F. Blask u.a. (Hgg.): Europa an der Grenze. Ost Odra West Oder

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Title
Europa an der Grenze. Ost Odra West Oder


Editor(s)
Blask, Falk; Kaschuba, Wolfgang
Series
Berliner Blätter, Ethnographische und ethnologische Beiträge 5
Published
Münster 2003: LIT Verlag
Extent
168 S.
Price
€ 10,90
Reviewed for Connections. A Journal for Historians and Area Specialists by
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Das hier anzuzeigende Buch ist Produkt eines Studienprojekts des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Ergebnisse der etwa anderthalbjährigen Forschung sind bereits in einer Ausstellung im Dominikanerkloster Prenzlau und in den Regionalzeitungen auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze dokumentiert worden. Das Projekt versucht allgemein, einen „ethnologische“ Zugang zum Feld der Grenzforschung zu finden 1 und konzentriert sich auf die deutsch-polnischen Beziehungen.2 Zweitens handelt es sich um eine vor allem von Studierenden realisierte Arbeit, die als Gemeinschaftsprojekt angelegt war. Drittens bemühten sich die Beteiligten um einen explizit öffentlichkeitsbezogenen Ansatz im Rahmen der politischen Bildung, wobei der Bildungsanspruch gleichermaßen nach außen, in eine interessierte Öffentlichkeit, wie auch nach innen, in die Gruppe der Bearbeiter/innen selbst, zielte.

Der Band stellt eine Art Lesebuch dar, in dem kleine Studien und Reportagen aus der deutsch-polnischen Grenzregion auf verschiedenen Themenfeldern zusammengetragen und zumeist essayistisch aufbereitet wurden. Konsequent wird die Mikroperspektive gewählt, um anhand konkreter, individualisierter Konstellationen einzelne Aspekte zu entfalten. Diese „Erkundungsreise durch die Lebenswelten dies- und jenseits der Grenze“ (S. 8), wie es Günter Verheugen „mit den besten Wünschen aus Brüssel“ (ebd.) im Geleitwort formuliert, enthält durchaus einige Anregungen; Erwartungen an präzise analytische Leistungen müssen allerdings gedämpft werden. Eine explizite Bezugnahme auf die aktuelle wissenschaftliche Diskussion wird fast durchgängig vermieden.3 Sie scheint nicht intendiert gewesen zu sein, denn die Herausgeber „verstehen [...] diese Seiten nicht als Lexikon, sondern als einen bunten Flickenteppich, genäht von 23 sehr verschiedenen Schneidern“ (S. 11). Als Ziel des Bandes formulieren sie, den/die Leser/innen „das eine oder andere Mal [zu] überraschen“. Denn, so wird die ethnologische Fachspezifik dieses Projektes konkretisiert, „darum geht es in der Europäischen Ethnologie: Durch den Blick von außen neue Antworten auf alte Fragen zu finden, sich durch die Brille des anderen auch selbst neu zu sehen“(ebd.).

Die deutsch-polnische Grenze – im Zentrum steht die Euroregion Pomerania – wird entlang verschiedener thematischer Linien problematisiert. Die historische Dimension der deutsch-polnischen Verflechtungen ist vor allem durch Flucht und Vertreibung präsent, aber auch durch die Gruppe der Polen/innen, die nach der Solidarnosc-Gründung und der nachfolgenden Verhängung des Kriegszustands emigrierten, sowie die der jüngeren Generation der Transmigranten nach 1990, die vor allem in Berlin leben. Am Beispiel der Grenzsicherung und der Rolle des Bundesgrenzschutzes (BGS) wird das Grenzregime „als System sozialer Mechanismen der Aus- bzw. Abgrenzung (adminstrativer wie symbolischer Art)“ (S. 92) porträtiert, wobei durch die Form der Darstellung eine Stellungnahme gegen die Exlusionsmechanismen zu erkennen ist. Den Themenfeldern Natur und Umwelt sind kleine Studien zum Nationalpark „Unteres Odertal“ und die sich hier verschränkenden Konfliklinien zwischen Bauern und Umweltschützern im spezifischen bi- und transnationalen Kontext gewidmet. Am Beispiel zweier Kunstprojekte, in Bröllin und Trebnitz (Brandenburg), werden die Möglichkeiten des kulturellen grenzüberschreitenden Austauschs illustriert. Größeren Raum nimmt das Problemfeld der legalen und illegalen Migration ein, dem auch im Zusammenhang mit der Grenzsicherung Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hier stehen vor allem Berliner Migrantennetzwerke und -schicksale im Zentrum, womit die Dimension der Grenze ausgeweitet wird auf ihre Wirksamkeit in den Lebenswelten der Staaten selbst. Die ethnologischen Fallstudien über Wirtschaft und Handel reichen vom Kulturtransfer bei der Kartoffelzüchtung über die Flussschifffahrt bis zum Tourismus. Lebensweltliche Mikroanalysen widmen sich der deutsch-polnischen Interaktion auf Usedom, der Situation von Frauen in Polen und Deutschland.

