C. Berndt u.a. (Hgg.): Kulturelle Geographien

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Title
Kulturelle Geographien. Zur Beschäftigung mit Raum und Ort nach dem Cultural Turn


Editor(s)
Berndt, Christian; Pütz, Robert
Extent
384 S.
Price
€ 29,80
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Ein unbeteiligter Beobachter könnte die Vermutung für nahe liegend halten, dass der fächerübergreifende Dialog zwischen Geographie, Geschichts- und Sozialwissenschaft zu den Selbstverständlichkeiten der Diskussion um den Zusammenhang zwischen Raum, Geschichte, Kultur und Gesellschaft gehört, die sich unter der Überschrift „spatial turn“ subsumieren lässt. Der Sammelband von Jörg Döring und Tristan Thielmann 1, der im selben Jahr und im selben Verlag wie die hier anzuzeigende Veröffentlichung erschienen ist, hat jedoch vor Augen geführt, dass dieser Dialog noch in den Kinderschuhen steckt, und auch seine Rezensenten haben zurecht auf den dringenden Nachholbedarf in dieser Beziehung verwiesen 2. Die Hoffnung ist berechtigt, dass die von Christian Berndt und Robert Pütz unter der Überschrift „Kulturelle Geographien“ versammelten Beiträge diesen Dialog fortsetzen, gleichwohl es sich ausschließlich um Überlegungen von Geographen handelt und sowohl Titel als auch Untertitel des Bandes ohne das obligatorische Raum-Wort auskommen, sondern auf einen anderen, allerdings eng damit verflochtenen „turn“ verweisen: den kulturellen.

Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben bei der Suche nach Begrifflichkeiten und Instrumentarien für die Entwicklung einer raumbezogenen Forschung vielfach auf Angebote aus der neueren geographischen Diskussion zurückgegriffen. Innergeographische Diskurse und Ungleichzeitigkeiten in den Fächertraditionen der verschiedenen regionalen Strömungen sind dabei weniger beachtet worden. Der vorliegende Band kann dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Insbesondere der einleitende und der abschließende Beitrag bieten eine wissenschaftshistorische Reflexion über die Entwicklung der geografischen Teildisziplin „Kulturgeographie“. So erklären Christian Berndt und Robert Pütz in ihren einleitenden Überlegungen die Kulturgeographie zum transdisziplinären Projekt und reformulieren es als „vom Cultural Turn inspirierte Humangeograph[ie]“ (S. 7) bzw. als pluralisierte „kulturelle Geographien“, um die Offenheit der Ansätze und den Variantenreichtum der Übersetzungen des Cultural Turn in die Humangeographie hinein deutlich zu machen. Dabei problematisieren sie die Ignoranz der deutschen innergeographischen Diskussion gegenüber progressiveren Strömungen der Humangeographie, die sie vor allem im angelsächsischen Raum und dort insbesondere seit den siebziger Jahren verorten. Es bestehe die Gefahr, dass sich die deutsche Geographie zum wiederholten Male von anderen disziplinären Entwicklungen und vor allem von der internationalen Diskussion abkoppele. Sie skizzieren an diesen Befund anschließend die Entwicklung der Kulturgeographie in den USA seit den dreißiger Jahren, deren Anfänge bei Carl Sauer und der Berkeley School zu suchen seien. In kritischer Auseinandersetzung mit dieser Tradition und beeinflusst durch die radical geography entwickelte sich in den sechziger und siebziger Jahren daraus eine „new cultural geography“, die sich wiederum in mehrere Schulen ausdifferenzierte - u.a. die hier als kulturell-materialistische Strömung bezeichnete, der im weitesten Sinne Autoren wie Doreen Massey und David Harvey zugeordnet werden können. Diese neuere Diskussion trug einerseits zur Verwischung disziplinärer Grenzen innerhalb der Humangeographie bei, zum anderen wurden in der weiteren Entwicklungen eine Reihe von „turns“ mitvollzogen: vom linguistic zum interpretative über den cultural und postcolonial turn. Im Zentrum standen und stehen hierbei Fragen nach der Herstellung und Ausübung von Macht durch die diskursive, symbolische und soziale Konstruktion von Räumen. Dabei gewinnen zunehmend Akteure und Kontexte an Bedeutung, worin die Autoren einen weiteren „turn“ ausmachen, dieses Mal den „performativen“. Als Gemeinsamkeiten dieser Forschungsrichtung, die sich nicht in ein methodisches und theoretisches Prokrustesbett pressen lasse, erkennen sie einen nicht-essentialistischen, konstruktivistischen Weltzugang und die Nicht-Festlegbarkeit eines übergreifenden Kulturbegriffes. Damit grenze sie sich vom Positivismus der konventionellen Raumwissenschaft ab. Die Integration des „Praktischen“ kann dabei auch als Reaktion auf die Kritik an einer rein diskursiv-symbolisch orientierten Kulturgeographie verstanden werden, gleichwohl auch eine Kulturgeographie, die sich auf das Symbolische konzentriere, nicht die „Dematerialisierung der Geographie“ (S. 19) betreibe.

