P. Owens u.a. (Hrsg.): Women's International Thought

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Titel
Women's International Thought. A New History


Herausgeber
Owens, Patricia; Rietzler, Katharina
Erschienen
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
£ 22.99
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Jan Stöckmann, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Seit einiger Zeit wird in den Internationalen Beziehungen (IB) über die Geschichte der eigenen Disziplin diskutiert. War das Feld anfangs wirklich von Idealisten durchsetzt, wie es der Historiker und selbsterklärte Realist E. H. Carr einst behauptete? War 1919 tatsächlich das Gründungsjahr der IB? Welche Rolle spielten Imperialismus und Rassismus in der sich entwickelnden Universitätsdisziplin? Diese Fragen adressieren zwar in erster Linie ein retrospektives Interesse innerhalb der IB, eröffnen jedoch auch die Möglichkeit, viel grundsätzlicher über wissenschaftsgeschichtliche Dynamiken nachzudenken. Was wäre, wenn man die Arbeiten von Frauen und ihre Erfahrungen mit Sexismus und Rassismus seit dem späten 19. Jahrhundert berücksichtigte?

Einen solchen Versuch unternehmen Patricia Owens und Katharina Rietzler mit ihrem Sammelband, der aus einem gleichnamigen Leverhulme-Forschungsprojekt an der Universität Sussex hervorgegangen ist. Er richtet sich an ein Fachpublikum, dürfte aber selbst über die IB hinaus für Aufsehen sorgen. Denn das Ergebnis ist eine fulminante Revision der internationalen politischen Theorie vom späten 19. bis ins mittlere 20. Jahrhundert. Frauen ernst zu nehmen – sowohl ihre Ideen als auch ihre Biographien – ist das zentrale Vorhaben und zugleich der Appell dieses Buchs. Dabei geht es den Herausgeberinnen nicht nur darum, in Vergessenheit geratene Frauen dem IB-Kanon hinzuzufügen, sondern ihre spezifischen Standpunkte samt ihrer intersektionalen Benachteiligungen aufzuarbeiten. Zugleich müsse man darauf achten, so die Herausgeberinnen, historische Frauen trotz ihrer mitunter beeindruckenden Lebensläufe nicht zu heroisieren oder sie in vermeintlich trennscharfe Denkschulen (siehe Carr) einzusortieren.

Auf die programmatische Einführung der Herausgeberinnen folgen in drei Teilen insgesamt fünfzehn Essays, die sich je einer historischen Denkerin widmen, meist auf Grundlage umfangreicher Quellenrecherche. Wie Owens und Rietzler sind alle Autor:innen ausgewiesene Expert:innen und verleihen dem Buch einen interdisziplinären Charakter. Auffällig ist allenfalls eine anglo-amerikanische Schlagseite, die sich auch in den Untersuchungsgegenständen widerspiegelt und im Zuge weiterer Studien ergänzt werden müsste. Zweckmäßig erscheint hingegen die Eigenständigkeit der Beiträge, die trotz gelegentlicher Querverweise auch einzeln gelesen und angesichts ihres Gesamtumfangs hier nur fragmentarisch besprochen werden können.

Im ersten Teil geht es um vier Frauen – Anna Julia Cooper, Rosa Luxemburg, Simone Weil und Eslanda Robeson –, deren praktisches Wirken in der Literatur bereits gewürdigt worden ist, während ihre intellektuellen Leistungen weitgehend unbekannt sind. So zeigt Vivian M. May in ihrem Beitrag, dass die afroamerikanische Autorin und Pädagogin Cooper bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts über internationale Solidarität zwischen schwarzen Frauen sprach, bevor sie 1925 an der Pariser Sorbonne mit einer Arbeit über die französische Haltung zur Sklaverei promoviert wurde. Dabei nutzte Cooper oft Anspielungen und rhetorische Kunstgriffe, um ihren Ansichten Ausdruck zu verschaffen und die teils rassistisch motivierte Geringschätzung ihrer Kollegen zu kontern. So kehrte sie den zeitgenössischen Begriff „Rassenproblem“ einfach um und bezeichnete stattdessen weiße Vorherrschaft als das wahre Problem. Neben den inhaltlichen Erkenntnissen zu Coopers Werk diskutiert May auch die methodischen Herausforderungen, über eine produktive Denkerin ohne geordneten Nachlass zu schreiben. May nennt es Coopers „gedämpfte Stimme und Ideen hören“ [„hear her muffled voice and ideas“] (S. 29). Mit anderen Worten: Sie verfolgt Coopers eigene Versuche, den Unterdrückten eine Stimme zu geben.

