Trotz reichhaltiger Empirie von den Nordiren über die Basken zu den Korsen, von den Schweden in Finnland, über die Dänen in Deutschland und die Burgenlandkroaten in Österreich ist das Thema Minderheitenschutz in der öffentlichen Wahrnehmung osteuropäisch konnotiert. Auf der Homepage der OSZE wird Südosteuropa als erste Schwerpunktregion aufgeführt, gefolgt von Osteuropa und dem Kaukasus, während im westeuropäischen Kontext jetzt immerhin ein Rundtischgespräch über die Wahrnehmung der Muslime in Europa angekündigt wird, das allerdings in Warschau stattfindet. Auch das fraglos drastischste Ereignis im 20. Jahrhundert, das auf das Minderheitenproblem im europäischen Nationalstaat aufmerksam gemacht hat, nämlich der Holocaust, wird in gewisser Weise durch die Hintertür seiner Territorialisierung „osteuropäisiert“. In der Perspektive der folgenden Überlegungen besteht die „Europäizität Ostmittel- und Südosteuropas“ darin, „managing diversity“ als gesamteuropäisches Anliegen zu verstehen und dementsprechend wissenschaftlich zu bearbeiten.
Ein zentraler Aspekt der Flut an geistes- und sozialwissenschaftlichen Publikationen zum Thema „citizenship“ seit den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts ist neben der Inklusionsleistung auch die Exklusionsleistung, die dem Begriff und der sozialen Realität des Staatsbürgers inhärent ist. Auf dem Höhepunkt des modernisierungstheoretischen Paradigmas in den 1960er und seiner Spätwirkung bis in die 1980er-Jahre wurde die Institution Staatsbürgerschaft nahezu ausschließlich als Modus der Inklusion in den Nationalstaat verstanden, allerdings ohne explizit als solcher modelliert zu werden. Es erscheint als Ironie der Geschichte, dass die Wiederentdeckung des englischen Soziologen Thomas Humphrey Marshall, der bereits 1947/50 ein Stufenmodell der Staatsbürgerschaft für England vorgelegt hatte – wonach das 18. Jahrhundert einen Durchbruch der rechtlichen Gleichheitsansprüche, das 19. einen markanten Schub der politischen Staatsbürgerrechte und das 20. Jahrhundert einen Durchbruch der sozialen Gleichheitsansprüche hin zum Wohlfahrtsstaat gebracht hätten –, zu einer Zeit geschah, als diese Teleologie an Glaubwürdigkeit verlor. In Deutschland wurde Marshall nicht zufällig seit Anfang der 1990er-Jahre verstärkt rezipiert, als angesichts der staatlichen Wiedervereinigung sowie der Aussiedler- und Migrantenproblematik Fragen der Staatsangehörigkeit und der sich davon ableitenden Bürgerrechte auf der politischen Agenda standen. Im östlichen Europa lösten sich zur selben Zeit die multiethnischen Staaten Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien auf und es entstanden oft Staaten, die auf kleinerem Gebiet vor derselben Herausforderung standen, mit deren Nicht-Lösung die Separation von Moskau, Prag oder Belgrad legitimiert worden war: das Selbstbestimmungsrecht der Völker/Nationen und der Minderheitenschutz im Nationalstaat.
Im Folgenden wird die politische wie wissenschaftliche Problematik des Minderheitenschutzes im Nationalstaat an einer ihrer zentralen Quellen im frühen 20. Jahrhundert diskutiert: der Minderheitenschutzvertrag sowie die entsprechenden Bestimmungen in den Friedensverträgen, die den Ersten Weltkrieg 1919/20 in den Pariser Vororten Versailles, Trianon, Saint Germain, Neuilly-sur-Seine und Sèvres auch formal beendeten. In der Genese dieser Bestimmungen lassen sich divergierende Konzeptionen und Erfahrungen der Nation, des Staates und seiner (minoritären) Bürger identifizieren, die in einer Art und Weise kombiniert wurden, die zunächst Zweifel an der Anwendbarkeit des Modells einheitlicher Nationalstaat auf multiethnische Gebiete, weiterhin aber auch Zweifel an der theoretischen Konsistenz des Modells selbst aufkommen lassen.
