Transnationales / translokales Gedächtnis? 7. Internationaler Kongress der KKT

Transnationales / translokales Gedächtnis? 7. Internationaler Kongress der KKT

Veranstalter
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Veranstaltungsort
Theatersaal der ÖAW, Sonnenfelsgasse 19/I, 1010 Wien
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
03.11.2005 - 05.11.2005
Von
peter.stachel@oeaw.ac.at

Das von Pierre Nora initiierte Forschungsprogramm „Lieux de mémoire“, das sich zum Ziele gesetzt hatte, französische Gedächtnisorte zu untersuchen, hatte Beispielwirkung für ähnliche Unternehmen in anderen Ländern, u.a. in Italien (M. Isnenghi), in Deutschland (E. François, H. Schulze) und jüngst auch in Österreich (E. Brix, E. Bruckmüller, H. Stekl). Diesen Unternehmen ist gemeinsam, dass sie versuchen, solche Gedächtnisorte historisch zu rekonstruieren, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind und für die jeweilige Nationsbildung von konstitutiver Bedeutung waren. Die Rekonstruktion solcher Gedächtnisorte bleibt freilich nicht nur von historischem Interesse: Es wird explizit darauf hingewiesen, dass sie auch für die Gegenwart von Relevanz sein könnten. Mit solchen Absichtserklärungen wird klar, dass es sich hier nicht nur um eine historische Rekonstruktion, sondern darüber hinaus auch um die explizite Vorgabe, d.h. um die Konstruktion solcher Gedächtnisorte handelt, an denen sich die jeweiligen Nationen auszurichten hätten. Die historische Rekonstruktion von Gedächtnis wird somit bewusst national verortet, was eine klare Trennung zwischen französischen, italienischen, deutschen oder österreichischen Gedächtnisorten zur Folge hat. Unser Forschungsansatz versucht eine solche Sicht kritisch zu hinterfragen.

Die individuelle und kollektive erinnernde Aneignung von Gedächtnisorten ist ein dynamischer, „performativer“ Prozess, der stabile Vorgaben für eine Gesellschaft, für eine nationale Identität, nicht zulässt. Eine historische, empirische Analyse macht deutlich, dass in der Vergangenheit Gedächtnis für die Konstruktion von Nation zwar vereinnahmt wurde, dass jedoch die Elemente bzw. Codes, aus denen sich ein Gedächtnisort zusammensetzt, auch für andere von konstitutiver Bedeutung sein können, dass die gleichen Elemente und Codes in Gedächtnisorten unterschiedlicher Gesellschaften (Nationen) nachweisbar sind. Damit wird die eindeutige und Zeit übergreifende nationale Zuschreibung von Gedächtnis und Erinnerung obsolet. Auch die jeweils unterschiedliche, veränderte Lesart von Signifikanten hat zur Folge, dass nicht nur diese, sondern auch das, worauf diese verweisen, das Signifikat, Veränderungen ausgesetzt sein kann: Die ursprüngliche Aussage eines Denkmals kann so in Vergessenheit geraten und an ihre Stelle können andere Bedeutungen treten.

Für die Beschäftigung mit Gedächtnisorten hat das zur Folge, dass der methodische Zugang nicht allein in der (historischen) Rekonstruktion von Gedächtnisorten und deren nationaler Festlegung gelegen sein kann, sondern dass deren Dekonstruktion ein wichtiges Ziel der Forschungsarbeit sein muss. Das entspricht nicht nur den Theorieansätzen des gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskurses über Gedächtnis und Erinnerung, es ermöglicht zugleich, die bis heute vorherrschende nationale Perspektive, ein Erbe des 19. Jahrhunderts, zu überwinden.

Die Analyse von Gedächtnisorten, an denen sich gesellschaftliches Bewusstsein ausrichtet, macht deutlich, dass diese als Identifikatoren begriffen werden können, die für die Bildung von kollektiver Identität von Bedeutung sind. Lassen sich Gedächtnis und Erinnerung, kollektive und individuelle Identitäten nicht eindeutig oder vornehmlich in eine nationale Perspektive einordnen, stellt sich die Frage sowohl nach der Mehrdeutigkeit als nach der transnationalen Relevanz von Gedächtnis. Unter diesen Aspekten richtet sich unser Forschungsansatz zunächst auf die zentraleuropäische Region. Das Interesse an dieser Region besteht vor allem darin, dass sie nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in der Gegenwart von kultureller Differenz geprägt ist. Versteht man unter Kultur das Ensemble von Elementen, mittels derer Individuen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal kommunizieren, versteht man also unter Kultur einen Kommunikationsraum, ist Zentraleuropa von zahlreichen differenten Kommunikationsräumen gekennzeichnet, die sich nicht nur konkurrenzieren, sondern zum Teil ineinander übergehen. Gerade solche „Grenzbereiche“, wie u.a. die urbanen Milieus, sind für kulturwissenschaftliche Analysen von besonderem Interesse, sind doch gerade an solchen Schnittstellen Prozesse von Inklusionen und Exklusionen nachweisbar. Solche Prozesse führen dazu, dass sich neben den unterschiedlichen Kommunikationsräumen nicht nur ein übergreifender, entgrenzter Kommunikationsraum ausbildet, in welchem die gleichen Zeichen, Codes und Symbole verwendet werden, die eine gemeinsame, nonverbale Sprache ermöglichen; sie können freilich auch unterschiedlich erinnert bzw. „gelesen“ werden und damit Krisen- und Konfliktpotentiale freilegen und verstärken. Gedächtnis und Erinnerung sind folglich nicht nur lokal (national), sondern zugleich auch in diesem entgrenzten, „globalen“ Kommunikationsraum verortet. Identitätsprozesse finden nicht nur in einem abgeschlossenen, sondern zugleich in diesem übergreifenden, hybriden Kommunikationsraum statt, was sowohl Mehrfachidentitäten oder die Multipolarität von Identität als auch Verunsicherungen und Identitätskrisen zur Folge haben kann.

