Call for Papers
Nationale Freiheitskonzepte und Beziehungsgeschichte in Mittel- und Osteuropa: Von „Deutschem Recht“, „Polnischer Freiheit“, „Französischer Anarchie“ und „Russischer Despotie“
Wissenschaftliches Kolloquium zu Ehren des 75. Geburtstags von Prof. Dr. Klaus Zernack
Freiheitskonzepte und Freiheitsvorstellungen werden in den letzen Jahren als ein Feld vergleichender und transnationaler europäischer Forschung entdeckt. In dem wissenschaftlichen Œuvre Klaus Zernacks spielten sie immer eine zentrale Rolle, sei es etwa in Studien zur Bedeutung des slavischen veče im Mittelalter oder in den zahlreichen Arbeiten zur polnischen Geschichte bis in die Gegenwart. Sie auch in eine beziehungsgeschichtliche Perspektive zu stellen, entspricht einem weiteren Forschungsfeld Zernacks. Das geplante Kolloquium möchte diese Impulse miteinander verbinden und mit Schwerpunkt auf dem mittel- und osteuropäischen Raum vergleichend diskutieren. Über den Raum hinaus sind aber auch Beiträge aus der Postkolonialismus- und Imperiumsforschung erwünscht, die das Thema in einen größeren Kontext stellen. Geplant sind folgende Themenfelder:
1. Freiheitskonzepte und gesellschaftliche Formierung im Landesausbau: Die Verleihung von Freiheitsrechten ist ein zentraler Vorgang für die gesellschaftliche Formierung während des mittelalterlichen Landesausbaus. In der Germania Slavica, in Polen und Litauen bis hinein in die Rus’ wurden Freiheiten verliehen, die wiederholt national konnotiert und definiert wurden („deutsches Recht“, teilweiser Ausschluss von „Undeutschen“ insbesondere in Nordosteuropa). Welche soziokulturellen Implikationen besaßen die erworbenen Freiheitsrechte? Und inwieweit wurden sie in ihrer nationalen Fassung übertragen? Untersucht werden könnte hier die zwar phasenverschobene, aber verblüffende Parallelität zwischen „deutscher“ und „jüdischer“ Ostsiedlung. Und präformierte bzw. beförderte der national gefasste Freiheitsbegriff die spätmittelalterlichen nationalen Konflikte in Ostmitteleuropa, etwa in der Böhmischen Krone und in Polen?
2. „Polnische Freiheit“ als konkurrierendes politisches Motivations- und Identifikationsangebot im östlichen Europa: Kollektive Freiheitsvorstellungen sind zentrale politische Deutungsmuster in den frühneuzeitlichen Diskursen, die erhebliche Attraktivität entwickeln und zu Schlüsselbegriffen von Nations- und Staatsbildung werden können. Dies wird zur Zeit vergleichend diskutiert. Im östlichen Europa haben wir die besondere Situation, dass es einem national konnotierten Freiheitsbegriff, der „polnischen Freiheit“, gelingt, andere parallel entstandene Freiheitskonzepte (die preußische, livländische, ruthenische, kosakische Freiheit sowie andere Freiheitsbegriffe) weitgehend zu überschichten. Aus beziehungsgeschichtlicher und transnationaler Perspektive ist zu fragen, welche Bedeutung die konstruierte Anbindung an alte Freiheiten (goldene Freiheit, Sarmaten-, Vandalen- und Gotenmythos) spielte, in welcher Form diese national verorteten Freiheitsbegriffe koexistierten (Inhalte, Wortumfelder, Nutzungsstrategien) – eine auch aus heutiger gesamteuropäischer Perspektive bedeutsame Fragestellung –, inwieweit fehlende Freiheitskonzepte Nationsbildungen abbrechen lassen konnten (Gftm. Litauen) und welche Gegenbegriffe geprägt wurden. Insbesondere für die deutsch-polnische Kontaktzone (Preußen, Pommern, Großpolen, Schlesien) stellt sich die Frage, ob es Wechselwirkungen zwischen „teutscher Libertät“ und „polnischer Freiheit“ gab. Ein weiterer Aspekt von Freiheit und der Instrumentalisierung dieses Begriffes findet sich in den konfessionellen und sozialen Diskursen seit der Reformation. Dies gilt zum einen für die Legitimierung politischer Interessen von außen („Dissidentenschutz“ durch die Nachbarimperien Polen-Litauens) und von innen (Vermischung von Privilegien- und Freiheitsdiskurs), zum anderen für den Widerstand gegen militärische Bedrohungen („Freiheit“ vs. „Despotismus“).
