M. Samuela: The Spectacular Past

Title
The Spectacular Past. Popular History and the Novel in Nineteenth-Century France


Author(s)
Samuels, Maurice
Published
Extent
304 S.
Price
$22.95
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Natalie Scholz, Free University Amsterdam, Netherlands Email:

Dass eine Besonderheit der Moderne darin besteht, ein Verständnis von ‚Geschichte’ als etwas von der Gegenwart Abgetrenntes und Entferntes hervorgebracht zu haben, ist keine Neuigkeit. Neu ist allerdings die Erkenntnis, dass diese Entdeckung der Geschichte untrennbar mit ihrer Visualisierung, genauer gesagt ihrer ‚spektakulären’, das heißt marktförmigen Visualisierung verknüpft war. Maurice Samuels, Assistant Professor für Romanistik an der Universität von Pennsylvania, hat es unternommen, dieser Verbindung im nachrevolutionären Frankreich auf die Spur zu kommen.

Die drei ersten Kapitel widmet Samuels den verschiedenen Medien, in denen sich die ‚Spektakularisierung’ der Geschichte seit der Revolution vollzogen hat. Er zeichnet zunächst nach, wie sich in Frankreich um 1800 gleich mehrere Innovationen visueller Darstellungsformen an einem Unterhaltungsmarkt etablierten, der bald von königlichen Lizenzen befreit war: vom Wachsfigurenkabinett, über Phantasmagorie-Spektakel bis hin zu den neuen Techniken des Panoramas und später des „Dioramas“. Zwei Aspekte waren diesen Repräsentationen gemeinsam: Zum einen erzielten sie einen bis dato unbekannten illusionistischen Effekt, welcher die Trennung zwischen Realität und Repräsentation für die Zuschauer verwischen ließ; zum anderen erlangten alle ihren durchschlagenden Publikumserfolg mit naturalistischen Repräsentationen der jüngsten französischen Geschichte, zunächst der Revolution, dann vor allem der napoleonischen Kriege.

Dieses Zusammenfallen des visuellen Realismus mit dem explodierenden Interesse an Geschichte hält Samuels nicht für einen Zufall, sondern versucht anhand einer Fülle zeitgenössischer Berichte und Kommentare zu zeigen, dass der illusionistische Effekt ein tiefes Bedürfnis befriedigte, vergangene, ‚historische’ Ereignisse als ‚real’ zu erfahren, die ob der rasanten Veränderungen zunehmend ‚irreal’ erschienen seien. Ob es lebensechte Wachsfiguren von Revolutionären waren oder ein detailgetreues Panorama der großen Schlachten, die neuen Repräsentationsformen gaben dem Betrachter auf unterschiedliche Weise das Gefühl, die Vergangenheit zu ‚beherrschen’, im wahrsten Sinne des Wortes ‚den Überblick’ zu behalten.

Dies ist der Kern dessen, was Samuels als „new spectacular mode of historical representation“ bezeichnet und für ein Charakteristikum der Moderne hält. Ausgehend von dieser Basis widmet er sich dem Einfluss, den die neue historische Wahrnehmungsweise auf andere Medien und Genres hatte. So beschreibt er den Wandel illustrierter Nationalgeschichten, die seit den 1830er-Jahren – wiederum ermöglicht durch Neuerungen der Drucktechnik – Bilder und Texte auf neue Art miteinander verschmolzen. Spätestens seit den 1820er-Jahren wurde dann Napoleon zum zentralen Thema der visualisierten Geschichtskultur, gipfelnd in der nach der Juli-Revolution geradezu explodierenden Anzahl von Theaterstücken über den mythisierten Nationalhelden, die mit großem Materialaufwand inszeniert wurden.

Diese generelle Aufwertung des Visuellen und Bildhaften in der Beschäftigung mit der Vergangenheit prägte, wie Samuels darlegt, die Kultur der Epoche in maßgeblicher Weise. Hiervon zeugen etwa Louis-Philippes nationales Museumsprojekt in Versailles ebenso wie – stilistisch übertragen auf die sprachliche Ebene – die so genannte romantische Geschichtsschreibung eines Michelet oder Barante.

Doch warum erlangte das Visuelle eine derart große Bedeutung auch über die dezidiert illusionistischen Techniken hinaus? Auf der Grundlage der zeitgenössischen Debatte unter Autoren und Kritikern gibt Samuels hierauf im Wesentlichen zwei Antworten. Erstens habe es bei vielen einen beinahe unerschütterlichen Glauben an die tiefere Wahrheit, die „absolute transparency“ des Visuellen gegeben. Zweitens seien nicht zuletzt aus dieser Überzeugung heraus Bilder als Instrument eingesetzt worden, um auf der Basis der Nationalgeschichte kollektive wie individuelle Identitäten zu produzieren. Leider verbleibt Samuels auf dieser Ebene der Deskription zeitgenössischer Meinungen, ohne daraus eine dezidiert eigene historische Hypothese zu erarbeiten.

