Im Jahrhundert der „Wissensgesellschaft“ bieten sich Fachtagungen zum Thema Wissen und Transkulturation von Wissen zwischen Europa und Außereuropa sowie zwischen nichteuropäischen Gesellschaften an. In den dynamischen Gesellschaften der Globalisierung ist aber längst klar, dass Wissen nicht mehr nur aus nationalen oder klassischen Kanons reproduziert werden kann, sondern dass diese selbst, aber vor allem ihre Weiterentwicklung (oder Auflösung), an viele Voraussetzungen, Transfers, Vernetzungen und Übersetzungen von Wissensbeständen (im Sinne von Transkulturation) auch und gerade zwischen europäischen, neoeuropäischen und nichteuropäischen Gesellschaften gebunden waren und sind. Das betrifft nicht nur technisches, technologisches oder naturwissenschaftliches Wissen, sondern auch soziales, kulturelles und machtpolitisches Wissen (und Verhalten). Wissen ist die wichtigste Ressource in Globalisierungen der Vergangenheit gewesen und ist es für die Zukunft.
Methodische Grundlage des Kolloquiums soll das von dem kubanischen Kulturanthropologen Fernando Ortiz um 1940 entwickelte Konzept der Transkulturation (transculturación) sein. Dieses Konzept ist in den letzten Jahren verstärkt als heuristisch besonders dynamisches Modell zur Untersuchung und Beschreibung der kulturellen Transformationsprozesse in Lateinamerika (und darüber hinaus) erkannt und angewandt worden – die Debatte aber geht weiter. Gegenüber anderen Modellen – mestizaje (métissage), Heterogenität, culturas híbridas – erlaubt es der heutigen Bedingungen angepasste Ortiz’sche Entwurf zum einen, die kulturellen Veränderungen als historisch offene und dynamische Prozesse zu verstehen, die immer auch auf das politische Projekt einer gesellschaftlichen Gleichstellung und gleichberechtigten Zugehörigkeit der verschiedenen communities zu einer Kultur zu beziehen sind. Und zum anderen legt das Konzept der Transkulturation ein deutliches Schwergewicht auf die interaktive Dimension der kulturellen Transformationen, die ungeachtet der Machtasymmetrien auch die Kulturen von Eroberern, Conquistadoren und Kolonialisten von Anfang an Transkulturationsprozessen unterwirft und schließlich auch die Kultur der Metropolen selbst betrifft.
Ein deutlicher Schwerpunkt der Forschungen zum Wissens-Komplex liegt derzeit auf der Epoche der frühen Neuzeit, ein weiterer Schwerpunkt ist der Wandel zur „Informationsgesellschaft“ in der engeren Globalgeschichte (seit 1945). Meist beschränken sich diese Forschungen auf jeweils nationale bzw. kulturraumspezifische Entwicklungen und Gegebenheiten, wobei die westlich-abendländischen Räume bzw. die Geschichte der dort entstandenen Wissenschaften klar dominieren („Okzidentalismus“). Die Dynamik von Wissen, also die Entwicklung und Veränderung von Wissensbeständen und Wissenskulturen (sowie Institutionen und Medien) einer gegebenen Gesellschaft, resultierte schon in antiken Zeiten (Orient, China, Rom) und besonders seit 1100 und seit der europäischen Expansion der Neuzeit in entscheidendem Maße aus der Begegnung mit anderen Kulturen und Räumen.
Im Gegenzug haben sich kulturspezifische Wissenskulturen (etwa „europäische Universitäten“ oder säkulares Recht) gerade in der Abschottung gegenüber Wissenstranskulturation (und den damit verbundenen Konsequenzen) ausbildet. Theoretisch wie empirisch noch ungeklärt sind somit die Formen (auch institutioneller Art), Inhalte und Faktoren dieser Dynamik, die sich in den unterschiedlichen Räumen, Epochen und Gesellschaftsformationen besonders realisieren.
Es fehlt zudem an entsprechender Theoriebildung und Konzeptionalisierung sowie darauf beziehbarer Fragestellungen und Methoden. Um die Dynamik von Wissen, Transkulturation und Wissenskulturen überhaupt abzubilden und zu erklären, bedarf es der begrifflichen Korrelation von Wissen, Kultur, Kosmologie(n) und interkulturellen sowie transkulturellen Prozessen über die Grenzen von Makroregionen („Westen“, „Europa“ „Amerika“, „Indien“, „Islam“, „Afrika“, „China“) hinaus. Dabei wird die Einbeziehung außereuropäischer sowie Nord-Süd und Süd-Süd-Perspektiven entscheidend sein.
In diesem Sinne soll sich die Tagung, zugleich Jahrestagung der „Gesellschaft für vergleichende Überseegeschichte“, dem Thema „Transkulturation und Wissen“ aus mehreren Perspektiven widmen, die zudem noch weit in die Globalgeschichte aus- und in die Weltgeschichte zurückgreifen.