Im April 2021 wurde der Hochhauskomplex Monmousseau im Viertel Les Minguettes bei Lyon gesprengt. Damit endete nicht nur ein Lebensabschnitt für die Bewohner:innen der 197 Haushalte, sondern es verschwand damit zugleich eine Zeitschicht und ein Symbol der Nachkriegsarchitektur der 1960er-Jahre.1 Großsiedlungen wie Les Minguettes oder auch das Märkische Viertel in Berlin hatten die Wohnbaupolitik der 1950er- und 1960er-Jahren in Europa geprägt. Ab Ende der 1960er-Jahre kamen Großsiedlungen als soziale Brennpunkte in Verruf und wurden in den letzten 40 Jahren zurückgebaut, teilweise saniert oder zerstört. Die Sprengung des 15-stöckigen Hochhauskomplexes in Les Minguettes ist charakteristisch für den heutigen Umgang mit Großsiedlungen, die als anonym, unästhetisch und als Orte sozialer Ungleichheit gelten.
Für Wissenschaftler:innen, Journalist:innen und gesellschaftspolitische Akteure wurden urbane Räume im 20. Jahrhundert zu zentralen Arenen der Produktion des Wissens über Differenz in der Gesellschaft. Wie derartige Räume seit den 1950er-Jahren als Spiegel der Gesellschaft gelesen werden, zeichnet Christiane Reinecke in ihrer Habilitationsschrift über urbane Räume in Frankreich und der Bundesrepublik nach.
Reinecke untersucht in Ihrer hervorragenden Studie das Wissen und die Auseinandersetzungen mit Großsiedlungen, peripheren Barackensiedlungen und sogenannten Ausländervierteln zwischen den 1950er- und 1990er-Jahren in der Bundesrepublik und in Frankreich. Es sind nicht die urbanen Räume, sondern deren Produktion und der Blick darauf, der sie interessiert. Als eine „Kultur- und Raumgeschichte des Sozialen“ (S. 12) konzipiert, zeichnet sie die „Geschichte der Skandalisierung urbaner Räume und Wohnverhältnisse“ (S. 13) nach. Dabei blickt sie auf Diskussionen und Mediatisierungen zu ganz unterschiedlichen urbanen Räumen: das Barackenlager Noisy-le-Grand bei Paris, die Waldhof-Baracken bei Mannheim, die drei Großsiedlungen Sarcelles, Les Minguettes, das Märkische Viertel in Berlin oder auch innerstädtische Sanierungsviertel in München. Alle Orte vereint jedoch, dass sie in der Nachkriegszeit als Gegenräume definiert wurden, die von der gedachten Norm abwichen.
Die Untersuchung stützt sich auf eine beeindruckende Anzahl von Quellen aus staatlichen, universitären und privaten Archiven verschiedener Länder, Zeitungen, Studien, Filmen sowie aus Interviews mit Soziologen und Filmemachern. Anhand unterschiedlichster Akteure, Wissenschaftler:innen, Journalist:innen, Kommunalpolitiker:innen oder Vertreter:innen humanitärer Organisationen zeigt Reinecke die Wandlung von „klassenbasierten zu ethnisierten […] Grenzziehungen in den postkolonialen europäischen Stadtgesellschaften des späten 20. Jahrhunderts“ (S. 13). Zudem ist es ihr ein Anliegen, orientiert an Debatten der Postcolonial Studies die „globalen Kontexte, Pfadabhängigkeiten und machtvollen Effekte sozialer Differenzkonstruktionen […] nachzuzeichnen und ihren Einfluss auf Wohnpolitiken und urbane Realitäten“ (S. 18) zu belegen.
