Seit den 1970er Jahren zeigt die Geschichtswissenschaft wieder ein verstärktes Interesse an der "Nation"; dabei hat sich der konstruktivistische Zugang durchgesetzt.
In diesem Sinne wird Erinnerung als wichtiges Element der Förderung von Gruppenidentifikationen untersucht. Der von Pierre Nora herausgegebene Sammelband zu den französischen "lieux de mémoire" muss als Teil dieser langfristigen Entwicklung angesehen werden, obwohl er den Wissenschaftsdiskurs um den Begriff des "cultural turn" nicht allein ausgelöst hat. Das von Nora geleitete Projekt erfuhr im Zeitraum von der Publikation des ersten Bandes im Jahr 1984 bis zum Erscheinen des letzten Bandes 1992 einen grundsätzlichen Wandel: Während zunächst eine nachlassende Beschäftigung mit der Erinnerung kritisiert wurde, zog Nora bald die übermäßige Bedeutung, die der Erinnerung zugeschrieben wurde, in Zweifel. Aufgrund der Wirkung, welche die Studie zu den "lieux de mémoire" durch ihre Verbreitung und ihre Aufnahme in andere nationale Geschichtsschreibungen erfahren hat, konnte sich dieser Forschungsansatz noch weiter ausdifferenzieren.
Die Tagung "'Nationale 'Erinnerungsorte' hinterfragt. Neue methodische, interdisziplinäre und transnationale Ansätze" geht aus einem nationalen Projekt hervor, das die Luxemburger Identitäten hinterfragt. Sie möchte drei Themen näher untersuchen, die zur Zeit zentral in der wissenschaftlichen Debatte um Nation und Identitätkonstruktionen stehen:
- Methodik und Interdisziplinarität.
Die ursprüngliche Absicht von Noras Forschungsprojekt war es, nationale Geschichte auf eine andere als die bisher übliche Art zu schreiben und dabei die Prozesse, wie sich an die Vergangenheit erinnert wurde und wie sie rekonstruiert wurde, stärker zu berücksichtigen. Zur gleichen Zeit entwickelte sich die Wechselwirkung zwischen den Begriffen Erinnerung und Identität auch zu einem Hauptinteressensgebiet in anderen sozialwissenschaftlichen Fächern. Im Rahmen der Konferenz sollen deshalb in einem ersten Schritt die methodischen Überlegungen der Historiker denjenigen der Soziologen, Linguisten, Philosophen sowie Literatur- und Kunsthistoriker gegenübergestellt und auf breiter Grundlage diskutiert werden.
- Die nationalen Verortungen der "Lieux de mémoire"
Nach dem Beginn des Ursprungsprojekts in Frankreich, stieß der zugrundeliegende Forschungsansatz der "lieux de mémoire" in Europa auf eine unerwartet große Resonanz. In den meisten Staaten wurden ähnliche Projekte gestartet, mit dem Ziel, die eigene Geschichte neu zu schreiben. Anstelle einer Aneinanderreihung bestimmter "Gedächtnisorte" ist es die Absicht des Kolloquiums, die Geschichtsschreibung vor dem Hintergrund unterschiedlicher historiographischer Traditionen und kultureller Umfelder zu untersuchen. Was sind die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der Projekte? Wie positionieren sie sich in ihrem nationalen Umfeld? Wie ist ihre Stellung im Vergleich zum ursprünglichen Projekt Noras? Besonders willkommen sind vergleichende Analysen nationaler Forschungskulturen mit Bezug auf die "Lieux de mémoire".
- Europäische und/oder transnationale "Lieux de mémoire".
Der europäische Integrationsprozess und die Aufhebung von Grenzen im Zuge der Globalisierung werfen die Frage nach der Ausbildung von übernationalen Erinnerungsorten auf. Auf welche Art und Weise konstruiert sich dieser Typus des Erinnerungsortes? Was unterscheidet ihn von nationalen Erinnerungsorten (Medien, Träger, symbolisches Gehalt)? Mehr noch als nationale "Lieux de mémoire" werden diese Erinnerungsorte (wie bspw. der 11. September) Fragen zur Heterogenität von Erinnerungskonstruktionen aufwerfen.
Die Tagung Nationale "Erinnerungsorte" hinterfragt findet vom 8. bis 10. November 2006 an der Universität Luxemburg statt. Tagungssprachen sind deutsch, französisch und englisch. Interessenten senden bitte ein kurzes Abstract (max. eine Seite) zusammen mit einem knappem Curriculum spätestens bis zum 2. Januar 2006 an die Organisatoren.