3. Zur Legitimation von Herrschaftsinteressen sowie in kulturellen Konkurrenzsituationen werden Freiheitsvorstellungen zunehmend seit dem 18. Jahrhundert denunziert (Vorstellungen von „Unordnung“ und Anarchie, vgl. die „polnische Wirtschaft“) bzw. emphatisch verteidigt („Für unsere und eure Freiheit“, Demokratiebegriff, „Despotie“ als Gegenbegriff). Infolge ihrer Entgrenzung ist ihr Mobilisierungs- wie Stereotypisierungspotential in der „Sattelzeit“ und innerhalb moderner Nationsbildungen kaum zu überschätzen, insbesondere auch in der Konstruktion und Stigmatisierung von „Fremdherrschaft“ (napoleonische Zeit, Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Dissidentenbewegungen). Mit welchen Inhalten und Strategien der Mobilisierung und Stereotypisierung wird der Freiheitsbegriff genutzt und gefüllt (z.B. Freiheit bzw. Anarchie als „typisch polnisches Merkmal“ oder „Franzosentum“)? Welche national gefüllten Freiheitsbegriffe besitzen ebenfalls überregionale oder gesamteuropäische Bedeutung? Ist die in der älteren Revolutionsforschung postulierte Interaktion und Transnationalität europäischer Freiheitsbewegungen haltbar (Stichwort: Polenbegeisterung)? Oder verbargen sich dahinter pragmatisch-situative Motive? Und näher an die Gegenwart heran: Welche Ergebnisse bietet die zeitgeschichtliche Forschung zur Interaktion der ostmittel- und osteuropäischen Dissidentenbewegungen? An welche Freiheitskonzepte wird hier angeknüpft und welche Bedeutung besitzt die nationale Fassung? Schließlich: Wie wirken traditionelle Freiheitskonzepte fort, etwa im unterschiedlichen Umgang mit dem Tschetschenien- oder dem Irakkrieg in den Öffentlichkeiten der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten?
4. Historiographiegeschichtlich: In den Nationalhistoriographien werden Freiheitsvorstellungen zu Identifikationsorten und Mythen verdichtet und verklärt (vgl. etwa den polnischen, ukrainischen und borussischen Freiheitsdiskurs und Formeln wie „preußische Toleranz“, „Für unsere und eure Freiheit“, die Überlegungen der russischen Revolutionäre seit den Dekabristen, Hambacher Fest und 1848, amerikanische Freiheitsvorstellungen, die baltischen Revolutionen 1990/91), aber auch pervertiert („Deutscher Geist und ständische Freiheit“). Solche nationalhistoriographischen Freiheitskonzepte sollen anhand herausragender Beispiele in ihren Elementen und ihrer Wirkungsästhetik analysiert werden (etwa Norman Davies’ Polendiskurs, nationale Freiheitskonzepte gegenüber beiden Warschauer Aufständen 1943 und 1944, ukrainischer Kosakendiskurs). Dabei können auch die Veränderungen nach dem Jahre 1989 sowohl in Deutschland als auch in den Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas miteinbezogen werden, etwa die Veränderungen des Preußenbildes auf allen Seiten sowie die Chancen und Gefahren der neuen Möglichkeit, „alles sagen zu dürfen“ für die Wissenschaft und die Beziehungsgeschichte.
Wir bitten um Themenvorschläge, die die Länge von zwei DIN A4-Seiten nicht überschreiten sollen, bis zum 31. Januar 2006.
PD Dr. Hans-Jürgen Bömelburg (h.boemelburg@ikgn.de)
Dr. Jürgen Heyde (heyde@geschichte.uni-halle.de)
Dr. Markus Krzoska (krzoska@t-online.de)