Unser Forschungsansatz betrachtet Zentraleuropa als ein Paradigma, das nicht nur von eingeschränkter regionaler Bedeutung ist. Vielmehr gewinnen aus einer solchen Perspektive auch die aktuell diskutierten Fragen nach einem europäischen Gedächtnis, nach europäischen „Werten“, nach europäischen Identitäten eine neue Dimension. Unser theorieorientierter und methodischer Zugang an die konkrete Erforschung kultureller Prozesse in Zentraleuropa versteht sich daher als ein innovativer Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Analyse gesamteuropäischer kultureller Prozesse. Der Vergleich mit außereuropäischen Kulturen kann/soll zur Verifizierung und Vertiefung von gewonnenen Forschungserkenntnissen beitragen. Darüber hinaus ist eine solche Perspektive auch ein Beitrag zur Erforschung jener dynamischen kulturellen Prozesse, die in einer Zeit akzelerierter Vernetzungen und Mobilitäten von weltweiter Relevanz sind.

Konzeption: Moritz Csáky, Elisabeth Großegger

Programm

Donnerstag, 3. November 2005

18:00
Lesung: Péter Nádas (Budapest)
"Das stille Murmeln der Toten"

Freitag, 4. November 2005

9:30
Moritz Csáky (Wien/Graz)
Begrüßung

Peter Haslinger (München/Freiburg)
Nationale Identitäten und transnationales Erinnern

10:30
Heinz Fassmann (Wien)
Von der Migration zur transnationalen Mobilität

Kaffeepause

11:30
Gabi Dolff-Bonekämper (Berlin)
Erinnerungstopographien - Lernwege – Gedächtniskollektive.

12:15
Anil Bhatti (New Delhi)
Teilung als Wunde - Orte und Horizonte der Besetzung von Gedächtnis im postkolonialen Indien

Mittagspause

15:00
Werner Telesko (Wien):
"Österreich" und "seine" Regionen - zur Frage der Mehrfachidentitäten in den Medien der bildenden Kunst im 19. Jahrhundert

15:45
Peter Zajac (Berlin/Bratislava)
Konstrukte der Nationalliteratur in kleinen mitteleuropäischen Kulturen

Kaffeepause

16:45
Tibor Tallián (Budapest)
Béla Bartók im Wandel des Raumes

17:30
Eveline Goodman-Thau (Berlin/Tel Aviv)
Erinnerte Geschichte und kollektives Gedächtnis – Zur Frage der Ver-Ortung des historischen Bewußtseins in Europa aus jüdischer Sicht

Buffet

Samstag, 5. November 2005

9:30
Walter Pohl (Wien)
Mittelalter zwischen transnationalem Gedächtnis und nationaler Aneignung ?

10:15
Milos Havelka (Prag)
Mitteleuropäische Mitteleuropakonstruktionen

Kaffeepause

11:30
Justus H. Ulbricht (Jena/Weimar)
Fragmentierte Erinnerung – Weimar und sein eigenes kulturelles Gedächtnis – Facetten und Lücken

12:15
Jacqueline Vansant (Michigan, Dearborn)
Wien als transnationaler Gedächtnisort

Referenten:
Anil Bhatti (New Delhi)
Gabi Dolff-Bonekämper (Berlin)
Heinz Fassmann (Wien)
Eveline Goodman-Thau (Berlin/Tel Aviv)
Peter Haslinger (München)
Milos Havelka (Prag)
Péter Nádas (Budapest)
Werner Oechslin (Zürich)
Werner Telesko (Wien)
Walter Pohl (Wien)
Tibor Tallián (Budapest)
Justus Ulbricht (Jena/Weimar)
Jacqueline Vansant (Dearborn, Michigan)
Peter Zajac (Berlin/Bratislava).

Die Tagung wird mit einer Lesung von Péter Nádas (Budapest) "Das stille Murmeln der Toten" am 3. November 2005 um 18:00 Uhr eröffnet. Der Eintritt ist frei.

Vorankündigung
8. Internationaler Kongress des Forschungsprogramms
„Orte des Gedächtnisses“
November 2006
EUROPÄISCHES GEDÄCHTNIS - EUROPÄISCHE WERTE (Arbeitstitel)

Kontaktadresse:
Dr. Elisabeth Großegger, + 43/1/515 81 3312

Kontakt

Dr. Elisabeth Großegger
Postgasse 7/4
A-1010 Wien

Telefon: 0043/01/51581/3312
Fax: 0043/01/51581/3311
E-Mail: elisabeth.grossegger@oeaw.ac.at

http://www.oeaw.ac.at/kkt/