Religiöse Orte oder Kultstätten, die aus unterschiedlichen Gründen gleichzeitig von mehreren religiösen Gruppen beansprucht und genutzt werden, sind innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte zum Gegenstand einer faszinierenden interdisziplinären Debatte geworden. Die Religionswissenschaftlerin Evelyn Reuter hat mit ihrer nun veröffentlichten Dissertation über das an der albanisch-nordmazedonischen Grenze gelegene Kloster Sveti Naum zu dieser Debatte einen bedeutenden Beitrag geleistet. Das Kloster wurde gegen Ende des 9. Jahrhundert durch den lokalen Heiligen und Wunderheiler Naum gegründet. Allerding entwickelte sich im Laufe der Zeit auch die Legende, der im 13. Jahrhundert lebende türkische Derwish Sari Saltuk sei ursprünglich im Kloster begraben, womit dieser deshalb mit dem Heiligen Naum identifiziert wurde. Aus Gründen der Ehrweisung gegenüber Saltuk, im Glauben an die auch in der Gegenwart wirkenden Wunderkräfte Naums wie auch mit Blick auf das jährliche Klosterfest als lokaler Tradition besuchen auch mazedonische, insbesondere die türkischen Bektaschis, und albanische Muslime das Kloster (S. 240 ff., S. 358).
Insofern ist das Kloster in der Tat ein geteilter religiöser Ort, dessen Rolle und Bedeutung sich jedoch nicht unter ein eindeutiges Schema, etwa hierarchischer Machtverhältnisse oder kollektiver ethno-religiöser Identitäten, bringen lässt. Aus diesem Grund stellt die Autorin den Begriff der Mehrdeutigkeit ins Zentrum ihrer analytischen Perspektive und nähert sich dem religionswissenschaftlichen Verständnis dieses Ortes unter der Frage: „Welche diskursiven Strategien formen mehrdeutige geteilte religiöse Orte?“ (S. 24). Mit der Ausgangsdiagnose der Mehrdeutigkeit entzieht sich Reuter damit zunächst auf konzeptueller Ebene der zumeist sehr konträren Gegenüberstellung von zwei, für die Debatte über geteilte heilige Orte, zentralen Positionen. Insbesondere Robert M. Hayden betonte, dass die gemeinsame Nutzung heiliger Orte durch mehrere religiöse Gemeinschaften prinzipiell konfliktträchtig sei, häufig durch übergeordnete, konträre politische Interessen konterkariert werde und deshalb nur unter den Bedingungen mehr oder weniger eindeutiger Machtverhältnisse in die Form einer „antagonistischen Toleranz“ gebracht werden könne.1 Glenn Bowman und andere Anthropolog*innen verwarfen hingegen die Vorstellung einer inhärenten Konflikthaftigkeit solcher Orte und verwiesen auf existierende Kooperationsbeziehungen religiöser Gruppen in der Organisation religiöser Praktiken und Rituale sowie auf die Multiplizität von kollektiven Identitäten und deren situative Aushandlung.2 Reuter platziert sich mit ihrer Studie in dieser Debatte, vermeidet aber die Engführungen, die mit diesen Positionen verbunden sind.
Das Buch entfaltet die These der Mehrdeutigkeit auf der Basis umfangreicher historischer Arbeiten, Archivstudien und einer einjährigen „mobilen“ ethnographischen Feldforschung in neun Kapiteln. Im ersten, aus drei theoretisch und historisch orientierten Kapiteln bestehenden Teil des Buches, erarbeitet Reuter zunächst die These, dass sowohl der Heilige Naum als auch das Kloster mehrdeutige geteilte religiöse Orte sind, die sich an der Schnittstelle religiös-kultureller Deutungsprozesse befinden. Diese Schnittstelle ist dabei einerseits geographischer und kollektivgeschichtlicher Natur, denn das Kloster befand sich in den verschiedenen geschichtliche Phasen seiner Existenz im Einflussbereich unterschiedlicher politischer Mächte und gerade seine (heutige) Lage als Grenzort verweist darauf, wie eng die Entstehung solcher Orte und die für sie typischen Formen der Heiligenverehrung im weiten Überlappungsbereich Europas und der muslimischen Welt mit Grenzverschiebungen im Kontext politisch-militärischer und imperialer Expansion und den sich dynamisch verändernden, religiösen Zugehörigkeiten und Raumordnungen verbunden sind.
