A. Helmedach (Hrsg): Pulverfass, Powder Keg, Baril de Poudre?

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Title
Pulverfass, Powder Keg, Baril de Poudre?. Südosteuropa im europäischen Geschichtsschulbuch / South Eastern Europe in European History Textbooks


Editor(s)
Helmedach, Andreas
Series
Studien zur Internationalen Schulbuchforschung 118
Published
Extent
316 S.
Price
€ 20,00
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Markus Koller, Justus-Liebig-Universität Gießen

Familie und Schule gehören zu den wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen, in denen Heranwachsenden Wissen und Werte vermittelt werden sollen, die sie später zu einer eigenständigen und verantwortungsbewussten Lebensführung befähigen. Die mittel- und langfristige soziale und politische Stabilität einer Gesellschaft hängt daher wesentlich von den Erfahrungen und Prägungen ab, denen Kinder und Jugendliche in beiden Einrichtungen ausgesetzt sind. Respekt und Toleranz gegenüber dem „Anderen“, die zentralen Grundlagen für ein verständnisvolles und friedliches Miteinander in einer multikulturellen Realität, erfordern jedoch auch ein Wissen über die Geschichte und Kultur, die die Lebenswirklichkeit des „Anderen“ in einem individuell unterschiedlichen Maße bestimmt. Daher ist es erstaunlich und zugleich alarmierend, wenn Schulbücher dieser Notwendigkeit kaum Rechnung tragen und ein Geschichtsverständnis – und damit auch ein Kulturverständnis – vermitteln, in dem die Herkunftsregionen vieler Heranwachsender mit Migrationshintergrund weitgehend ausgeblendet werden.

Der Herausgeber des hier anzuzeigenden Sammelbandes spricht in seinem Beitrag über Südosteuropa im deutschen Geschichts- und Gemeinschaftskundeschulbuch der Gegenwart (S. 73-119) am Beispiel der Bücher für die Sekundarstufe I dieses Defizit deutlich an. In Bezug auf eine fehlende Darstellung der Geschichte des Osmanischen Reiches schreibt er: „Da die große Mehrheit der Migrantenkinder in Deutschland einen ‚osmanischen’ Abstammungsgrund hat, da zudem die meisten von diesen in Deutschland nach der neunten oder zehnten Klasse von der Schule abgehen, muss dies als ein schweres Versäumnis bezeichnet werden, durch das sich die deutsche Schule selbst der Möglichkeit beraubt, auf die – natürlich durchaus heterogenen – Geschichtsbilder dieser Kinder einzuwirken.“ (S. 112f.) Jedoch darf dieser gegenwärtige Befund nicht darüber hinwegtäuschen, dass insbesondere zwischen 1968 und 1989 durch die Einbeziehung der Methode des interkulturellen Lernens die multikulturelle und multiethnische gesellschaftliche Wirklichkeit berücksichtigt worden war. In seinem Beitrag über südosteuropäische Sequenzen in bundesdeutschen Geschichtsschulbüchern (1945-1989) spricht Hans-Christian Maner (S. 41-71) von einem zaghaften Anfang, der jedoch – von wenigen Ausnahmen abgesehen – bisher kaum ausgebaut worden ist.

Die Ursachen für diese Entwicklung sind vielfältig, doch sind vor allem zwei Gründe hervorzuheben. Deutlich erkennbar ist ein westeurozentristischer Blick auf die Vergangenheit, durch den – bewusst oder unbewusst – eine Abgrenzung vom „Anderen“ oder sogar ein Bedrohungstopos in die Texte der Schulbücher einfließen. Eine häufig zu erkennende Unsicherheit in Bezug auf Namen verstärkt diese „Mauerbildung“, wenn – um nur ein Beispiel zu nennen – fälschlicherweise anstelle von Osmanen und Osmanisches Reich von den „Türken“ und der „Türkei“ gesprochen und damit auch implizit ein bis in die Gegenwart reichendes Bedrohungspotenzial durch den Islam angedeutet wird. Auch die Fokussierung auf die nationale Geschichte trägt wesentlich zur Ausblendung oder Marginalisierung anderer Kulturkreise bei, die bestenfalls im Kontext westeuropäischer Geschichte und damit nur als passive Objekte in Erscheinung treten.