Der Prozess der Konstitution von Staatsterritorium und -bürgern in der Verfassung und in gesonderten Staatsangehörigkeitsgesetzen ist in Marshalls Modell nicht enthalten, denn er ging wie selbstverständlich von einer englischen Staatsnation auf einem klar begrenzten Staatsterritorium bereits im 18. Jahrhundert aus. Um den heuristischen Wert seines Modells zu erhalten und insbesondere um es auch für das östliche Europa handhabbar zu machen, bedarf es also einer Erweiterung um eine ethnisch-kulturelle Dimension. Denn wo der Staats- und Nationsbildungsprozess, wie in weiten Teilen Ostmittel- und Südosteuropas, ineinanderfallen, erlangt die Dimension der Abgrenzung des Staatsvolkes nach außen eine besondere Bedeutung. In der gleichen Bewegung, in der die Bewohner eines Staates per Verfassung mit bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten ausgestattet werden, wurde es notwendig, sowohl die äußeren Grenzen des Staatsterritoriums, als auch die Zugehörigkeitskriterien zum Staatsvolk festzulegen. Dieser Rückbezug auf die ethnisch-kulturelle Dimension der Staatsbürgerschaft ermöglicht ferner west- mit osteuropäischen Staats- und Nationsbildungsprozessen jenseits der lange üblichen Dichotomie von politischem Nationsbegriff im Westen und ethnischem im Osten zu vergleichen, lenkt er doch den Blick auf die ethnisch konnotierten Grundlagen jeglicher Nationsbildungsprozesse.
Die Warnung des Historikers und Politologen Walker Connor bereits in den 1970er-Jahren, im innerstaatlichen Zusammenhang Nationalismus nicht als Loyalität zum Staat, sondern vielmehr zu einer bestimmten ethnischen Gruppe innerhalb eines Staates zu verstehen, blieb in der Forschung lange Zeit folgenlos. Ihm zufolge ist jeglichem Nationalismus und somit auch allen Nationalstaaten der Bezug auf eine ethnische Gruppe inhärent, so dass sein Begriff „Ethnonationalismus“ tautologisch ist und nur zur Betonung dieses Zusammenhangs dient. Connor hinterfragt damit die vor allem durch die Modernisierungstheorie fest verankerte Gewissheit, dass der von der dominanten ethnischen Gruppe in multiethnischen Staaten praktizierte Nationalismus anderer Natur sei, als der von nicht-dominanten Gruppen. Während ersterer oft als eine Art Verfassungspatriotismus (civic nationalism), als Ausfluss eines politischen Nationsverständnisses gewertet wurde, (dis-)qualifizierte man den Nationalismus nicht-dominanter Gruppen als ethnisch und rückwärtsgewandt. Das gemeinsame Strukturmerkmal des Mehrheits- und Minderheitsnationalismus ist aber der Bezug auf die im 19. Jahrhundert dominant werdende Legitimationsideologie der nationalen Selbstbestimmung als Recht eines jeden Volkes, einen eigenen Staat zu gründen.