Der Vergleich von Frankreich mit der Bundesrepublik hilft Reinecke, die modernistische Neuordnung der Städte und die transnationale Geschichte ihres Auf- und Abstiegs besser nachzuvollziehen. Beide Länder beschrieben sich nach dem Zweiten Weltkrieg als moderne westliche Wohlstandgesellschaften, machten ähnliche „Boom“-Erfahrungen, und der Zuzug einer wachsenden migrantischen Bevölkerung zeigte sich in Städten beider Länder. Auch wenn der migrantische Zuzug aus den ehemaligen französischen Kolonien und die medialisierten Diskussionen um die banlieues eine französische Besonderheit darstellen, kann Reinecke nachweisen, dass die Bundesrepublik und Frankreich ganz ähnlich reagierten und von global zirkulierenden Praktiken, Semantiken und Daten geprägt waren.
Vergleichende Studien zu prekär wahrgenommenen urbanen Räumen in Westeuropa legten unter anderem bereits Annie Fourcaut, Miles Glendinning oder Sebastian Haumann vor.2 Neu ist bei Reinecke jedoch die vergleichende Gegenüberstellung der Diskurse zu urbanen Räumen in Frankreich und Westdeutschland, aber auch der Fokus auf die „Beobachter“, wie Wissenschaftler:innen, Journalist:innen oder Sozialarbeiter:innen.
Nach einer thematischen Einführung untersucht die Studie in einem zweiten Kapitel anhand der Auseinandersetzung mit französischen bidonvilles und deutschen Notunterkünften in den 1950er- und 1960er-Jahren, welche Hierarchien und Ordnungsmuster mit den Diskussionen um einen modernen Wohnstil verbunden waren. Reinecke zeigt am Beispiel des Barackenlagers Noisy-le-Grand bei Paris, wie dieses als Raum der Abweichung „jenseits der Moderne“ (S. 73) entdeckt, medialisiert und untersucht wurde. Als Vergleichsbeispiel in Deutschland untersucht Reinecke anschließend den Umgang mit wohnungslos gewordenen Familien in westdeutschen Städten. Am Beispiel von Siedlungen in Köln und der Waldhof-Siedlung in Mannheim wird der veränderte Umgang mit Wohnungslosen nachvollzogen, der sich als Wandel von „Projekten der Disziplinierung zu Projekten der Aktivierung“ (S. 96) beschreiben lässt. In einem Zwischenfazit stellt die Autorin einen Wandel ab den 1970er-Jahren fest. Wohnungslosigkeit wurde nicht mehr als Problem der Betroffenen selbst, sondern als Folge des Krieges und einer verfehlten staatlichen Wohn- und Sozialpolitik begriffen. Dadurch wurden die Siedlungen zu „Erprobungsräumen für neue Ansätze der sozialen Arbeit“ (S. 117), welche die Wohnungslosen nicht disziplinieren, sondern aktivieren und eine soziale „Hebung“ bewirken wollen. Eng verknüpft damit war eine zunehmende Nachfrage von Seiten der Kommunen an soziologischen Studien zu den randstädtischen Siedlungen. In den 1970er-Jahren wuchs in Westeuropa generell die „Nachfrage nach Wissen über Gesellschaft“ (S. 130).
Im dritten Kapitel analysiert Reinecke am Beispiel der Großsiedlungen der Nachkriegsjahrzehnte, wie diese durch Wissenschaft, Medien und Politik als urbane Problemzonen wahrgenommen wurden. Dies verdeutlicht sie an den Beispielen der französischen Großsiedlung Sarcelles in der Region von Paris und des Märkischen Viertels in West-Berlin. Beide Viertel wurden zum „Inbegriff der Probleme des Massenwohnens“ (S. 143) und verfügten bereits vor ihrer Fertigstellung in den 1960er- bzw. 1970er-Jahren über ein schlechtes Image. Der anfänglichen Euphorie über eine moderne, neue Gesellschaftsordnung mit einer durchmischten Bevölkerung wich bald die Kritik gegenüber den Siedlungen, die zu „Räumen der sozialen Kälte“ (S. 170) wurden. In Deutschland und Frankreich stellt Reinecke vergleichend einen sogenannten „Psychoboom“ (S. 220) bei der Analyse der Großsiedlungen fest, einen starken Einfluss der marxistischen Stadtkritik und neue Leitvorstellungen einer authentischen Urbanität ab den 1970er-Jahren.