Der zweite Teil widmet sich weniger bekannteren Denkerinnen, die außerhalb oder an den Grenzen der Wissenschaft tätig waren – Elizabeth Lippincott McQueen, Helena Swanwick, Vera Brittain, Mary Agnes Hamilton, Amy Ashwood Garvey, Mittie Maude Lena Gordon und Elizabeth Wiskemann. Diese Frauen schrieben und referierten vielfältig über internationale Beziehungen, erlangten allerdings weder berufliche Anerkennung an Universitäten noch einen Platz im wissenschaftlichen Kanon. Exemplarisch für diese Gruppe ist Wiskemann, eine Historikerin deutsch-britischer Abstammung, die aufgrund der stiefmütterlichen Betreuung ihrer Doktorarbeit durch den Cambridge-Historiker Harold Temperley zunächst eine journalistische Karriere einschlug, dort allerdings brillierte und sich rasch ein internationales Netzwerk erschloss. Auf Einladung des IB-Experten und Forschungsdirektors des Londoner Chatham House Arnold Toynbee schrieb Wiskemann 1937 eine viel beachtete Studie über die tschechisch-deutsche Frage. Im Zweiten Weltkrieg war sie als Regierungsberaterin tätig, bevor sie in Italien und Deutschland wieder journalistisch arbeitete. Schließlich wurde sie im Alter von 59 Jahren auf den Montague-Burton-Lehrstuhl für IB in Edinburgh berufen, der allerdings keine auskömmliche Bezahlung vorsah und daher für eine vollwertige akademische Laufbahn eher unattraktiv war. Obwohl Wiskemann im Laufe ihrer Karriere zahllose Artikel, Rezensionen und insgesamt zehn Bücher schrieb, blieb sie in der wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Randerscheinung und ihr Werk geriet in Vergessenheit – zu Unrecht, wie Geoffrey Field in seinem Beitrag über Wiskemann zeigt.

Schließlich umfasst der dritte Teil sechs Beiträge über Frauen, die zwar akademische Berufe ausübten, aber aufgrund vielfältiger Diskriminierungen – teils auch ausbeuterischer Arbeitsbeziehungen – nicht die wissenschaftliche Anerkennung ihrer männlichen Kollegen erhielten. In diese Gruppe fallen F. Melian Stawell, Emily Greene Balch, Merze Tate, Barbara Wootton, Vera Micheles Dean und Krystyna Marek. Die vielleicht beeindruckendste Persönlichkeit unter ihnen war die afro-amerikanische Lehrerin, IB-Expertin und spätere Professorin Merze Tate. Ihr akademischer Werdegang begann mit einem Besuch der Genfer Sommerakademie des britischen Historikers Alfred Zimmern im Jahr 1931, wo sie ihr Interesse für internationale Politik und Abrüstungsfragen entwickelte. Als erste Afro-Amerikanerin erlangte sie 1935 einen Abschluss von der Universität Oxford, wobei sie zunächst unter Zimmern, später mit Unterstützung der Historikerin Agnes Headlam-Morley arbeitete. 1941 wurde sie in Harvard promoviert und trat im Jahr darauf eine Stelle an der Howard University an. Ihr erstes Buch The Disarmament Illusion kam 1942 heraus und bot eine kritische Diskussion der internationalen Abrüstungsbemühungen im Rahmen der Haager Friedenskonferenzen bis 1907. In ihrem Beitrag über Tate würdigt Barbara D. Savage die Arbeit als ausgewogen und profund, was sich bereits in zeitgenössischen Rezensionen spiegelte. In den 1940er-Jahren beschäftigte Tate sich ausgiebiger mit den globalen Implikationen weißer (Kolonial-)Herrschaft sowie der Rolle der neu gegründeten Vereinten Nationen. Trotz zahlreicher hochkarätiger Publikationen, darunter eine Studie zur Annexion Hawaiis, sind Tates Arbeiten heute kaum bekannt, wie Savage beklagt.

Die Dreigliederung der Denkerinnen nach dem Grad ihrer Ausgrenzung ist naheliegend, sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der vorliegende Band auch eine Reihe weiterer struktureller Beobachtungen ermöglicht. Zunächst lässt sich feststellen, dass keineswegs alle Frauen einen feministischen Ansatz in den IB verfolgten, obwohl viele in Organisationen wie der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF) assoziiert waren. Wiskemann beispielsweise, die offenkundig von Diskriminierung betroffen war, hatte bestenfalls ein ambivalentes Verhältnis zum Feminismus. Aber auch progressivere Frauen vertraten nicht geradewegs essentialistische Positionen wie Eslanda Robeson, die Frauen schon wegen ihrer Rolle als Mütter besondere Eigenschaften zusprach. Die meisten Argumente verliefen deutlich komplexer.