Zweifellos kann das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker bzw. Nationen als das wichtigste politische Schlagwort der Pariser Friedensverhandlungen eingeschätzt werden. Einen plastischen Eindruck über die Sprengkraft dieses Prinzips gibt Dan Diner in seiner universalhistorischen Deutung des 20. Jahrhunderts: „Das Prinzip der Selbstbestimmung durchschlug wie ein Projektil die Strukturen des alten Europa […].Westliche Prinzipien, die der Vorstellung von Selbstbestimmung als Selbstregierung entsprangen, waren in den kulturgeografischen und politischen kontinentalen Kontexten Mittel- und Ostmitteleuropas nicht zu realisieren.“ Das Verständnis verschiedener Akteure über den Inhalt der Begriffe „Selbstbestimmungsrecht“ und „Nation“ differierte im Vorfeld der Konferenz erheblich und erfuhr erst in deren Verlauf eine Klärung. Am Ende dieses Prozesses hatte sich das nationalstaatliche Prinzip auch in Ostmittel- und Südosteuropa durchgesetzt, wobei dem Minderheitenschutz die Funktion des Korrektivs zu dessen möglichen Auswirkungen zukam. Sowohl die Entstehung der Minderheiten de langue, de race et de réligion, als auch deren vertraglich festgelegter Schutz im Rahmen des Völkerbundes war also eine unmittelbare Folge der Friedensverträge von 1919/20. Auf diesen inneren Zusammenhang des Prinzips des Selbstbestimmungsrechts der Nationen mit Staatsangehörigkeitsregelungen und der Staatsbürgerschaftspraxis von Nationalstaaten hat bereits Hannah Arendt hingewiesen, als sie die Minderheiten nach dem Ersten Weltkrieg als die Vettern der Staatenlosen bezeichnete. In ihrem Werk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ betonte sie 1951 das paradoxe Phänomen, dass in dem Augenblick die Garantie allgemeiner Menschenrechte in moderne Verfassungen aufgenommen wurde, da mit der Verwirklichung des nationalstaatlichen Prinzips auch in Ostmittel- und Südosteuropa allgemeine Menschenrechte als nationales Recht definiert wurden. Da sich aber in allen Nationalstaaten die Tendenz der „Transformation des Staates aus einer legalen in eine nationale Institution“ durchsetzte, dass also eine bestimmte Ethnie sich als Staatsvolk konstituierte und andere ethnische Gruppen marginalisierte, zielte nationalstaatliche Minderheitenpolitik auf die Produktion von Staatenlosen mittels Dissimilation oder auf die Produktion von „richtigen“ Staatsbürgern mittels Assimilation ab. Den Minderheitenschutzverträgen käme Arendt zufolge aber wenigstens das Verdienst zu, deutlich auszusprechen, „was bis dahin mehr oder minder zweideutig das Funktionieren des Nationalstaates bestimmt hatte, nämlich dass Staatsbürgerschaft und nationale Zugehörigkeit nicht zu trennen sind, dass nur die nationale Abstammung den Gesetzesschutz wirklich garantiert und dass Gruppen einer anderen Nationalität nur durch Ausnahmerecht zu schützen sind, solange sie nicht völlig assimiliert sind und ihre volksmäßige Abstammung vergessen ist“.
Ein Blick auf die Geschichte des Syntagmas „Selbstbestimmung der Nationen“ im Vorfeld und Verlauf der Pariser Friedensverhandlungen führt in das diskursive Feld ein, in dem sich die damalige Diplomatie bewegte. Die bisherige Forschung dazu hat insbesondere den Bedeutungswandel des Begriffes „Selbstbestimmung“ in der amerikanischen Delegation um Woodrow Wilson herausgestrichen. Zunächst ist festzustellen, dass selbst der Begriff „self-determination“ im englischen Sprachgebrauch vor 1918 sehr selten vorkam, so dass die Vermutung berechtigt erscheint, es handele sich um eine Übernahme aus dem Deutschen. Selbst in dem als „Vierzehn Punkte“ bekannt gewordenen Friedensprogramm Wilsons von 1917 ist die Nachkriegsordnung Europas noch nicht durch Nationalstaaten strukturiert. So ist in Punkt 10 weder von „self-determination“, noch von „nation-state“ die Rede, sondern bezüglich der „peoples of Austria-Hungary“ als „nations“, denen „the freest opportunity of autonomous development“ zu ermöglichen sei. Damit offenbarte Wilson seine Verwurzelung in der politischen Tradition der Aufklärung, in der die Idee der Selbstbestimmung als Volkssouveränität, als innerstaatliche, demokratische Selbstbestimmung verstanden wurde. In dieser Denktradition besitzt die Frage nach der ethnischen Abstammung oder dem religiösen Bekenntnis der Staatsbürger keine prinzipielle Bedeutung, da die Nation als politische Willensgemeinschaft konzipiert ist und von einer Identität von „citizenship/ Staatsbürgerschaft“ und „nationality/Staatsangehörigkeit“ ausgegangen wird.