Diese Bemerkungen gelten jedoch nicht nur in Bezug auf deutsche Schulbücher, sondern sie beziehen sich auch auf andere europäische Staaten. Stefan Albrecht zeigt, dass in deutschen, französischen und englischen Schulbüchern die byzantinische Geschichte stark vernachlässigt wird (S. 11-40), was belegt, dass in Westeuropa noch immer die Fixierung auf eine Geschichtsregion dominiert, die die etwa den Grenzen des Karolingerreiches entspricht (S. 36). Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn – wie der Beitrag von Stefan Ihrig belegt (S. 121-143) – in britischen Schulbüchern der südosteuropäische Raum nur als periphere Region wahrgenommen wird, die allenfalls als Objekt in der Politik europäischer Großmächte von Bedeutung war. Wie die Analyse von Sabine Rutar (S. 145-171) zeigt, manifestieren sich die bisher erwähnten Konstanten in der Gestaltung europäischer Schulbücher auch in den Texten, mit denen französische Schüler arbeiten müssen. Den Heranwachsenden wird außerdem das Bild „fortschrittlicher“ Nationalstaaten westeuropäischer Prägung vermittelt, denen die als antimodern definierten Imperien der Osmanen oder der Habsburger und damit eng verbunden ein „rückständiger“ Balkan gegenübergestanden hätten.

Die Fokussierung auf den Nationalstaat als das vorbildliche politische Modell und der Topos vom „unterentwickelten“ und „krisenhaften“ Balkan, auf den der Titel dieser Publikation Bezug nimmt, treten in den ostmittel- und südosteuropäischen Staaten sehr stark in Erscheinung. Die ideologische Deutung der Geschichte findet aus unterschiedlichen Gründen, zu denen beispielsweise die junge Staatlichkeit einiger Länder zu zählen ist, Eingang in die Schulbücher. Vor dem Hintergrund des Beitritts zur Europäischen Union interpretieren die rumänischen Schulbücher die Geschichte ihres Landes fast ausschließlich im Kontext der westeuropäischen Geschichte (Diana Georgescu, S. 283-306). Die damit verbundenen Abgrenzungsversuche vom südosteuropäischen bzw. balkanischen Raum treten auch in Ungarn (Agnes Fischer-Dardai-Zsuzsanna M.-Vsaszar, S. 199-218) und insbesondere in Kroatien deutlich zu Tage. Die Verortung der „eigenen“ Geschichte in einen als „besser entwickelt“ angesehenen abendländisch-christlichen Kulturkreis stellt ein stetes Bemühen dar, wenngleich – wie der Beitrag von Natalja Kyaw (S. 231-242) über die kroatischen Schulbücher unterstreicht – die Positionierung in der Argumentation noch schwankt. In diesem Zusammenhang leuchtet beispielsweise die Vorstellung eines Kroatien als „antemurale Christianitatis“ in den Texten auf, in dem der Balkan als ein – wenngleich geographisch schwer einzugrenzender – Raum definiert wird, in dem das islamische Osmanische Reich über Christen herrschte oder diese „unterjochte“. Den Abgrenzungsversuchen vom „Pulverfass“ Balkan steht in den serbischen und griechischen Schulbüchern eine oftmals fehlende Kontextualisierung der jeweils „eigenen“ Geschichte in die südost- oder gesamteuropäische Geschichte gegenüber. Die Auswertung der griechischen Texte durch Augusta Dimou (S. 265-282) ergab, dass die dortigen Schüler weniger nationalistischen Stereotypen gegen die „Anderen“ als vielmehr Versuchen ausgesetzt sind, die eigene moralische Überlegenheit gegenüber den anderen Nationen in diesem Raum zu betonen und durch den Blick auf die „eigene“ Geschichte zu beweisen. Marko Šuica (S. 243-264) kommt in seiner Analyse serbischer Schulbücher zum Ergebnis, dass gerade seit dem späten 20. Jahrhundert ein nationalistischer Blick auf die Geschichte dominiert, um die „eigene“ nationale Identität zu stärken. Der historische Kontext, in dem sich die serbische Geschichte abspielte, tritt dabei fast völlig in den Hintergrund.

Der vorliegende Sammelband zeigt deutlich die vorhandenen Defizite in Bezug auf die Darstellung Südosteuropas in den europäischen Schulbüchern auf. Jedoch belässt er es nicht bei einer Kritik am gegenwärtigen Zustand, sondern bietet sowohl in den einzelnen Beiträgen als auch im abschließenden Kommentar von Andreas Helmedach (S. 307-314) zahlreiche Verbesserungsvorschläge an. Es bleibt zu hoffen, dass die Anregungen für die Gestaltung künftiger Schulbücher aufgegriffen werden, damit das Bild eines „Pulverfasses“ in Zukunft nicht für die Beschreibung der europäischen Gesellschaft herangezogen werden muss.

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22.12.2008
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