K. Myers: Irish and Afro-Caribbean histories in England, 1951–2000

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Title
Struggles for a Past. Irish and Afro-Caribbean histories in England, 1951–2000


Author(s)
Myers, Kevin
Published
Extent
288 S.
Price
€ 98,46
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Philipp Eigenmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Am Umgang einer Gesellschaft mit der eigenen Vergangenheit zeigt sich ihr Verhältnis zu Minderheiten. Nationalstaatlich geprägte Masternarrative zeichnen das Bild homogener Gesellschaften, die eine gemeinsame kollektive Erfahrung als historische Erinnerung tragen, wie seit Benedict Andersons Studie zu „imagined communities“1 allgemein bekannt ist. Der Zugang zu diesen kollektiven Erinnerungen bleibt zugewanderten Personen jedoch verschlossen. Eine Historiographie dessen, welche Vergangenheit eine Gesellschaft relevant setzte, verhandelt also gleichzeitig auch die Geschichte des gesellschaftlichen Umgangs mit Minoritäten.

An dieser Stelle setzt Kevin Myers, Bildungshistoriker aus Birmingham, ein. Unter der Prämisse, dass nicht nur dominante nationalstaatliche Erzählungen existieren, sondern Minderheiten selbst Erinnerungen und somit Aspekte der Vergangenheit produzierten, betrachtet Myers Migrantinnen und Migranten als historische Subjekte. Der Autor beschreibt die Auseinandersetzungen – ja gar „Kämpfe“, wie der Titel des Buches festhält – um eine adäquate Vorstellung der eigenen Vergangenheit.

Das Hauptargument der besprochenen Studie von Kevin Myers lautet wie folgt: Vorurteile, Intoleranz und Rassismus gegenüber Minderheiten wurden begünstigt durch traditionelle Geschichtsbilder, die eine nationalstaatliche Homogenität suggerierten und weder Kolonialismus noch Migration in ihr Masternarrativ einbezogen. Unter diesen Umständen wurden Minoritäten selbst zu Produzenten von Vergangenheit. Die eigene Geschichte bot den Zugewanderten neue Identifikationsmöglichkeiten, reproduzierte aber gleichzeitig auch Exklusionserfahrungen und ließ Nationalismen erstarken. Die Kategorie der Ethnizität wurde zwar als soziales Konstrukt konzipiert, im Umgang mit der Vergangenheit diente dieselbe Kategorie aber paradoxerweise auch dazu, Differenzen zwischen Nationen, Kulturen und gar Rassen wieder festzuschreiben.

Der Autor betrachtet dazu die irischen und afro-karibischen Immigranten in England, wobei zur Untersuchung vor allem die Quellenbestände migrantischer Vereinigungen herangezogen wurden. Mit der Wahl dieser beiden Einwanderergruppen vermeidet Myers eine Dichotomisierung zwischen schwarzen Zuwanderern und weißen Engländern, indem der Einbezug irischer Gruppierungen in die Analyse den Blick auf Klassenverhältnisse öffnet. Die Studie fragt danach, wie diese Minoritäten mit ihrer Vergangenheit umgingen, und spiegelt die daraus entstandenen kollektiven Erinnerungen am Masternarrativ englischer Nationalgeschichte. Die Untersuchung umfasst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und fokussiert auf die drei Städte London, Liverpool und Birmingham.

Die Studie ist chronologisch in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Zeitabschnitt betrachtet die Jahre zwischen 1951 und 1968, für welchen der Autor noch kaum eigene historiographische Arbeiten der Zugewanderten und Minoritäten ausmacht. Das damalige dominante englische Masternarrativ blieb ohne Verweise auf Kolonien und Migration. Dekolonisation und Arbeitskräftemangel waren zwar Faktoren, welche zur Zuwanderung führten, stellten aber kein Element der damaligen Nationalgeschichte dar. Diese stand in der Tradition der Whigs und entsprach dem liberalen Zuschnitt auf Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratisierung, bot aber keinen Raum für die Erfahrungen von Minoritäten. Im Zuge dessen fehlten adäquate Erklärungen für die Diskriminierungserfahrungen der Zugewanderten. Erst die sozialwissenschaftlichen „Race Relation Studies“, die im Laufe der 1950er-Jahre aufkamen, versuchten die üblichen Unterscheidungen nach „Rassen“ zu hinterfragen.

