S. Gottschalk: Kolonialismus und Islam

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Title
Kolonialismus und Islam. Deutsche und britische Herrschaft in Westafrika (1900-1914)


Author(s)
Gottschalk, Sebastian
Published
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Extent
324 S.
Price
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Stephan Conermann, Universität Bonn

In seiner an der FU Berlin unter der Betreuung von Sebastian Conrad verfassten Dissertation widmet sich Sebastian Gottschalk einem interessanten Thema, nämlich der Beantwortung folgender Frage: „Welche Folgen hatte in Europa produziertes Wissen über den Islam auf die koloniale Praxis in den Kolonien und in welcher Weise beeinflussten koloniale Erfahrungen im Umgang mit Muslimen in Westafrika die Produktion von Wissen über den Islam?” (S. 16) Als Beispiel für seine Analyse wählt er den Norden des deutschen Schutzgebietes Kamerun und das britische Protektorat Nordnigeria in der Zeit von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Als Quellen standen ihm vor allem die relevanten Bestände des Bundesarchivs-Militärarchivs Freiburg, The National Archives in Kew und The Rhodes House Library in Oxford zur Verfügung. Glücklicherweise besitzt das Bundesarchiv darüber hinaus über Mikrofilme der Akten der deutschen Kolonialverwaltung in Kamerun, die normalerweise im Nationalarchiv von Yaoundé liegen. Dies macht den Zugang natürlich etwas leichter. Von einer Einsicht in die Dokumente der britischen Kolonialverwaltung, die offenbar nur in Nigeria selbst zugänglich sind, hat der Verfasser Abstand genommen. Das ist letztlich zu bedauern, kann aber – zumindest ein wenig – durch den besseren Forschungsstand zur britischen Kolonialpolitik vor Ort ausgeglichen werden. Grundsätzlich stellt sich zudem das Problem, dass alle Quellen von Europäern verfasst worden sind und daher die indigene Sichtweise vollkommen ausgeblendet werden muss. Sebastian Gottschalk ist sich dieser Schieflage bewusst und versucht sie durch seine oben genannte Fragestellung auszugleichen.

Das Bild, das die Briten und Deutschen von den Menschen in den beiden Kolonialgebieten hatten, war zwiespältig. Auf der einen Seite hielt man Afrikaner für völlig kulturlos und maß ihnen auf der Zivilisationsleiter einen Platz auf der untersten Sprosse zu. Auf der anderen Seite hatte man es aber mit Muslimen zu tun. Als solche verfügten sie, so die gängige Vorstellung, durchaus über eine fortgeschrittene Kultur, wenngleich natürlich weit hinter der aufgeklärten europäischen Zivilisation. Man konnte sie aufgrund ihres fortgeschrittenen administrativen Bewusstseins guten Gewissens in das koloniale Projekt einbinden. Allerdings galt es, Vorsicht walten zu lassen, da die Muslime stets auch über ein nicht geringes Fanatismuspotential verfügten. Der Autor möchte daher ebenfalls herausfinden, wie sich diese „doppelt ambivalenten Repräsentationen der westafrikanischen Muslime auf die Ausgestaltung der kolonialen Herrschaftsbeziehungen und die Praxis kolonialer Herrschaft“ (S. 10) ausgewirkt haben.

Auf eine Einleitung, in der Forschungsstand, Fragestellung und Quellenlage diskutiert werden, folgt ein Abschnitt, in dem der Verfasser – vornehmlich anhand von von Afrikaforschern veröffentlichten Reiseberichten – auf die in Europa (eher: in Deutschland und Großbritannien) geführten Debatten zum Islam und zu den Bewohnern des subsaharischen Afrikas eingeht. Seine wichtigesten Befunde habe ich weiter oben schon genannt. Es schließen sich nun die drei Hauptkapitel an. Logischerweise beginnt Sebastian Gottschalk damit, die Etablierung der deutschen und britischen Kolonialherrschaft in Westafrika zu skizzieren. Beide Großmächte entschieden sich – unabhängig voneinander – dafür, die in Indien und Südostasien erfolgreich praktizierte Form der indirekten Herrschaft auch in Nordnigeria und Nordkamerun einzuführen. So zeigt der Verfasser anhand einer Analyse der kolonialen Steuer- und Rechtspraktiken sehr gut, bis zu welchem Grad beide Staaten vorkoloniale islamische Strukturen und Akteure in ihre kolonialen Herrschaftssysteme eingliederten. Handelten die beiden Kolonialmächte lange Zeit vollkommen getrennt voneinander, so brachten Reformen in dem deutschen Gebiet in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg eine bewusste Annäherung an das britische System. Da es in diesem Teil letzten Endes doch um die praktizierte Ausübung von Herrschaft geht, hätte man sich etwas ausführlichere Informationen zum Kalifat von Sokoto und dem Reich von Kanem-Bornu gewünscht. Auch der pragmatische Umgang mit der in den untersuchten Gebieten weit verbreiteten Institution der Sklaverei wird leider nur erwähnt, aber nicht weiter analysiert.