Einen ähnlichen wissenschaftshistorischen Zugang wählt Marc Redeppening im abschließenden Beitrag des Bandes, in dem er die Kulturgeographie „als neue Form der Selbstbeschreibung der Geographie durch die Geographie selbst“ (S. 349f.) betrachtet. Auch er konstatiert die innerfachlichen Ungleichzeitigkeiten regionaler Entwicklungen, stellt aber darüber hinaus die Interpretation zur Diskussion, dass es sich in Deutschland lediglich um eine verzögerte Etikettierung der gleichen Themen mit dem angelsächsischen Label handele. Die wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung weiterführend entwickelt er die These, dass es sich bei der Integration der Kultur und dem Vollzug des cultural turn in der Humangeographie um eine flexible Anpassungsleistung an die Entwicklung in anderen Wissenschaftstraditionen handele, durch die zugleich eine Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der Geographie möglich werde. Die Selbstbeschreibung als Kulturgeographie verbessere deren „Vermarktungsmöglichkeiten“ (S. 362) und legitimiere ihren Allzuständigkeitsanspruch, der auf ältere geographische Traditionen zurückgreifen könne. Die Kulturgeographie könne so (wieder) zum Zulieferer für andere Sozial- und Kulturwissenschaften werden. Redeppening beschreibt damit zutreffend die oben skizzierte Rezeptionspraxis von Historikern und Sozialwissenschaften in ihrer Hinwendung zum Raum. Ob das Heil an dieser Stelle allerdings in der Glaubwürdigmachung von Geltungsansprüchen zu suchen ist, scheint insbesondere für die Aussichten eines interdisziplinären Dialogs fraglich. Vielmehr könnte es lohnend sein, die Klärung dieses Transferprozesses, die Selektions-, Übersetzungs- und Anpassungsleistungen in den benachbarten Wissenschaften in beiden Richtungen sowie die Suche nach Trägern und Motiven dieser Entwicklung voranzutreiben.

Die solchermaßen gerahmten Beiträge lassen sich grob in drei Themenblöcke gliedern: erstens geht es um den Zusammenhang zwischen Identität und Raum, zweitens um die Erschließung der Mensch-Umwelt-Beziehung und drittens um die Verflechtung zwischen Ökonomie und kultureller Geographie.

So unterstreicht Andreas Pott das reziproke Verhältnis von Raum und Identität. Orte und Ortsbezüge fungierten als „individuelle und kollektive Identitätsanker“ (S. 30) und könnten als „Medien zur „Herstellung [...] von Identitäten“ (ebd.) verstanden werden. Die Kulturgeographie leiste dabei ihren Beitrag, Vorstellungen von der Natürlichkeit solcher Kategorien wie Rasse, Geschlecht und nationale Identität in Frage zu stellen und kritisch zu rekonstruieren. Auch Pott plädiert nachdrücklich für eine verstärkte Integration von gesellschaftlichen Bezügen und Akteuren in die Untersuchung dieser Konstruktionsprozesse, wobei es vor allem um die Frage danach gehen solle, wer unter welchen Bedingungen und mit welchem Ziel konstruiere. Dabei sieht er vor allem in soziologischen und materialistischen Theorien vielversprechende Anknüpfungspunkte. Die wachsende Zahl historischer Arbeiten über die Produktion von Raumbezügen insbesondere im Kontext der neueren Globalgeschichtsschreibung bleibt hier unberücksichtigt.