Keineswegs von zweitrangiger Bedeutung war dies aber auf der Pariser Friedenskonferenz, da daran zahlreiche Politiker teilnahmen, in deren intellektuellem Horizont und politischer Sozialisation die Nation und die Selbstbestimmung ein anderes Gepräge hatten. In der Verwirklichung der Nationalstaatsidee auch für ihre Ethnien mittels der nationalen Selbstbestimmung sahen sie – in der Tradition der politischen Romantik seit Herder – die Verwirklichung der Demokratie und der Humanität.
Die Staatsmänner der neuen oder signifikant vergrößerten Staaten ließen in ihren Denkschriften und mündlichen Einlassungen vor den Gremien der Konferenz keinen Zweifel daran, dass sie das Selbstbestimmungsrecht ethnisch-national deuteten. Der Versuch der ostmittel- und südosteuropäischen Siegerstaaten, ihre Gebietszugewinne mittels der Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht zu legitimieren, findet seine spiegelbildliche Entsprechung in demjenigen der Reste des ehemaligen Habsburgerreich, Österreichs und Ungarns, ihre Gebietsverluste durch die Berufung auf dasselbe Prinzip zu begrenzen. Das gemeinsame Charakteristikum daran ist die Annahme, dass der Rechtsträger der Selbstbestimmung mit der als ethnischem Kollektiv verstandenen Nation a priori feststeht.
Im Verlaufe der Pariser Friedenskonferenz verschob sich der Akzent in der Vorstellung insbesondere der amerikanischen Delegation bezüglich der europäischen Nachkriegsordnung aber zusehends, und zwar weg von Forderungen nach Selbstbestimmung als Demokratisierung und hin zur Akzeptanz des Nationalstaates als Rahmen dieses Prozesses. Das Problematische an der eingeschlagenen Vorgehensweise, innerhalb eines Nationalstaates nur der Mehrheitsnation das Recht auf nationale Selbstbestimmung zuzusprechen, während anderen Ethnien diese vorenthalten wurde, blieb den englischen, französischen und amerikanischen Politikern und Experten gleichwohl nicht verborgen. Der Minderheitenschutz wurde also ersonnen und sollte das Mittel sein, die praktische Differenz zwischen der demokratisch-innerstaatlichen und der ethnisch-nationalen Selbstbestimmung zu vermindern. In theoretischer Hinsicht deckte sie diese aber erst vollständig auf bzw. eröffnete Frageperspektiven, die das Nationalstaatsmodell als solches in einem weniger glänzenden Licht erscheinen ließ. Innerhalb einer eng gefassten Theorie des politischen Nationsverständnisses als Ausdruck eines souveränen und einheitlichen Volkes ist der Schutz ethnischer Minderheiten ein Fremdkörper. Wenn das liberal-demokratische „Heilsversprechen“ der Nation auf individuelle Gleichberechtigung und Chancengleichheit, ungeachtet der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, als realistisch eingeschätzt wird, so bedarf es keines Minderheitenschutzes. Die freie kulturelle Entfaltung sowie die Partizipation am politischen Leben und der Macht wäre durch Assoziations- und Religionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung usw. zur Genüge sichergestellt. Dass der Minderheitenschutz in seiner hybriden Form gleichwohl eingeführt wurde, erlaubt die Nachfrage nach der theoretischen Konsistenz des Modells „einheitlicher Nationalstaat“ und seiner Anwendbarkeit auf multiethnische Gebiete. In dieselbe Richtung verweist das Argument der ostmitteleuropäischen Diplomaten auf der Parier Friedenskonferenz, der Minderheitenschutz sei keine universale Kategorie, da er ausschließlich auf die neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas angewendet werde und diese mithin daran hindere, dieselben Prozesse der ethnischen Homogenisierung einzuleiten, die die westeuropäischen Nationalstaaten bereits vollzogen hätten. Mit Blick auf die außereuropäischen Kolonien Englands und Frankreichs sowie auf die Indianer Nordamerikas wurde – eher in der Heimatpresse als in Paris – auch auf ungleiche Staatsbürgerrechte hingewiesen.
