W. Benz (Hg.): Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich?

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Title
Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich?. Von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien


Editor(s)
Benz, Wolfgang
Series
Perspektiven und Horizonte. Schriftenreihe der Evangelischen Akademie Görlitz 2
Published
Berlin 2004: Metropol Verlag
Extent
224 S.
Price
€ 18,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Klaus-Peter Friedrich, Marburg

Der in einer Schriftenreihe der Evangelischen Akademie Görlitz erschienene Sammelband enthält zehn Beiträge teils eher wissenschaftlichen, teils eher publizistischen Charakters. Wolfgang Benz gibt zunächst einen Überblick über Stationen von „Flucht und Vertreibung aus dem Osten“ angefangen bei ihren Ursachen in den NS-Verbrechen im deutsch besetzten Ostmitteleuropa über die Zwangsausweisung der Deutschen bis hin zu ihrer schwierigen Eingliederung westlich von Oder und Neiße. Die Ausführungen beruhen meist auf einer in die Jahre gekommenen deutschsprachigen Forschungsliteratur. Eva und Hans-Henning Hahn befassen sich in „Die sudetendeutsche völkische Tradition: Ein tschechisches Trauma des 20. Jahrhunderts“ profunder mit den national-politischen und antitschechischen Bestrebungen der Deutschen in Böhmen.

Unter der unscharfen Überschrift „Polen – Juden – Deutsche“ skizziert Beate Kosmala Ursachen, Verlauf und Ertrag des zwischen 2000 und 2002 stattgefundenen Diskurses über den Massenmord von Jedwabne im Juli 1941. Die Umschau bricht leider ohne ein eigenes Schlusswort ab. Während Kosmala – in Bezug auf diesen Pogrom – die einheimische Bevölkerung in der „Täter“-Rolle thematisiert, ist bei Piotr Madajczyk weiterhin – gemäß dem ,volkspolnischen‘ Narrativ – nachzulesen, Polen seien stets lediglich „Zeugen der Ausrottung der Juden gewesen“ (S. 101). Er referiert (in sprachlich teilweise unklaren Sätzen) über die in deutsche und sowjetische Besatzung zweigeteilte Weltkriegs-Erinnerung. Dabei äußert Madajczyk den Gedanken, die Polen seien gegenwärtig auf der Suche nach einem neuen „Gleichgewicht zwischen Erinnerung an das eigene Leid und Erinnerung an das Leid der anderen“ (S. 109). Um dies deutlicher herauszuarbeiten, hätte der Verf. aber stärker auf den polnischen Opferstatus und seine politisch-ideologische Instrumentalisierung seit 1945 eingehen müssen. Wie seine Schlussbetrachtung zeigt, überwiegt letztlich auch bei diesem Vertreter einer jüngeren Historikergeneration der Rekurs auf die polnische, vergangenheitspolitisch definierte Staatsräson.