Daran anschließend untersucht Pascal Goeke die Konstruktion des Balkans als das zivilisatorische Andere Europas im Kontext der Jugoslawienkriege der neunziger Jahre. Annika Mattissek fragt nach der diskursiven Konstruktion städtischer Identität am Beispiel Frankfurts am Main. In seiner Fallstudie zur Formierung raumbezogener Identität in Spanien und Katalonien bezieht Jörg Mose Karten als Quellen ein und rekonstruiert, wie für Spanien und Katalonien zunächst konkurrierende Identitäten entstanden, die Integration des Landes in die Europäische Union und die damit verbundenen Regionalisierungsprozesse sowie die Souveränitätseinbußen des spanischen Nationalstaats ein Mit- oder Nebeneinander mehrerer raumbezogener Identitäten auf verschiedenen Ebenen möglich machte. In diesen beiden Beiträgen werden diskursive Prozesse präzise rekonstruiert, allerdings bleiben Akteure und Kontexte randständig, so dass die von Pott geforderte und in Einleitung und Schluss unterstrichene Hinwendung zum „Praktischen“ nur in Ansätzen umgesetzt werden kann.

Demgegenüber lösen Ute Wardenga und Bruno Schelhaas den Anspruch der (historischen) Kontextualisierung, der Verknüpfung von Akteursperspektiven mit symbolischer Analyse exzellent ein und liefern damit ein hervorragendes Beispiel für den geforderten Dialog zwischen den Disziplinen. In ihrem Beitrag stellen sie ihr Projekt „Kartenproduktion als Weltbildgenerierung. Der Verlag Justus Perthes Gotha in der ‚Ära Petermann’ (1855-1884)“ am Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig vor, in dem der geschichtswissenschaftliche Strang raumbezogener Forschung mit kulturgeographischen Perspektiven und wissenssoziologischen Ansätzen eine produktive Synthese eingehen. Das „System Petermann“ beschreiben sie als Transferkette von der Feldforschung und Informationserfassung über die Verarbeitung im Verlag bis zur Verwertung und Kartenherstellung. Die Fragen nach den Trägern dieses Prozesses, den technischen und sozialen Faktoren, der Bedeutung von Kartentraditionen und Expertennetzwerken stehen dabei im Zentrum. Auf dieser Grundlage entwickeln die beiden Autoren die These, dass die Geographie in der Ära Petermann einen grundlegenden Paradigmenwechsel von der Text- hin zur Bildwissenschaft vollzogen habe.

Bei den beiden folgenden Beiträgen steht der Begriff der „Atmosphäre“ im Zentrum, wobei Rainer Kazig diesen als Medium in der Beziehung zwischen Umwelt und Mensch einführt und ihn als Zugang zu Wahrnehmung und Empfindung von Räumen, zur sinnlichen Mensch-Umwelt-Beziehung plausibel macht. Diese Deutung eröffne die Möglichkeit, einen rein repräsentationellen Raumbegriff um die Aspekte von Handlung und Akteur zu erweitern. In seinem eindrücklichen Beitrag präzisiert Werner Bischoff diesen Ansatz als Analyse olfaktorischer Stadtlandschaften, indem er den Geruchsinn als sozialen Sinn begreift, der bei der Erzeugung und Wahrnehmung sozialer Räume eine zentrale Rolle spiele. Dies verdeutlicht er anhand der sozialen Segregation von Stadträumen von der Kellerwohnung über die Kaschemme, der Regulierung von Essensdüften und Ablüften bis hin zur Beduftung von Büro- und Geschäftsräumen