Besonders hervorzuheben ist die Sensibilität vieler Denkerinnen für koloniale und rassistische Machtstrukturen, besonders im globalen Kontext. So erkannte Tate früh die rassistische Dimension des Abessinien-Konfliktes, dessen Verhandlung vor der Genfer Völkerbundversammlung sie selbst beiwohnte. In den 1940er-Jahren verurteilte sie die Vereinigten Staaten dafür, schwarze Soldaten in den Krieg ziehen zu lassen, während ihnen in der Heimat nicht einmal formal gleiche Rechte zuteilwurden. Zugleich wies sie darauf hin, dass „dunkelhäutigere Völker“ [„darker peoples“] (S. 277) nicht länger bereit wären, unter weißer Vorherrschaft zu leben, und mahnte ähnlich wie Cooper zu internationaler Solidarität zwischen den Unterdrückten. Letzterer Aspekt wird auch bei Mittie Maude Lena Gordon deutlich, die 1932 in Chicago die einflussreiche Peace Movement of Ethiopia gründete und sich in den 1930er-Jahren besonders für eine afro-asiatische Allianz gegen weiße Kolonialherrschaft stark machte (damit allerdings in problematische Nähe zum japanischen Imperialismus rückte).

Vielleicht am auffälligsten ist die breite Ablehnung theoretischer Abstraktion unter den hier versammelten Denkerinnen. So schreibt Or Rosenboim über die britische Ökonomin Barbara Wootton, sie habe einen „praktisch getriebenen Ansatz“ [„practice-driven approach“] (S. 304) verfolgt. Auch Wiskemann sei skeptisch gegenüber geopolitischer Theorie gewesen, so Field. Selbst die französische Philosophin Simone Weil entwickelte ihre Gedanken vornehmlich durch ihr eigenes politisches Engagement, wie Helen M. Kinsellas Beitrag zeigt. Trotzdem betonen die Autor:innen, dass ihre Protagonistinnen substantiell zu inhaltlichen Debatten und zur Theoriebildung beitrugen. Dazu versuchen sie „mit“ ihren Protagonistinnen zu denken [„theorize with“] (S. 158) und „ihrer Praxis eine Logik zuzuschreiben“ [„impute(d) a logic into (Amy Ashwood's) praxis“] (S. 161). Ob dieser Ansatz alle Leser:innen überzeugen wird, ist offen. Ein lohnender Versuch ist es jedenfalls. Ohnehin müsse man in Rechnung stellen, so die Herausgeberinnen, dass das etablierte Theorieverständnis von „weißem Androzentrismus“ [„white androcentrism“] (S. 14) geprägt und daher reformbedürftig sei.

Hiergegen könnte man freilich einwenden, dass auch männliche Vertreter der IB bis in die 1950er-Jahre kaum wissenschaftstheoretische Kohärenz vorweisen konnten. Weder Zimmern noch Toynbee traten mit theoretischen Traktaten hervor, sondern machten sich vor allem als Empiriker und Politikberater einen Namen. Auch sie veröffentlichten Pamphlete und engagierten sich in Nichtregierungsorganisationen. Vielleicht litt die IB-Forschung des frühen 20. Jahrhunderts also insgesamt unter einer gewissen theoretischen Unreife. So ließe sich auch erklären, warum in den 1920er-Jahren zumindest einige Frauen in der Fachgemeinschaft anerkannt waren, während die amerikanisch dominierte, stark formalisierte IB-Wissenschaft der Nachkriegszeit bis in die 1980er keine Notiz von Frauen oder feministischen Diskursen nahm.

Wie auch immer man diese offenen Fragen sehen mag: Die hier präsentierten intellektuellen Biographien fordern unser etabliertes Theorieverständnis auf eindrucksvolle Weise heraus und werfen ein Schlaglicht auf bisher vernachlässigte Diskurse. Wer verstehen will, wie die internationale Politikwissenschaft zu ihrer heutigen Form gekommen ist, muss dieses Buch lesen und Frauen ernst nehmen.

Redaktion
Veröffentlicht am
02.07.2021
Beiträger
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Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/