M. Kaller-Dietrich u.a. (Hgg.): Lateinamerika

Title
Lateinamerika. Geschichte und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert


Editor(s)
Kaller-Dietrich, Martina; Potthast, Barbara; Tobler, Hans Werner
Series
Edition Weltregionen
Published
Extent
224 S.
Price
€ 24,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Stefan Rinke, Lehrstuhl für Geschichte Lateinamerikas, Katholische Universität Eichstätt

Der vorliegende Sammelband will kein Handbuch zur Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert sein. Wie die HerausgeberInnen in ihrer Einleitung anmerken, geht es hier vielmehr darum, "einen Mittelweg zwischen allgemeiner Orientierung und der Diskussion besonders interessierender Spezialfragen" (S. 7) anzubieten. Dabei umfasst der Band allerdings ein weit gespanntes Spektrum an Themen aus den Bereichen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur von der Zeit der Unabhängigkeit bis zur Gegenwart.

In ihrer Diskussion der Faktoren, die den Prozess der Unabhängigkeit in Lateinamerika beeinflussten, zeigt Renate Pieper die Verschiebung der Gewichte von den Zusammenhalt des Imperiums fördernden zu zentrifugal wirkenden Kräften im Lauf der Kolonialzeit. Sie macht deutlich, dass es sich um einen langfristigen Verlauf handelte, der laut Pieper bereits um 1600 begann und zwischen 1808 und 1824 einen Höhepunkt erreichte. Drei Phasen von 1600 bis 1750, von 1750 bis 1808 und von 1808-1824 werden hier unterschieden. Innerhalb dieser Phasen untersucht Pieper endogene und exogene Aspekte und zwar jeweils aus der Perspektive Amerikas und des Mutterlands. So entstand ein komplexes Geflecht von Faktoren, das letztlich zur Unabhängigkeit führte, womit aber der Prozess der Nationalstaatsbildung noch keineswegs zu einem Abschluss gekommen war.

Hans-Jürgen Puhle untersucht die politischen Entwicklungen Lateinamerikas und den häufigen Wechsel zwischen Demokratie und Diktatur im 20. Jahrhundert. Er verknüpft den politischen Wandel mit dem Wandel der Entwicklungsstrategien. Die Analyse konzentriert sich auf die vier Stufen "radikal", populistisch, autoritär und postautoritär. Die vielen Abweichungen und Besonderheiten unterstreichend, arbeitet Puhle mit seinem vergleichenden Ansatz die wichtigsten Trends vom späten 19. Jahrhundert an bis zur Gegenwart heraus. Dabei zeigt er, dass es zwischen den mit den Begriffen 'Revolution' oder 'Reform' bezeichneten Ansätzen oft nur graduelle Unterschiede gab, wobei manche Reform revolutionärer wirkte als die zahlreichen so genannten Revolutionen. Puhles Prognose für die politische Entwicklung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist vorsichtig optimistisch. Trotz der vielen Defizite der Redemokratisierungswelle erkennt er auch Chancen in der heutigen Situation.

Lateinamerika als Kontinent endemischer Gewalt ist ein beliebtes europäisches Stereotyp. Hans-Werner Tobler untersucht das Zusammenspiel von Politik und Gewalt in dieser Region. Als Ursachen von Gewalt benennt Tobler die sozialen und politischen Entwicklungsdefizite, die schon auf die späte Konsolidierung des Staates im 19. Jahrhundert zurückgehen. Als diese Konsolidierung schließlich erreicht wurde, kam es zu neuen Formen der Gewalt bis hin zu den Militärregimes der 1970er und 1980er-Jahre und der "diffusen sozialen Gewalt" (S. 53) der Gegenwart. Grundlegend für die Überwindung dieser für Lateinamerika so problematischen Konstellation wären soziale und politische Reformen, die Ungleichheiten überwinden, das Gewaltmonopol des Staates durchsetzen und Rechtssicherheit garantieren müssten.

Eine grundlegende Voraussetzung auf diesem Weg wäre sicherlich eine positive wirtschaftliche Entwicklung. In seinem Überblick über zweihundert Jahre lateinamerikanischer Wirtschaftsgeschichte nennt Walther L. Bernecker Gründe, warum diese Entwicklung im Wesentlichen ausgeblieben ist, und diskutiert die Modelle und Theorien, mit denen man sich um Wandel bemühte. Bernecker zeigt insbesondere die Problematik der Außenwirtschaftsbeziehungen und wägt Vor- und Nachteile gegeneinander ab. Unzweifelhaft ist das problematische historische Erbe der Verschuldung, das die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung in Lateinamerika überschattet.

Der Beitrag zur Bevölkerungsentwicklung stammt von Silke Hensel. Sie untersucht insbesondere die Bedeutung der Migration für die Bevölkerungsgeschichte Lateinamerikas und geht darüber hinaus auch auf die Integration der Migranten sowie auf die Bedeutung von Diasporas, vor allem der afrikanischen, ein. Lateinamerika entwickelte sich im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts von einer Region, die traditionell Einwanderer anzog, zu einer Auswanderungsregion. Die Gründe für diese Entwicklung sind laut Hensel vielfältig, wobei das rasante Bevölkerungswachstum seit ca. 1930 eine bedeutende Rolle spielt.