Unter dem Titel „Das Kloster Sveti Naum als Wimmelbild“ versammelt die Autorin im zweiten Teil der Studie dann in fünf Kapiteln eine faszinierende Vielzahl von Befunden und Thesen aus der ethnographischen Feldforschung. Dabei greift nun in erster Linie ein raumtheoretischer Zugriff. Inspiriert von den Arbeiten von Kim Knott 3 begreift die Autorin die sozialen Beziehungen und Praktiken im und um das Kloster herum als Ergebnis einer spezifischen Raumordnung, die dankenswerterweise in einem nützlichen Schaubild graphisch dargestellt ist (S. 352). Diese Raumordnung ist dabei nicht lediglich ein materiales, durch die Zuweisung von bestimmten Praxistypen auf bestimmte Orte charakterisiertes Gebilde, sondern sie ergibt sich zugleich aus den Deutungsprozessen und diskursiven Strategien verschiedener Akteursgruppen. Dazu zählen – und das ist bedeutsam – nicht nur verschiedene religiös definierte Gruppen, sondern vor allem die Kleriker, die Tourist_innen, die Händler_innen und Verkäufer_innen, die im Außenbereich Waren zum Verkauf anbieten, und die muslimischen Roma-Musiker_innen, die während des sommerlichen Klosterfestes die mit einem Opferbrauch verbundene Umrundung des Kirchgebäudes musikalisch begleiten.
Im Zentrum und räumlichen Kern des Klosters stehen dabei religiöse Deutungen und Praktiken, die sich jedoch an zwei verschiedenen Punkten anlagern: dem Altar und dem Grab Naums. Wie Reuter herausstellt, sehen die Geistlichen während der Festtagspraktiken den Altar und den Gottesdienst als das eigentliche Zentrum, während für die Laien und Besucher_innen das Grab das eigentliche Ziel darstellt. Hierin artikulieren zwei verschiedene religiöse Positionen und Interessen, wobei sich das Interesse der Laien gerade – wie die Autorin mit kraftvollen Belegen untermauert – aus der Konstruktion von Naum als „lebendigem Heiligen“ (S. 227) speist. Und es ist die Möglichkeit, das Ohr auf das Grab des Heiligen zu legen, um damit seinen Herzschlag zu hören und von seiner Kraft in der Hervorbringung von Wundern zu profitieren, die Gläubige motiviert, mehrere Stunden geduldig vor dem Grab in einer Schlange zu stehen. Die religiösen Virtuosi beharren demgegenüber darauf, dass es nicht Naum selbst sei, der Wunder vollbringe, sondern Gott und die Macht des Heiligen Geistes. Und auch die Umrundung der Kirche mit Lämmern wurde von manchen Priestern als heidnisch oder muslimisch inspiriert verurteilt (S. 234). Muslimische Besucher_innen wiederum bringen ebenfalls Votivgaben wie Textilien, Lebensmittel oder Lämmer dar, mit denen Wünsche nach Gesundheit und der Mehrung der Familie unterstützt werden sollen. Aber auch muslimische Perspektiven auf das Kloster sind weit gefächert und reichen „von der Ablehnung des Grabs als religiösem Ort bis zur vereinnahmenden Sakralisierung des Klosterkomplexes“ (S. 249).
In einer Vielzahl von beeindruckenden Analysen kann Reuter in diesem Kontext die spezifischen Wahrnehmungen und Perspektiven der beteiligten Akteure auf unterschiedlichen Positionen im religiösen Feld, aber auch im Feld der Wirtschaft, des Tourismus und der Politik zurückführen, ohne dabei in eine statische Betrachtungsweise zu verfallen. So zeigt die Autorin in eigenen Unterkapiteln ausführlich, auf welche Weise touristische Nutzungen wesentlich zur kulturellen Konstruktion des Klosters beitragen und welche wichtige Rolle es als lokaler Wirtschaftsstandort spielt. Wegweisend ist diese Studie für transregionale Studien und Ethnologien auch deshalb, weil sie anhand einer Vielzahl von historischen und ethnographischen Belegen zeigen kann, dass gerade multi-religiöse Orte transregionale Verknüpfungen und grenzüberschreitende soziale Austauschprozesse wie unter einem Brennglas sichtbar machen. So ist Sari Saltuk eben Teil einer spirituellen und ethnischen Genealogie, die vom Schwarzmeerbereich bis in den westlichen Balkan hineinreicht, während der Klosterkomplex über multiple historische Brüche hinweg, vor der osmanischen über die Phase des sozialistischen Jugoslawiens bis hin zur gegenwärtigen albanisch-nordmazedonischen Grenzlage von immer neuen raumgreifenden Verknüpfungen geprägt ist. Das Buch ist eine wichtige Lektüre für alle an solchen Prozessen interessierten Sozial- und Kulturwissenschaftler*innen.
Anmerkungen:
1 Robert M. Hayden: Antagonistic tolerance. Competitive sharing of religious sites in South Asia and the Balkans, in: Current anthropology 43 (2002) 2, pp. 205-231.
2 Glenn Bowman (ed.): Sharing the Sacra. The Politics and Pragmatics of Intercommunal Relations around Holy Places, London 2021.
3 Kim Knott, The Location of Religion. A spatial analysis, New York 2005.
3 Marian Burchardt / Maria Chiara Giorda: Geographies of Encounter. The Making and Unmaking of Multi-Religious Spaces, Basingstoke 2021.