Dass die russische Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert weitgehend in der Hand deutschsprachiger Gelehrter war, die einander förderten und in vielen Fällen in Göttingen studiert hatten, bevor sie eine Anstellung in Russland fanden, ist seit langem bekannt. Den Historikern ist aber die besondere Beziehung der Universität Straßburg zu Russland entgangen. Der von Rodolphe Baudin und Alexandra Veselova herausgegebene Band über Louis Henri de Nicolay, den Hofmeister des russischen Kaisers Paul I. und späteren Präsidenten der Akademie der Wissenschaften entspricht einem Versuch, dieses Versäumnis zu korrigieren.
In einer längeren von Rodolphe Baudin unterschriebenen Einleitung wird die Rolle der Universität Straßburg für die russisch-deutschen und russisch-französischen Beziehungen im 18. Jahrhundert detailreich beschrieben. Es geht um ein transnationales Netzwerk, das arbeitslosen Akademikern, Stellen im entfernten Rußland verschafft. Es geht aber auch um russische Studenten aus edlen Kreisen, die in Straßburg die Möglichkeit einer gleichzeitig französischen und deutschen Ausbildung wahrgenommen haben. Der Historiker Schoepflin war einer der ersten Straßburger Gelehrten gewesen, die sich zeitweilig an der russischen Akademie der Wissenschaften aufhielten und Studenten, insbesondere Mediziner, ermunterten, sich an der Universität Straßburg immatrikulieren zu lassen. Mehr als 138 Studenten aus dem russischen Reich kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Straßburg. Manche unter ihnen bekamen ein Stipendium von der Familie Golytsin. Im Anschluss an die Forschungen von Vladislav Rjeoutski wird in der Einleitung darauf hingewiesen, dass viele Straßburger sich in Russland niederließen. Nicolay, der als Student Diderot und d’Alembert gekannt hatte, war einer von ihnen. Er hatte als Hofmeister Alexei Razumovski während seiner Grand Tour begleitet und wurde anschließend zum Erzieher des Großherzogs Paul ernannt. Damit wurde seine Laufbahn am Petersburger Hof wesentlich erleichtert. Nicolay lebte in Sankt Petersburg in derselben Wohnung wie sein Kommilitone der Bibliothekar und Freund La Fermière und beschrieb in Briefen an den Colmarer Dichter Pfeffel ihre gemeinsame Wohneinrichtung.
Nach dieser aufschlussreichen Einleitung konzentriert sich ein von Dorothée Rusque geschriebenes Kapitel auf die russischen Kontakte des Naturwissenschaftlers Jean Hermann, der einen langen Briefwechsel mit den ersten Erforschern des sibirischen Raums wie Peter Simon Pallas unterhielt. Hermann sammelte gern die Publikationen, die sich auf die russische Natur bezogen und war beispielsweise im Besitz der Flora sibirica von Gmelin. Rodolphe Baudin und Wladimir Berelowitch untersuchen im darauffolgenden Kapitel das russische Netzwerk von Christophe Guillaume Koch, der einen Umgang mit Goethe und Schoepflin in Straßburg pflegte, als Bibliothekar von Schoepflin tätig war, und eine Geschichte Russlands publizierte. Er war in einer diplomatischen Schule tätig, die auch den jungen Russen juristische und historische Kenntnisse beibrachte. Koch war mit der Familie Golitsyn eng befreundet. Er hielt eine Vorlesung über die Geschichte Russlands, die sich in einer systematischen Erzählung der Kriege und Friedensverträge erschöpfte. Zu den von ihm ausgewerteten Quellen gehörten die Briefe Algarottis, Büschings Geographie, die Sammlung russischer Geschichte von Gerhard Friedrich Müller. Ohne sie explizit zu erwähnen, benutzte er auch die Geschichte Russlands von Pierre-Charles Lévesque. Koch schöpfte viele Anregungen aus der deutschsprachigen Geschichtsschreibung. Das Fazit des Kapitels ist allerdings die Überzeugung, dass Koch vor allem Materialien kompiliert hat, ohne sich über die Logik seiner Darstellung viele Gedanken zu machen.