Die westeuropäischen und amerikanischen Delegationen sahen sich aber nicht nur mit einem von ihrer politischen Tradition abweichenden Nationsverständnis seitens der Politiker der neuen Staaten konfrontiert, sondern auch seitens der Lobbyorganisationen der Minderheiten. Insbesondere Organisationen des osteuropäischen Judentums spielten in dieser Hinsicht eine große Rolle. Die Jüdinnen und Juden wurden in Paris als „Minorität par excellence“ anerkannt und als Ideengeber der zu kodifizierenden Minderheitenrechte eingeschätzt. Dass die Minoritätenfrage überhaupt zum Gegenstand zwischenstaatlicher Abmachungen und vertraglicher Verpflichtungen gemacht wurde, wird wesentlich der jüdischen Delegation zugeschrieben. Welche der jüdischen Forderungen aber abgelehnt wurden und welche schließlich Eingang in die Texte der Minderheitenschutzverträge fanden, wirft wiederum ein erhellendes Licht auf das Nations- und Nationalstaatsverständnis sowohl der „Großen Vier“ als auch der neuen Staaten.
In einer stark vereinfachten Form können die jüdischen Lobbyorganisationen auf der Pariser Friedenskonferenz in ein zionistisches und ein assimilationistisches Lager eingeteilt werden. Im ersten Lager waren unter dem Dach des „Komitees der Jüdischen Delegationen“ in der Hauptsache osteuropäische und amerikanische Gruppen zusammengeschlossen und im zweiten britische und französische. In deren divergierenden Plänen, wie die Judenheiten Ostmittel- und Südosteuropas auf den Zusammenbruch der Vielvölkerreiche dieser Regionen hinsichtlich der anzustrebenden Stellung in den neuen Nationalstaaten reagieren sollten, spiegeln sich die unterschiedlichen Erfahrungen, die die jüdischen Gemeinschaften in ihren Ländern gemacht hatten. Wiederum vereinfachend gesagt: War die zionistische bzw. national-kulturelle Grundhaltung der osteuropäischen Gruppen ihrer mangelnden Integration z.B. in die bestehende rumänische oder in die zu „rekonstruierende“ polnische Nation zu verdanken, so war der Rat der französischen und englischen jüdischen Gruppen an ihre Glaubensbrüder im Osten zur Assimilation ihrer eigenen positiven Erfahrung in einer politischen Nation geschuldet. Der Kompromiss innerhalb der jüdischen Lager, wie er sich in dem Entwurf für einen Minderheitenschutzvertrag vom 10. Mai 1919 und in vorbereitenden Memoranden niedergeschlagen hatte, zeigte, dass die Differenzen nicht unüberbrückbar waren. Die erwähnten Entwürfe schlugen einen Schutzmechanismus für die nationalen Minderheiten Osteuropas vor, der auf der Kombination individualrechtlicher Elemente mit solchen beruhten, die von der Nationalität als kollektiver Gruppe ausgingen. Dabei ist bemerkenswert, dass die so genannten Assimilationisten bereit waren, die Judenheiten Osteuropas als gesonderte Nationalität zu definieren und – als assimilierte französische oder englische Jüdinnen und Juden – den Gedanken der Gruppenautonomie stellvertretend für alle Nationalitäten in einer Minderheitenposition zu formulieren. Ebenso wie die westeuropäischen und amerikanischen Staatsmänner schienen auch die jüdischen Organisationen aus diesen Ländern von den Verheißungen des Nationalstaates in Osteuropa nicht überzeugt zu sein.