Im vierten Kapitel untersucht Reinecke die Karriere von Ghettoisierungs- und Segregationsnarrativen. Inspiriert von Ghettoisierungstendenzen in den USA glaubten deutsche und französische Akteure an eine Abfolge von Segregation, Ghettoisierung und Desintegration, die es vor Ort zu verhindern gelte. Die westeuropäische Gesellschaft verstand sich zwar ab den 1970er-Jahren zunehmend als multikulturelle Gesellschaft, versuchte jedoch den Anteil an Migranten zu regulieren. Sehr anschaulich beschreibt Reinecke, wie in Frankreich eine „Toleranzschwelle“ von 15 %, in Westdeutschland ein Anteil von 12 % von Ausländern in einem Viertel erfunden wurde, der nicht überschritten werden dürfe, um eine Ghettoisierung zu verhindern. Während die urbanen Problemzonen in Westdeutschland jedoch eher innerstädtische Sanierungsgebiete waren, betraf dies in Frankreich eher vorstädtische Großsiedlungen wie Les Minguettes bei Lyon. Eine „Migrantisierung […] urbaner Problemlagen“ (S. 320), die nicht mehr zwischen Klassen, sondern zwischen Ethnien und „Rassen“ differenzierte, war in beiden Ländern ab den 1970er-Jahren zu beobachten.
Die Studie hinterfragt auf überzeugende Weise gängige Erzählungen vom Wirtschaftswunder nach dem Krieg, zeigt die Verunsicherung und die Zweifel der Zeitgenossen an der Modernisierung auf, die Veränderung in der sozialen Arbeit von einer Disziplinierung hin zu einer Aktivierung der Betroffenen sowie nicht zuletzt eine veränderte Wohnungspolitik, welche auf eine bewusste Durchmischung der Bevölkerung drang.
Die Stärke der Studie liegt erstens darin, die Diskurse und Beobachtungen zu urbanen Problemzonen zwischen 1950 und 1990 zu hinterfragen. So zeigt Reinecke, wie das soziologische Zentrum CADIS noch in den 1980er-Jahren Problemlagen von Jugendlichen mit dem Verschwinden der Arbeiterklasse zu erklären versuchte (S. 295). Zweitens wird durch den Vergleich von Westdeutschland und Frankreich deutlich, wie beide Länder ganz ähnlich urbane Probleme durch die Aktivierung von Bewohner:innen, einen festgelegten Höchstanteil von Migranten oder eine verstärkte wissenschaftliche Beobachtung zu lösen versuchten. Nationale Spezifika wie ein starkes Klassenbewusstsein in Frankreich bis in die 1980er-Jahre hinein und der westdeutsche Fokus auf einkommensschwache, deutsche Familien statt auf Migranten in Fragen der Wohnungsnot treten umso deutlicher hervor. Insgesamt eine faszinierende Untersuchung, welche die Vorstellungen von Modernität in der Nachkriegszeit und nationale Ideen von Klasse, Ethnie und „Rasse“ nicht nur für Westeuropa dekonstruiert.
Anmerkungen:
1 Ville de Vénissieux: Démolition de la barre Monmousseau, URL: https://www.ville-venissieux.fr/Actualites/Demolition-de-la-barre-Monmousseau (07.09.2021).
2 Annie Fourcaut, Le cas français à l’épreuve du comparatisme, in: Frédéric Dufaux / Paul Chemetov (Hrsg.), Le monde des grands ensembles, Grâne 2004, S. 15–19; Miles Glendinning, Mass Housing: Modern Architecture and State Power – a Global History, London 2021; Sebastian Haumann / Georg Wagner-Kyora (Hrsg.), Informationen zur modernen Stadtgeschichte. Themenschwerpunkt: Westeuropäische Großsiedlungen, Berlin 2013.