Der Anteil der irischen wie auch die afro-karibischen Bevölkerung in England nahm in diesem Zeitraum zu, wenngleich beide Einwanderergruppen auch schon vor 1950 nach England migrierten. Dennoch wandte sich die englische Politik erst in den 1960er-Jahren einzelnen Einwanderergruppen zu, indem mit pädagogischer Absicht explizite Integrationsprogramme eingerichtet wurden. Über die Organisationen der Zugewanderten sollten die Perspektiven, Erfahrungen und Erinnerungen von Minderheiten gesichert werden. Für irische Einwanderer stellte das traditionelle Liedgut ein Medium der Erinnerung an eine kollektive Vergangenheit dar, für karibische Einwanderer die Rückbesinnung auf Afrika. Doch auch diese Vergangenheiten waren – wie das englische Masternarrativ – konstruierte Geschichten.

Für den zweiten Zeitabschnitt zwischen 1968 und 1981 konstatiert Myers, wie soziale Bewegungen einen öffentlichen Raum schufen, in dem alternative Geschichten artikuliert werden konnten. Wiederum stellte die offizielle englische Politik den Rahmen, in dem sich die Migrantinnen und Migranten zunehmend als Subjekte der eigenen Geschichte begriffen. Sowohl die Beschränkung der Zuwanderung aus Commonwealth-Staaten wie auch die anti-irische Gegenreaktion auf die IRA ließ Migration zunehmend als problematisch erscheinen. Die politische Antwort darauf entsprach dem Konzept des Multikulturalismus und enthielt pädagogische Bemühungen, die eine Ergründung der kulturellen Wurzeln der zweiten Generation intendierten.

Daran wirkten auch die Vereinigungen der Zugewanderten mit. Die Idee von „Black Studies“ wurde aus den Vereinigten Staaten übernommen, um das Potential einer „Black History“ auszuloten. Auch die so produzierten Vergangenheitsentwürfe waren oft pädagogisch angelegt und dienten politischen Aufrufen gegen rassistische Diskriminierungen. In ihrer deutlichen Abgrenzung zum englischen Masternarrativ blieben sie aber in der Vorstellung verhaftet, distinkte Bevölkerungsgruppen bräuchten distinkte Geschichten. Indem die „Black History“ als Eigentum von Schwarzen verstanden wurde, konnte sich diejenige Exklusion reproduzieren, die von den Aktivisten eigentlich herausgefordert werden wollte. Ein gemeinsames Narrativ blieb aus. Andererseits waren einige Gruppen von Immigranten, beispielsweise Teile der irischen Mittelklasse, gar nicht so erpicht darauf ihre Vergangenheit zu ergründen, sondern wollten diese lieber hinter sich lassen.

Der dritte Zeitabschnitt zwischen 1981 und 2000 nimmt die zweite Generation der Zuwanderer in den Blick, die in den diversen Formaten der Geschichtsvermittlung mit solchen historischen Narrativen konfrontiert wurden. Die darin enthaltenen Identifikationsangebote gründeten in kulturellen Prämissen, da sie ethnisch konstruierten Vergangenheiten entsprachen. Myers zeichnet sodann den beispielhaften Aufstieg der Kategorie der „Ethnizität“ zum dominanten Unterscheidungsmerkmal dieser Zeitperiode nach. Alternative Deutungsmuster, in welchen über die Klassenlage auch strukturelle Faktoren geltend gemacht wurden, hatten dagegen einen schweren Stand. Zu zugkräftig blieben Narrative kulturell distinkter Erinnerungsräume. Oft mit politischen Absichten verknüpft, dienten sie in erster Linie der Selbstvergewisserung und waren (sozial-)psychologisch ausgerichtet.

Allerdings basierten diese Vergangenheitsvorstellungen, die den Identifikationsangeboten eingeschrieben waren, meist auf ethnologisch anstatt historiographisch angelegten Studien. Ernsthafte historische Analysen kamen erst nach 2000 auf, doch auch diese blieben einem „ethnic historicism“ (S. 220) verhaftet. Das entsprach der Ausrichtung des englischen Bildungswesens mit seinen entsprechenden multikulturellen Programmen. Der Multikulturalismus und der Pluralismus der 1980er- und 1990er-Jahre führten zum Boom der Kategorie der „Ethnizität“, die – so das Fazit Myers – in der Geschichtswissenschaft noch heute historische Komplexitäten überdecke.

Myers gelingt es mit seiner sorgfältigen historischen Analyse, Begrenzungen und unintendierte Folgen einer einperspektivischen Forschung aufzuzeigen. Nimmt man seine Kritik an der Dominanz von Ethnizität ernst, bedeutet dies für migrationshistorische Forschungsprojekte, sich nicht ausschließlich auf die Perspektive der Zugewanderten zu beschränken, wie es mittlerweile in Mode gekommen ist, sondern vielmehr zu berücksichtigen, unter welchen Bedingungen deren Vorstellungen von kollektiver Vergangenheit und Identifikation produziert wurden.

Anmerkung:
1 Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 2006.

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Published on
28.06.2016
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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