Die Grenze als Konzept und gesellschaftliches Muster wird in einigen wenigen Beiträgen explizit thematisiert und theoretisch hinterfragt.4 Grenze ist hier einerseits Ort und Linie, andererseits Institution und strukturierendes Element innerhalb von Gesellschaften. Dies entspricht durchaus dem aktuellen Forschungstrend. Im Zusammenhang mit staatlicher Durchsetzungsmacht beobachten viele der Autoren/innen des Bandes einen exkludierenden, bedrohlichen, hemmenden Charakter der Grenze, sei es in Form der Sicherung des Grenzregimes durch den BGS (beispielsweise S. 36ff., 40ff.) oder als eine der Bürokratie eigene Trägheit, die spontane grass-roots Bewegungen in der Grenzregions selbst stoppt (S. 16f.). Auf der lokalen Ebene wird die Wirkung der Grenze vor allem in ihrer lebensweltlichen Dimension und in ihrer Wirkung auf die Selbstbeschreibungen und Zugehörigkeiten der Grenzlandbewohner erfasst. Die Erforschung von Migrantennetzwerken eröffnet bei der Untersuchung der gesellschaftlichen und identitätspolitischen transnationalen Dimension der Grenze vielversprechende Möglichkeiten. Grit Staroste und Katja Grote (S. 149-157) widmen sich dem Phänomen der Transmigranten: „Sie nennen mehrer Länder ihr Zuhause, investieren finanziell wie emotional sowohl in Polen ihr Herkunftsland, als auch in die ‚neue Heimat’ Deutschland.“ Transnationale Netzwerke, die so entstehen, eröffnen den Blick auf die Grenze als sozialen und mentalen Raum sowie als kulturellem Ordnungsprinzip, das in wechselnden Kontexten unterschiedlich ausgeprägt sein kann.

Ein historisches Narrativ über die deutsch-polnischen Grenzbeziehungen, das sich mehr oder weniger durch die Beiträge zieht, beschreibt die Chancen der Grenzöffnung, beklagt gleichzeitig aber auch die Schwierigkeiten auf dem Weg der Integration und setzt dabei Hoffnungen in die Potentiale von Euroregionen an der Grenze und die Kreativität ihrer Bewohner: „‚Europa an der Grenze’ meint deshalb mehr als nur schwierige Vergangenheiten und problematische Gegenwarten. Es ist auch ein Versprechen: Europa kommt!“(S. 10).

Deutlich wird dabei der normative Hintergrund des Bandes: Grenzen bedeuten Ausgrenzung – Ziel muss deren Abschaffung sein. Gegen eine solche Position ist nichts einzuwenden, zumal im Zusammenhang mit Projekten wie dem vorliegenden, das bewusst auf grenzüberschreitende Verständigung und Aufklärung gerichtet ist. Allerdings sollte dann besonderes Augenmerk auf der Bearbeitung der einzelnen Themen investiert werden, um nicht in die Falle der political correctness zu geraten. Beispielsweise sollte nicht, wie im Beitrag von Alina Fedoryszyn nachzulesen, suggeriert werden, die deutsch-polnische Grenzregion, hier am Beispiel der Insel Usedom, hätte vor Krieg und Vertreibung eine multilinguale Prägung besessen: „Aufgrund von Krieg und darauf folgender Evakuierung und Vertreibung gibt es an dieser Grenze keine Tradition wechselnder Loyalität, multikulturellen Lebens oder Mehrsprachigkeit [...]“ (S. 80). In dem Gebiet, durch das heute die deutsch-polnische Grenze verläuft, war dies auch vor Flucht und Vertreibung so, zumindest wenn damit auf die jüngste Geschichte rekurriert werden soll, was im Kontext dieses Bandes wahrscheinlich ist.5 Bemerkenswert ist ebenfalls, dass die „Grenzerkundungen“ zumeist auf die deutsche Seite der „Trennlinie“ konzentriert sind.

