A. M. Busse Berger: The Search for Medieval Music in Africa and Germany

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Title
The Search for Medieval Music in Africa and Germany, 1891-1961. Scholars, Singers, Missionaries


Author(s)
Busse Berger, Anna Maria
Series
New material histories of music
Published
Extent
360 S.
Price
$55.00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Jutta Toelle, Gustav Mahler Privatuniversität für Musik, Klagenfurt

Nichts weniger als eine alternative Musikgeschichte Deutschlands will dieser Band schreiben. Und indem er ein Geflecht von Interaktionen verschiedenster Akteure präsentiert, von Mediävisten, Missionaren und Musikwissenschaftlern, rücken andere Dinge – Laienmusik, Missionsmusik, die Suche nach mittelalterlicher Musik – in den Vordergrund, während die musikalische „Hochkultur“, Konzerthäuser, Komponisten und Symphonieorchester, im Hintergrund immer unschärfer werden.

Die Autorin hat sich einer Triangulation (oder eher einer „Polyangulation“) bedient, um verschiedene gleichzeitig ablaufende, immer wieder miteinander verknüpfte Prozesse aufzuzeigen: die Herausbildung einer neuen wissenschaftlichen Disziplin (der Vergleichenden Musikwissenschaft als frühem Strang der Ethnomusikologie), die Entstehung und das Florieren der gemeinschaftlichen Musikbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts und die Geschichte der deutschen (meist protestantischen) Missionare und ihrer musikalischen Interessen in der Kolonie Tanganjika. Alle drei Großthemen sind durch eine Vielzahl von Fäden miteinander verbunden, und die Akteure sind alle voneinander beeinflusst. Teilweise sind es sogar dieselben Akteure, die auf den verschiedenen Feldern aktiv waren.
Das Garn, aus dem das Geflecht gemacht ist, welches die drei Hauptthemen miteinander verbindet, ist die Forschung nach und die Wiederentdeckung von mittelalterlicher Musik sowie eine damit verbundene, neue Musikpraxis, die in den gemeinschaftlichen Musikbewegungen in Deutschland und in den Kolonien ausprobiert und reflektiert wurde („all mission societies, with one exception, believed that medieval and African music were similar. And since most missionaries came from the Jugendmusik- and Singbewebung, they believed in participatory music making”, S.8). All dies dient als Folie für Busse Bergers Fallbeispiele: die musikalischen Praxen verschiedener Missionsorden in Ostafrika.

Wie die Autorin dieses Geflecht dann ausfüllt, ist einerseits sehr faszinierend. Durch ausführliche Quellenarbeit, u.a. in Herrnhut (bei den Böhmischen Brüdern, den Moravians) und anderen Missionsarchiven, in Tansania und bei den Nachkommen der betreffenden deutschsprachigen Missionare (zu denen die Autorin selbst auch gehört) hat sie eine solche Vielzahl von Materialien zusammentragen, dass die Gliederung ihr – andererseits – ganz offensichtlich auch selbst schwergefallen ist. Das ganze Geflecht von außen zu betrachten, gestaltet sich also auch für die Leser*in schwierig; gerne hätte sie es etwas stringenter gehabt.

Die Versuche der Missionare, vor Ort eine Musikpraxis zu etablieren, unterschieden sich weltweit nur gering voneinander. Natürlich gab es in der katholischen Kirche sehr strenge Vorgaben, und die Ansichten der Missionare, was die Qualität der Musik der Menschen vor Ort betraf, gingen weit auseinander. Das Problem aber blieb immer das gleiche: sollten Missionare europäische Musik einführen? Sollten sie hybride, neue Musiken schaffen oder versuchen, sich so weit wie möglich auf die Musik des Ortes einzulassen und diese in den Gottesdienst und den Alltag zu integrieren? Die in Missionsstationen und -dörfern entstandene Musikpraxis lässt sich meist irgendwo entlang des Kontinuums zwischen europäischer und traditioneller Musik verorten, und die Autorin des vorliegenden Buches führt faszinierende Beispiele für hybride Musikpraxen an, während sie ganz nebenbei immer wieder Wissenslücken stopft.

Teil 1 des Buches stellt die Pioniere der Vergleichenden Musikwissenschaft vor, einer Disziplin, die von unterschiedlichsten Wissenschaftlern im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts geprägt wurde. Das „vergleichende“ an der neuen Disziplin, angelehnt an die Vergleichende Linguistik Wilhelm von Humboldts, untermauerten sie mit dem Berliner Phonogramm-Archiv, das Aufnahmen von Musiken aus der ganzen Welt sammelte. Die Fragen nach der Herkunft und Entstehung von Musik und danach, wie die verschiedensten Musikstile sich entwickelt hatten, beantwortete man mit Vergleichen der ältesten notierten europäischen Musik – aus dem Mittelalter – mit vermeintlich „primitiver“ Musik, die Missionare in Afrika aufgenommen hatten.
Am Ende des Kapitels und der langen Reihe von Europäern, die vorgestellt werden, findet schließlich auch ein afrikanischer Wissenschaftler Erwähnung, Nicholas G.J. Ballanta. Der Komponist, Kirchenmusiker und vergleichende Musikwissenschaftler, der aus Sierra Leone stammte, in Durham (UK) promoviert wurde und 1927 der erste Guggenheim Fellow der New Yorker Stiftung im Musikbereich war, war aber mitnichten ein bloßes „Missionsobjekt“, und beileibe kein Missionierter, der seine Seite der Mission darstellt: Postkoloniale Perspektiven sind komplizierter.

Teil 2 des Buches behandelt die Jugendmusik- und Singbewegung und ihre Versuche der Wiederaufführung mittelalterlicher Musik, während Teil 3 an den Schnittstellen der Vorgeschichten aus Teilen 1 und 2 die Arbeit von vier deutschsprachigen Missionsgesellschaften in Ostafrika erläutert: die Herrnhuter, die Leipziger Missionsgesellschaft, die Bethel Mission und die katholischen Missionsbenediktiner St. Ottilien.

Das Buch präsentiert tatsächlich eine spannende, komplett neue Perspektive auf die Musikgeschichte des frühen und mittleren 20. Jahrhundert und verschiebt den Fokus der Lesenden, mehrfach und immer wieder: auf die Suche nach der Musik des Mittelalters, auf afrikanische Musik, auf Fragen der Missionarspraxis, auf Laienmusik und auf völlig unbekannte Zusammenhänge.

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18.11.2022
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