Der Aufsatz von Moritz Ahrens über Nicolay als Schriftsteller erwähnt den Einfluss von Christoph Martin Wieland. Der in Russland etablierte junge Hofmeister des künftigen Kaisers Pauls I. konnte sich erneut der Literatur widmen. Sein erstes Werk Elegien und Briefe war 1760 veröffentlicht worden. 1773 publizierte er dank seinen Kontakten zu elsässischen Verlegern Verse und Prosa. Die Erzählung Das Schöne wurde zu Beginn der 1780er Jahre ins Französische übertragen und von Ramler in Berlin öffentlich gelesen. Nicolay übersetzte Tacitus, und seine Rede an den Großfürsten, eigentlich ein Gedicht, erzielte einen großen Erfolg. Den Erben der Aufklärung erklärt man allerdings an seinem kritischen Gedicht über die Zensur, das 1778 in den Vermischten Gedichten erschien. In ihrem sehr informativen Beitrag zeigt Natalia Prokhorenko was Nicolay als Präsident der Akademie an Neuerungen leistete. Er bemühte sich um eine Art von Selbstverwaltung der Akademie und sorgte für ein inneres Reglement.
Man kann sich kaum mit dem Werk von Nicolay befassen ohne auf sein Gut Monrepos bei Wyborg aufmerksam zu werden. Das Schloss und der Park waren für Nicolays russisches Schicksal besonders wichtig. Im Park wurde eine Statue von Narziss aufgestellt, deren kunsthistorische Bedeutung von Ioulia Mochnik ud Mikhaïl Efimov eingehend dargestellt wird, während Anna Ananieva einen Beitrag der Poetik des Gartens widmet. Briefe an Voss, Stolberg, Nicolaï, Parallelen mit dem dichterischen Werk von Salomon Gessner oder mit Gemälden von Hackert vermitteln laut ihrer Deutung einen Eindruck von der Bedeutung des Gartens in Nicolays Werk. Alexandra Veselova macht uns mit den wenig schmeichelhaften Erwähnungen von Nicolay in der russischsprachigen Biographik vertraut. Sehr willkommen ist als Ausklang dieser Monographie der Aufsatz von Mikhaïl Efimov über die Figur eines trockenen Deutschen im Roman Khiukla von Tynianov. Nicolay war ja die Verkörperung des trockenen Deutschen für den späteren Schriftsteller. Das Leben von Nicolaÿ illustriert einen trilateralen Kulturtransfer zwischen Deutschland, Frankreich und Russland. Sogar der Park von Monrepos ist eine Art Begegnungsort von Momenten der finnischen, der deutschen, französischen und russischen Kulturen. Einzelne Briefe, die zum ersten Mal veröffentlicht waren, liefern neue Informationen über das Leben Nicolays in Sankt-Petersburg, über die Einrichtung seiner Wohnung, über seine Privatstunden in Russisch. Auch eine chronologische Tafel vermittelt einen Überblick über die vielfältigen Tätigkeiten von Nicolay, der noch kurz vor seinem Tode Racine ins Deutsche übersetzte.
Rodolphe Baudinund Alexandra Veselova verschaffen den Historikern ein sehr nützliches Buch. Wir verfügen jetzt endlich über eine Biographie von Louis Henri de Nicolay die ein besseres Verständnis des russisch-deutschen Netzwerkes von Gelehrten und Studenten um 1800 ermöglicht. Mehrere Beiträge sind aus dem Englischen oder dem Russischen übersetzt, so dass wir es mit einem transnationalen Forschungsergebnis zu tun haben. Auch der Stand der Forschung wird in den Aufsätzen berücksichtigt, die eine Fülle von historischem Material über die Rolle von Straßburg in den russisch-französischen Beziehungen liefern. Auch wenn die detaillierten Übersichten über einzelne Teilaspekte den Leitfaden ab und zu in den Hintergrund rücken, unsere Kenntnisse des trilateralen Kulturtransfers zwischen Russland, Deutschland und Frankreich haben durch dieses Buch viel gewonnen.