Bedauerlich sind die Dopplungen zwischen einzelnen Aufsätzen, bei denen wechselseitig ganze Passagen wörtlich übernommen und neu integriert wurden.6 Hier wäre größere redaktionelle Sorgfalt wünschenswert gewesen, auch und gerade bei einem Band, der als Ergebnis eines studentischen Projekts in einer wissenschaftlichen Reihe veröffentlicht wurde.

Auch wenn man den Band als Sammlung von „Ansätze[n] zum Nachhaken, zum Weiterforschen“ (S. 140) aufnimmt, wünscht man sich eine strukturierte Zusammenführung, die das Potential ethnologischer Forschung deutlich macht. Das Vorwort der Herausgeber allein kann dies nicht leisten. So bleibt die Aufsatzsammlung vor allem eine begleitende Publikation zur erwähnten Ausstellung. Als heranführende Lektüre an die Facetten der deutsch-polnischen Grenzregion sollte sie aber durchaus mit kritischem Abstand gelesen werden.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft für die anthropologisch und kulturwissenschaftlich orientierte Forschung seien hier genannt: Martinez, Oscar J. (Hg.) Across Boundaries. Transborder Interaction in Comparative Perspective, El Paso 1986; Martinez, Oscar J., Border People. Life and Society in the US-Mexico Borderlands, Tucson/ Arizona 1998; für die geografische Anthropologie: Paasi, Anssi, Territories, Boundaries and Consciousness. The Changing Geographies of the Finnish-Russian Border, Sussex 1996; und für die anthropologische Forschung: Donnan, Hastings; Wilson, Thomas W., An Anthropology of Borders; in: diess. (Hgg.), Border Approaches. Anthropological Perspectives on Frontiers, Lanham 1994, S. 1-13.
2 Auch hier sei nur beispielhaft für die große Zahl an Studien genannt: Lawaty, Andreas (Hg.), Deutsch-polnische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart. Bibliographie 1900-1998, Wiesbaden 2000; Wolff-Poweska, Anna; Bingen, Dieter (Hgg.), Nachbarn auf Distanz. Polen und Deutsche 1998-2004, Wiesbaden 2005.
3 Ausnahmen sind die Beiträge von Vera Pohl, Tobias Schwarz und Jens Wietschorke (S. 90-109) und Coleen Clement und Barbara Lemberger (S. 110-116), die zumindest ein Mindestmaß an Kommentierung besitzten.
4 So bei Wietschorke (S. 40ff.), und insbesondere in den Beiträgen des Abschnitts „Grenzerkundungen“.
5 Dafür sprechen – dies nur als vorläufiges Argument – sowohl deutsche als auch polnische Sprachkarten dieser Zeit. Vgl. Romer, Eugeniusz, Atlas Polski, Warschau 1916, Tablica IX sowie Kozenn, Blasius, Kozenn Sprachatlas, bearb. v. Güttenberger, Heinrich; Leiter, Hemann, 52. Auflage, Wien 1931, S. 37.
6 Besonders eklatant der Aufsatz von Pohl/Schwarz/Wietschorke (S. 90-109), der zu großen Teilen aus Passagen anderer Ausätze der Autoren/innen im Band besteht (Pohl, S. 44f., Schwarz, S. 36ff. und Wietschorke, S. 40ff.) und der Aufsatz von Grote/Staroste (S. 149-157), der Äußerungen von Migranten/innen aus anderen Ausätzen der Autorinnen (Grote, S. 46ff., 49f.) wörtlich unter anderem Namen wieder verwendet.

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17.04.2006
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