Insbesondere in der Frage des Schutzes der jüdischen Gemeinschaft in Rumänien konnte nämlich sowohl die amerikanische als auch die englische und französische Diplomatie auf eine breite Tradition seit Mitte des 19. Jahrhunderts zurückblicken, im Namen der Humanität und des Rufes nach staatsbürgerlicher Integration in Belange von Staaten zu intervenieren, die dabei waren, ihre Souveränität zu erlangen. Im Falle Woodrow Wilsons ist daher mit Erwin Viefhaus davon auszugehen, dass er nicht nur mit der Frage der osteuropäischen Judenheit vertraut war, sondern dass die Weiterentwicklung seiner „Vierzehn Punkte“ in der nationalen und der Minderheitenfrage hin zu einer Akzeptanz des „volksnationalistischen“ Prinzips eine „Übernahme der nationalitätenrechtlichen Konzeptionen der in Paris tätigen jüdischen Gruppen“ darstellte. So ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass sich bis auf einzelne Formulierungen manche Vorschläge aus dem jüdischen Vertragsentwurf in den tatsächlichen Minderheitenverträgen wieder finden.
Manche Vorschläge wurden aufgenommen, aber eben nicht alle und nicht in der nötigen Unmissverständlichkeit. Insbesondere ist die Forderung des „Komitees der Jüdischen Delegationen“ bei der Friedenskonferenz nicht in die Minderheitenschutzverträge aufgenommen worden, die ein kollektives Verständnis der Minderheiten vorsah. Als Punkt 5 hatte das Komitee gefordert, das entsprechende Land “anerkennt die verschiedenen nationalen Minderheiten seiner (ihrer) Bevölkerung als besondere autonome Organismen, welche als solche das gleiche Recht haben, ihre Schulen und ihre religiösen Erziehungs-, Wohltätigkeits- und sozialen Institutionen zu gründen, zu verwalten und zu überwachen. Jeder kann durch eine ausdrückliche Erklärung aus der Minderheit, der er angehört, ausscheiden. Im Sinne der Artikel dieses Kapitels bilden die Juden in […] eine nationale Minderheit, die alle hier bezeichneten Rechte besitzt“.
Die Gründe dafür lagen in der konkreten geopolitischen Lage in Europa, die 1919/20 von der Angst des Übergreifens der „bolschewistischen Gefahr“ auf Mitteleuropa sowie von Bestrebungen geprägt war, dieser einen cordon sanitaire starker Nationalstaaten östlich und südöstlich von Deutschland entgegenzustellen. Diese mit zu weitgehenden Rechten ihrer nationalen Minderheiten zu schwächen, so die gemeinsame Befürchtung der „Großen Vier“ und ihrer ostmittel- und südosteuropäischen Verbündeten, würde bedeuten, dass sie die ihnen zugedachte Funktion nicht erfüllen könnten.