Ein Teilaspekt der Bevölkerungsbewegungen, der Lateinamerika in diesem Zeitraum entscheidend prägte, ist der Verstädterungs- und Metropolisierungsprozess. Barbara Potthast beschreibt diesen Prozess im Zusammenhang mit dem dadurch ausgelösten sozialen Wandel an den Beispielen Buenos Aires, São Paulo, Rio de Janeiro und Mexiko-Stadt. Potthast zeigt u.a., wie sich durch die Urbanisierung auch die Rolle der Frauen veränderte, die im 20. Jahrhundert in den Städten zunehmend in außerhäuslicher Erwerbstätigkeit zu finden waren. Insgesamt, so Potthast, ist die Entwicklung der Städte in jüngster Zeit ein Spiegelbild der Fragmentierung lateinamerikanischer Gesellschaften.

Städte werden heute in Lateinamerika nur noch selten als Hort der Zivilisation gegenüber der Barbarei des Hinterlands verstanden, wie dies noch im 19. Jahrhundert häufig der Fall war. Dieses und ähnliche Identitätskonzepte diskutiert Bernd Hausberger in seinem Beitrag. Er zeigt das Oszillieren und die Interaktionen von lateinamerikanischen Einheitsvorstellungen einerseits und von engeren vor allem nationalen und ethnischen Identitätskonzepten andererseits. Viele Konzepte, die sich an den Bezeichnungen Ibero-, Hispano-, Pan- oder auch Lateinamerika ablesen lassen, wurden von außen an die Region herangetragen, haben dann jedoch eine Eigendynamik entwickelt.

Die Diskussionen um lateinamerikanische Identitäten standen häufig vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem zunehmend übermächtigen Nachbarn im Norden, die Wolfgang Dietrich unter Bezugnahme auf Immanuel Wallersteins Weltsystemanalyse thematisiert. Dietrich ist dabei insbesondere an den "Tiefenstrukturen" und "Tiefenkulturen" im Sinne Galtungs interessiert, die das angloamerikanische Streben nach Dominanz und die Reaktionen der lateinamerikanischen Eliten beeinflusst haben. Die Strategien zur Erreichung dieses Ziels, nicht jedoch das Ziel an sich schwankten über die Jahrhunderte hinweg zwischen Intervention und Integration.

Stephan Scheuzger untersucht einen weiteren Teilaspekt lateinamerikanischer Identitätsprobleme, die neueren indigenen Bewegungen in ihrem historischen Kontext. Die neue Sichtbarkeit der Indios in den 1990er-Jahren ist laut Scheuzger weniger auf ein "Erwachen" als vielmehr auf einen Strategiewechsel zurückzuführen. An den Ursachen indigener Mobilisierung – Armut, Ausgrenzung, Gewalt – hat sich im Lauf des 20. Jahrhunderts wenig geändert, allerdings entstanden mit der Redemokratisierung und der neoliberalen Dezentralisierung neue Spielräume und Herausforderungen, auf die die heterogenen indigenen Bewegungen reagierten. Gemeinsam ist ihnen, wie Scheuzger darlegt, der Kampf um Selbstbestimmung.

Waren Religiosität und vor allem der Katholizismus in der Geschichte Lateinamerikas lange Zeit ein zumindest oberflächlich Einheit stiftender Faktor der Identitätsbildung, so hat sich dies, wie Gerhard Kruip in seinem Beitrag zeigt, in den letzten Jahren nicht nur vor dem Hintergrund des Aufstiegs protestantischer Bekenntnisse relativiert. Vom indigenen Synkretismus der Kolonialzeit bis hin zur Befreiungstheologie des 20. Jahrhunderts hat Lateinamerika vielfältige Sonderformen hervorgebracht. Kruip stellt insbesondere die Entwicklung der Befreiungstheologie unter den neuen Rahmenbedingungen nach dem Ende des Kalten Kriegs, die Tendenz zu religiösem Pluralismus sowie die Interaktionen von katholischer Kirche und politischer Macht vor.

Angesichts der mit ihnen verbundenen Selbstinszenierungen können die lateinamerikanischen Populismen in gewisser Hinsicht als Zivilreligionen angesehen werden. In einer vergleichenden Analyse von Getulio Vargas sowie Juan und Eva Perón arbeitet Ursula Prutsch unter anderem den bewussten Einsatz der Massenmedien heraus. Sie zeigt die Tendenz zur Visualisierung von Macht insbesondere am Beispiel des Peronismus, der bis in die Gegenwart seine Prägekraft in Argentinien behalten hat.

Die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Ton einerseits zum Text andererseits nimmt Claudius Armbruster in seinem Beitrag über Film und Literatur in Lateinamerika auf. Er diskutiert die Intermedialität zunächst in ihrer historischen Dimension seit der Verbreitung des Kinos im Lateinamerika der 1920er-Jahre. Sodann untersucht er die neueren Ausprägungen an Beispielen von Manuel Puig über Antonio Skármeta bis hin zu Paulo Lins und seiner "Cidade de Deus".

Alle Artikel tragen Synthesecharakter, so dass Differenzierungen nicht immer möglich waren. Die Stärke des Bandes liegt denn auch eher im Angebot einer schnellen und breiten Orientierung für einzelne Teilbereiche. Das Buch knüpft nahtlos an die – teils vergleichenden, teils auf eine Region spezialisierten – Sammelwerke zur Geschichte Lateinamerikas und der USA an, die bereits in der "Edition Weltregionen" und ihrer Vorgängerin, der Reihe "Historische Sozialkunde", erschienen sind. Es bietet einen fundierten und problemorientierten Einstieg in einige zentrale Probleme der Geschichte Lateinamerikas im 19. und 20. Jahrhundert.

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14.03.2005
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