Problematisch wird dieses Vorgehen vor allem dadurch, dass seine faszinierenden Beschreibungen der Massenkultur historischer Visualität letztlich dennoch den Eindruck vermitteln, dass er die These des engen Zusammenhangs von Visualität und Identität übernimmt. So fragt er etwa im Abschnitt über die bonapartistischen Theaterstücke „how exactly did this process of theatrical identification imagined by Stendhal work in the case of Napoleon“ (S. 126)? In der darauf folgenden Analyse einiger Theaterstücke arbeitet er zwar plausibel die verschiedenen bonapartistischen Identitätsangebote heraus, lässt indes die Frage nach dem spezifischen Beitrag des Visuellen unbeantwortet. Paradoxerweise legen diese Ausführungen sogar eher nahe, was auch generell zu vermuten wäre, dass erst das Zusammenspiel bestimmter visueller Inszenierungsweisen, narrativer Inhalte und Rückgriffe auf traditionelle kulturelle Muster (christliche Symbolik!) die identifikatorische Wirkung erzielen konnten.

So bleibt beim Leser eine kleine Enttäuschung zurück, denn einerseits sind Samuels’ Belege für die besondere Kraft und Faszination visueller Darstellungs- und Erzählmodi in jener Zeit geradezu aufregend erdrückend, andererseits vermag er selbst keine wirklich überzeugende Erklärung für diese Faszination und die spezifische Wirkung ‚des Visuellen’ geben. Dieser manchmal etwas ungenaue Blick auf die Bilder selbst mag auch daran liegen, dass Samuels Literaturwissenschaftler ist und am Beginn dieser umfassenden kulturhistorischen Forschungsarbeit sein Interesse an den frühen Romanen des französischen Realismus stand.

In der zweiten Häfte des Buches widmet er sich ausführlich diesem Thema, indem er die ungeheure Popularität und den enormen Einfluss der historischen Romane Walter Scotts nachzeichnet und auf die Art zurückführt, in der sie vergangene Welten über Beschreibungen des Sichtbaren sprachlich lebendig werden lassen. In den abschließenden Kapiteln über Balzacs Romane „Les Chouans“ (1829), „Adieu“ (1830) und „Le Colonel Chabert“ (1832) sowie Stendhals „Le rouge et le noir“ (1830) kann Samuels überzeugend herausarbeiten, dass und wie der ‚Realismus’ dieser Werke nicht zuletzt darin besteht, sich kritisch mit dem damals vorherrschenden Muster einer visuell geprägten Geschichtsversessenheit – eben der „spectacular history“ – auseinanderzusetzen.

Gewissermaßen ‚versteckt’ in diesen Interpretationen findet sich dann ein Gedanke, den man – zumindest als Historikerin – gerne an prominenterer Stelle und ausführlich diskutiert gesehen hätte. So beschreibt Samuels, wie die zentrale Bedeutung des Visuellen in „Les Chouans“ im direktem Zusammenhang mit der verborgenen wahren Identität der Charaktere steht und liest diese „confusion of character“ als „an allegory for the identity crisis“ der post-revolutionären Gesellschaft, die sich nicht mehr auf Traditionen als Garanten stabiler Selbstbilder habe verlassen können (S. 203). Mit anderen Worten war es eben auch die ‚Unübersichtlichkeit’ der Gegenwart selbst, welche die Deutung der visuellen ‚Oberfläche’ als zentraler Erkenntnisquelle derart wichtig werden ließ. Mit dieser These hätte Samuels, neben dem allgemeinen Wunsch, die jüngste Vergangenheit wenigstens visuell, etwa im Panorama, zu ‚beherrschen’, eigentlich einen weiteren Schlüssel zur Erklärung der Lust am Visuellen an der Hand gehabt.

Maurice Samuels hat mit „The Spectacular Past“ eine hochinteressante Studie vorgelegt, die nicht nur einen innovativen Beitrag zur französischen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts liefert, sondern deren eigentlicher Wert vielleicht darin besteht, das Nachdenken über die spezifisch moderne Bedeutung visueller Kommunikation – bis hin zum Kino – mit anregender historischer Unterfütterung zu versorgen. Auch die jüngsten Debatten über Filme wie „Der Untergang“ könnten von diesem historischen Blick auf den ‚Konsum’ von Geschichte befruchtet werden.

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03.08.2005
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