In den Augen der Politiker der siegreichen Nachfolgestaaten stellten die Klauseln zum Schutz der Minderheiten in den Friedensverträgen und der Minderheitenschutzvertrag einen unzulässigen Eingriff der Großmächte in die internen Belange ihrer Staaten dar. Für die Vertreter der besiegten Nachfolgestaaten, aber auch für die der „Minorität par excellence“ war der Minderheitenschutz ein Mittel, die individuelle Gleichberechtigung sowie den Bestand der Minderheitengruppe im nationalstaatlichen Umfeld sicherzustellen. Die „Großen Vier“ schließlich waren einerseits, sozialisiert unter Bedingungen des politischen Nationsverständnisses, von der Verheißung einer individuellen Gleichberechtigung und Chancengleichheit in einem Nationalstaat überzeugt. Andererseits mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass das Nationalitätsprinzip, wonach jede Ethnie, jede Nation einen Staat bilden sollte, im östlichen Europa aufgrund der ethnischen Gemengelage nicht durchsetzbar war. Zudem blickten die Staatsmänner der Großmächte auf eine diplomatische Tradition ihrer Länder zurück, die zahlreiche Interventionen gerade zugunsten der Judenheiten Osteuropas kannte. Im Ergebnis führten diese sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden Aspirationen, Befürchtungen und Hoffnungen zu einer Ausgestaltung der Friedensverträge und des Minderheitenschutzvertrages, die ausgesprochen kompromisshafte, ja hybride Züge hatte. Angesichts eines ethnischen Nationsverständnisses in Ostmittel- und Südosteuropa bei gleichzeitigem Festhalten der „Großen Vier“ und der Nachfolgestaaten am Nationalstaatsprinzip konnte das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nicht in Reinkultur zur Anwendung kommen. Es wurde in zweierlei Hinsicht gebrochen: Erstens war das Bemühen einer Grenzziehung möglichst entlang ethnischer Grenzen selten von Erfolg gekrönt und trat weitgehend zurück vor wirtschaftlichen, diplomatisch-politischen und taktischen Erwägungen im Hinblick auf zukünftige kriegerische Auseinandersetzungen. Zweitens waren die Minderheitenschutzverträge unter der Garantie des Völkerbundes ein bemerkenswerter Bruch mit der reinen Form des souveränen Nationalstaates, da er zumindest die Perspektive für den Schutz von kulturellen Rechten von Bevölkerungsgruppen öffnete, die in ethnischer oder religiöser Hinsicht distinkt von der Titularnation waren und bleiben wollten. Der nächste logische Schritt nach der Erkenntnis der Persistenz eines ethnischen Nationsverständnisses in Osteuropa, nämlich nicht nur der Titularnation das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch den Minderheiten einzuräumen, und zwar in Form einer Autonomie, die sich auf ein Personenkollektiv bezog, wurde allerdings nicht getan. In keinem der Minderheitenverträge oder in den Friedensverträgen war ausdrücklich und durchgehend von kollektiven Rechten die Rede, sondern lediglich implizit und für manche Ausnahmefälle. Als Beispiel für letzteres kann die Verpflichtung des rumänischen Staates zur Gewährung einer örtliche Autonomie im Schul- und Religionswesen für die Siebenbürger Sachsen und die Szekler angeführt werden, der freilich nie nachgekommen wurde.
Grundsätzlich kann aber mit Holm Sundhaussen nachgefragt werden, wie ein Recht vernünftigerweise individuell eingefordert werden kann, das durch die Natur der Sache bedingt nur kollektiv praktiziert werden kann, wie z.B. der Gebrauch der Muttersprache oder die Versammlungs-, Koalitions- sowie Glaubensfreiheit, wenn sie sich auf Zusammenhänge bezieht, die distinkt von denen der Titularnation sind.
Wie die Zeitenwende von 1918 für Osteuropa so hat auch die von 1989 wieder auf den ethnischen Exklusivismus als Kern vieler Nationalstaatsprojekte hingewiesen. Das Beharren darauf, in einem Staat solchen Zuschnittes genügten Individualrechte zur Gleichbehandlung auch Angehöriger ethnischer Minderheiten, kommt einem systematischen Übersehen der Tatsache gleich, dass das demokratische Mehrheitsprinzip, auf ethnische Minderheiten angewendet, diese in zentralen Lebensbereichen zu strukturellen Minderheiten macht. Insbesondere an der kanadischen Problematik geschult, hat Will Kymlicka diese alte Einsicht der „Volksgruppenrechtstheoretiker“ um die Zeitschrift Ethnos aufgegriffen und ist nun seit Mitte der 1990er-Jahre um den Nachweis bemüht, dass „group differentiated citizenship“ mit der liberalen politischen Tradition nicht nur vereinbar, sondern für den Liberalismus so zentralen Werten wie Freiheit des Handelns sogar zuträglich ist.