Die Entwicklung von der polnischen „Hauptkommission (Główna Komisja)“ zur Verfolgung der NS-Besatzungsverbrechen bis zur (Neu-)Gründung des Instituts für das Nationale Gedenken (Instytut Pamięci Narodowej) Ende der 1990er Jahre schildert Andreas Mix. Die bislang kaum erforschte Hauptkommission war trotz ihrer Verdienste um die strafrechtliche Verfolgung von in West- und Mittelpolen tätigen NS-Verbrechern eine geschichtspolitische Institution par excellence. Seit den 1960er Jahren wurde sie immer häufiger im Sinne eines nationalkommunistischen Chauvinismus und Antisemitismus als politisch-ideologisches Instrument in Dienst genommen, was der Verf. nur nebenbei einfließen lässt. Stellenweise fehlt sprachliche Distanz: Gab es denn tatsächlich den (mehrmals genannten) westdeutschen Revisionismus (S. 85 u. 93)? – bei Madajczyk steht der Begriff korrekterweise in Anführungszeichen (S. 104). Manche allzu wörtliche Übersetzungen (Pazifizierung, Lustration) wirken deplaziert. Überdies passt der eher informierend-aufklärerische Anspruch hier nicht zu dem Usus, polnische Titelangaben und Ortsnamen unübersetzt zu lassen. Zudem ist dem Verf. leider entgangen, dass ein Instytut Pamięci Narodowej auf Betreiben des Schriftstellers und ersten Direktors Jerzy Kornacki und seiner Frau Helena Boguszewska schon Ende 1944 in Lublin ins Leben gerufen wurde. Dessen vergangenheitspolitisches Programm fasste Życie Warszawy am 2. März 1945 treffend zusammen: „Die Erinnerung an die schreckliche Gefahr, der uns die verfehlte Politik der vor dem September 1939 regierenden Clique ausgesetzt hat und vor der uns die heldenhafte Rote Armee gerettet hat, soll unter uns nicht verloren gehen. Künftige Generationen unseres Volkes sollen aus den im Instytut Pamięci Narodowej gesammelten Dokumenten Hass auf den eroberungssüchtigen und ewig gierigen deutschen Imperialismus sowie ein treues Beharren im Bündnis mit den demokratischen und friedliebenden Völkern, und insbesondere mit den verbrüderten Völkern der Sowjetunion lernen. Zugleich ist es notwendig, dass das Instytut Pamięci Narodowej ein beredtes Denkmal der Schande für jene wird, die sich für das Volk mit der bedeutendsten Kultur auf der Welt und für die ,Verteidiger Europas‘ bezeichneten.“ Anfangs befasste sich das Institut – in Kooperation mit der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission (Centralna Żydowska Komisja Historyczna) – auch mit der Erforschung des Warschauer Getto-Aufstands.

Den Umgang mit den Themen Besatzung, Widerstand und NS-Judenmord in neueren tschechischen Geschichtslehrbüchern untersucht Michael Frankl, während Tomasz Kranz die „KZ-Gedenkstätten in Polen als Formen institutionalisierter Erinnerung“ erörtert und Vojtěch Blodig „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ der Gedenkstätte Theresienstadt reflektiert. Barbara Distel blickt zurück auf die Geschichte der Gedenkstätte in Dachau, bevor Ute Benz Gedanken zu „Schwierigkeiten des Verstehens“ beisteuert, wenn „Dritte“ sich heute mit der Täter-Opfer-Problematik befassen.

Viele dieser Themen hätten gewiss eine eingehendere analytische Betrachtung verdient, und Teile des Bandes auch eine gründlichere Redaktion. So ist z.B. die Zahl von angeblich 1,2 Millionen aus den 1939 annektierten westpolnischen Gebieten Vertriebenen nicht belegt, gehörte Westpreußen 1945 nicht zu den – von polnischer Propaganda sogenannten – „wiedergewonnenen Gebieten“ und entstand die Bundeswehr in den 1950er Jahren; die polnischen Bischöfe wandten sich 1965 mit einem Versöhnungsangebot an ihre Amtsbrüder (S. 11, 85, 104). Manche Verfasser erweisen trotz ihres aufklärerischen Anspruchs geschichtspolitischen Ikonen in Gestalt von überhöhten Opferzahlen selbst ihre Reverenz, wenn sie unter Bezug auf bis heute allzu oft unhinterfragte demografische Verlustbilanzen fälschlich suggerieren, „zwei Millionen Deutsche“ hätten „bei Flucht und Vertreibung ihr Leben“ verloren (Benz, S. 17) oder es seien zwischen 1939 und 1945 „knapp 6 Millionen“ „polnische Staatsbürger […] ermordet“ worden (Mix, S. 75). Madajczyk gibt die Gesamtzahl der „polnischen Opfer“ mit „ca. 5 Millionen“ an (S. 96) und weist darauf hin, dass nun zumindest in der Frage der 1939-1941 aus Ostpolen in das Innere der UdSSR deportierten polnischen Staatsbürger mit aufgebauschten Opferzahlen aufgeräumt und die Ziffer von einer Million auf ca. 300.000 drastisch korrigiert wurde (S. 103).

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24.06.2005
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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