geschichte der Landvermessung und Kartographie, über die Betrachtung von Statistik und Volkszählung bis hin zu ökonomischen und literarischen Raumdiskursen – behindert dagegen eher die komparative und beziehungsgeschichtliche Zusammenschau der einzelnen Beiträge. Eine stärkere thematische Fokussierung wäre vor diesem Hintergrund gewiss ein Gewinn gewesen.

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Veröffentlicht am
30.01.2008
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