In dem vierten und fünften Kapitel stehen dann zwei übergeordnete Ereignisse im Mittelpunkt der Betrachtung. Zum einen geht es um den Umgang mit widerständischen islamischen Erneuerungsbewegungen in den Jahren 1906 und 1907, die sich an dem Mahdi-Aufstand im anglo-ägyptischen Sudan in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts orientierten. Es gelang den Kolonialherrschern innerhalb kurzer Zeit die Rebellionen niederzuschlagen, zumal sich die Mehrheit der Bevölkerung offensichtlich von den Aufständischen distanzierte. Dennoch setzte sich bei den Kolonisatoren die Vorstellung eines Dualismus von gemäßigten lokalen Muslimen und radikalen Muslimen von außerhalb durch. Zum anderen beschäftigt sich der Autor mit den Auswirkungen der jährlichen Pilgerfahrt nach Mekka. Die Wallfahrer nahm man zwar in beiden kolonialisierten Gebieten als Herausforderung wahr, doch gab es hier bedeutende Unterschiede. Stellten die Pilger für die Deutschen eher ein zollpolitisches Problem dar, so hielten sie die Briten für eine ernsthafte Bedrohung. Sie fürchteten, dass sich durch die mit der Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten des Islams einhergehende Vernetzung der Gläubigen sowohl Krankheiten wie auch antikoloniales Gedankengut verbreiten könnten. Allerdings scheiterten die britischen Bemühungen, eine Art Kontrollsystem aufzubauen.

Das letzte Kapitel der Arbeit setzt sich mit den Rückwirkungen der Erfahrungen der Kolonialmächte in Nordnigeria und Nordkamerun auf den Islamdiskurs der Mutterländer auseinander. Vielleicht etwas zu lapidar kommt Sebastian Gottschalk zu dem Schluss, dass es in Großbritannien im Grunde keine Rückkopplungen gegeben habe. In Deutschland hingegen kann er vor allem anhand einer genaueren Untersuchung verschiedener Schriften des Islamforschers Carl Heinrich Becker (1876-1933) nachweisen, dass es innerhalb der Islamwissenschaft auch aufgrund der kolonialen Erfahrungen zu einer Spaltung des Faches gekommen ist. Hatte man bereits 1887 in Berlin das Seminar für Orientalische Sprachen mit dem Auftrag gegründet, eine fundierte Sprachausbildung für Diplomaten und andere in den verschiedenen imperialistischen Projekten tätige Personen anzubieten, so sollte an dem 1908 neu eingerichteten Hamburger Kolonialinstitut die koloniale Herrschaftspraxis wissenschaftlich reflektiert und Kolonialbeamte ausgebildet werden. Einer rein philologisch ausgerichteten Orientkunde stand nun eine gegenwartsorientierte Regionalwissenschaft gegenüber. Diese sehr spannenden wissensbezogenen Mobilitätsdynamiken im Rahmen globaler Austauschprozesse vor dem Hintergrund einer von europäischen Großmächten zu Beginn des 20. Jahrhunderts kolonialisierten Welt zu untersuchen, stellt ein sehr spannendes Forschungsfeld dar. Auch in Bezug auf Deutschland ließe sich hierzu noch viel sagen.

Auch wenn, wie gesagt, die Herrschaftspraxis in den Kolonien in der Darstellung ein wenig blass bleibt, hat Sebastian Gottschalk eine interessante und gut lesbare Abhandlung zu einem wichtigen Thema vorgelegt.

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Published on
04.05.2019
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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