Im dritten Themenblock steht der Zusammenhang zwischen Ökonomie und kultureller Geographie im Mittelpunkt. Christian Berndt und Marc Boeckler wählen den Begriff der „kulturellen Geographie der Ökonomie“ (S. 216) als Bezeichnung für einen Zugang, der die Wirkmächtigkeit ökonomischer, vor allem neoliberaler Modelle für die Gestaltung der Welt und die Reorganisation von Räumen bis in Alltagspraktiken hinein rekonstruiert. Es solle untersucht werden, „wie mit ökonomischen Praktiken Räume und Orte performativ hergestellt werden“ (S. 227). Dabei rücken Prozesse der Ent-Territorialisierung und „Ent-Sedentarisierung“ in den Fokus, mithin also Relationen und Verbindungen, Mobilität und Netzwerke. Dieses Vorgehen demonstrieren sie anhand dreier Fallbeispiele: der Produktion von Bio-Mangos in Nordghana, dem Grenzregime der NAFTA und dem Textilhandel in der nordsyrischen Stadt Aleppo. Hier bieten sich zahlreiche Anschlussmöglichkeiten an die Diskussion um die regimes of territorialization, wie sie seit einiger Zeit im Kontext der neueren Globalgeschichte geführt werden. In diesem Zusammenhang könnte beispielsweise überprüft werden, ob es sich tatsächlich um Prozesse der Ent-Territorialisierung handelt oder ob es möglicherweise sinnvoller sein könnte, von der Rekonfiguration von Territorialität und Territorialisierungspraktiken zu sprechen. Die Ergebnisse von Berndt und Boeckler legen dies jedenfalls nahe.

Einer ähnlichen Forschungsrichtung folgend untersucht Bastian Lange die Entstehung neuer Märkte am Beispiel der sogenannten Kreativökonomien. Heiko Schmid konstatiert in Bezug auf die Inszenierung von Stadtlandschaften am Beispiel von Las Vegas und Dubai eine zunehmende Kommerzialisierung und Erlebnisorientierung, die mit dem Verlust des öffentlichen Raumes und der zunehmenden Segregation des Stadtraumes einher geht. Ulrich Erman fragt nach den geographies of consumption und betont aus geographischer Sicht „das Interesse an [...der ...] Formierung von Konsumgütermärkten [und] vor allem [...an den...] de- und reterritorialisierenden Wirkungen von Zeichenproduktion und -interpretation“ (S. 330). Die räumliche Differenzierung über Markenökonomien sei zu verstehen als eine performative Raum- und Grenzproduktion, bei der einerseits Globalität hergestellt werde, andererseits widerständige Strategien von Akteuren und Machtasymmetrien in den Blick rückten.

Die Vielzahl der hier versammelten instruktiven Beiträge, gleichsam Probebohrungen in der aktuellen Kulturgeographie, bieten nicht nur Geographen „eine Art Zwischenbilanz“ (S. 8) der innerfachlichen Auseinandersetzung, sie verdeutlichen in gewisser Weise auch eine entgegengesetzte Bewegung benachbarter Disziplinen auf einen gemeinsamen Punkt hin: den Zusammenhang von Raum und Kultur. Folgerichtig nimmt die eine Richtung verstärkt Bezug auf den cultural turn und sucht nach Integrationsmöglichkeiten für Akteure und Kontexte, während die andere den spatial turn vollzieht. Deshalb mag die wechselseitige Lektüre zunächst Befremden hervorrufen, scheint die jeweilige Disziplin doch Problemstellungen zu entdecken, die für die andere selbstverständlich sein mögen: der Akteur und seine Historisierung in der Geschichtswissenschaft, der Raum und seine Konstruktion in der Geographie. Trotz der eingangs konstatierten Transdisziplinarität beschäftigen sich hier allerdings nur Geographen mit diesem Problem, die den Artikeln angefügten Bibliographien machen - mit Ausnahme des Beitrags von Wardenga und Scheelhaas - die Dominanz geographischer und soziologischer Traditionen deutlich. Um so mehr sollte diese Herausforderung auch von Historikern und Sozialwissenschaftlern ernst genommen werden. Dieser Band kann dafür wichtige Ausgangspunkte liefern.

Anmerkungen:
1 Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften (= Sozialtheorie). Bielefeld 2008.
2 Ulrike Jureit, Rezension zu: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008, in: H-Soz-u-Kult, 15.08.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2008-3-114>. sowie Micha Braun, Rezension zu: Jörg Döring, Tristan Thielmann (Hrsg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld 2008. In: H-Soz-u-Kult, 26.09.2008, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=11764>.

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19.06.2009
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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