Transnationale Geschichte und internationale Rechtsregime

Von
Isabella Löhr, Abt. V "Globalisierungen in einer geteilten Welt", Leibniz-Zentrum für Zeithistorsiche Forschung Potsdam

Die Debatte um transnationale Geschichte hat in den letzten Jahren eine beeindruckende Breite an Themen und methodischen Diskussionen hervorgebracht, die in das Bemühen einfließen, eine nur national konzentrierte Historiografie zu entgrenzen und sie durch das Sichtbarmachen alternativer sozialer, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Raumordnungen zu über- und zu unterschreiten.1 Bei diesem Unternehmen, Prozesse der Verräumlichung und Konnektivität zwar in einer globalen Problemstellung in den Blick zu nehmen, sie dabei aber jenseits weltumspannender Theorieansätze zu beschreiben und zu erklären, kommt immer wieder die Frage nach der Rolle und Zukunft des Nationalstaates zur Sprache: Ist er ein antiquiertes Modell, das sich im Zuge beispielsweise von Migrationsprozessen und den in diesen sozialen Beziehungen entstehenden neuen sozialen Räumen verliert? Oder sind es supranationale Institutionen, die sukzessive die Steuerungs- und Sanktionsfunktionen des Nationalstaates übernehmen und ihn in einem größeren Verbund auflösen?

Schon mehrfach ist auf die im Wort "transnational" enthaltene Nation hingewiesen worden.2 Transnationalisierung problematisiert Prozesse jenseits nationaler Eingrenzung, ohne dabei jedoch nationale Territorien oder Nation als Referenzrahmen zu negieren oder aufzugeben. Vielmehr geht es darum, Nation und Nationalstaat analytisch einzubetten in alternative räumliche Ordnungsschemata, die sich nicht entlang nationaler Grenzen, sondern entlang der Verbreitung sozialer und kultureller Praktiken, der Diffusion von Wissen, von Migrationsströmen, Handelswegen oder dem Einflussbereich international agierender Organisationen entfalten, die dabei aber in einem expliziten Bezug auf Nation bestehen bleiben.3 So kommt eine transnationale Geschichte nicht umhin, sich methodisch und thematisch an dem Modell des Nationalstaates abzuarbeiten, indem seine Existenz und Fortexistenz als eine institutionell erprobte, historisch legitimierte und dominante Handlungsstrategie aufgegriffen und in der Perspektive globaler Problemstellungen produktiv problematisiert wird.4

Will man nun den Nationalstaat in seinen Beziehungen zu horizontal und vertikal gelagerten Institutionen und Akteursgruppen schärfer in den Blick nehmen, braucht es benennbare, aktiv gestaltende Trägergruppen und -institutionen. Hier lohnt ein Blick in die Kulturtransferforschung mit ihrer Betonung von Akteuren/innen, Akteursnetzwerken und deren Interessen, die über die gezielte Vermittlung, Aneignung und Rezeption von politischen Ideen, Waren, kulturellen Vorstellungen und Praktiken Beziehungen zwischen voneinander entfernt liegenden Regionen herstellen und derart alternative Raumordnungen zum Nationalen bilden.5 Die mögliche Gruppe handelnder Akteure/innen ist bisher jedoch für eine beziehungsgeschichtliche Problematisierung des Nationalstaates in zwei Richtungen eingeschränkt. Auf der einen Seite konzentriert sich die Transferforschung vorwiegend auf informelle oder private Akteure/innen. Zum anderen herrscht aus der Politikwissenschaft kommend die Tradition vor, institutionalisierten Akteuren/innen wie supranationalen Einrichtungen nur eine „akteursähnliche Qualität“ zuzugestehen und solche Einrichtungen stattdessen als „Instrumente staatlicher Diplomatie“ oder „konferenzdiplomatische Dauereinrichtungen“ zu konzeptualisieren.6 Überträgt man dagegen das Akteursmodell der Transferforschung auf Nationalstaaten und internationale Organisationen und erkennt sie als selbstständig handelnde Akteure/innen an, die in einer Konkurrenz zu privaten, informellen und auch transnational agierenden Großunternehmen stehen, kann man die Hierarchie von Akteursgruppen im Sinne von privat, staatlich, international und transnational und den damit assoziierten Handlungsbefugnissen und -reichweiten auflösen. So kann eine internationale Organisation zu einem/r eigenständigen Akteur/in werden, der trotz seiner Delegation und Autorisierung durch ein Kollektiv assoziierter Nationalstaaten eigenständig und zuweilen auch mit anderen Interessen handelt, als die ihn legitimierenden Staaten.7 Durch eine solche Enthierarchisierung von Akteursstrukturen, mit der sich analog zu konkurrierenden Raumordnungen konkurrierende Handlungsfelder und -reichweiten eröffnen, entsteht ein weites Feld für Forschungen über internationale Regulierungen, die Staaten und überstaatliche Organisationen als aktive Teilnehmer an Prozessen der Vermittlung, Aneignung und Rezeption von Wissen und Praktiken denken.

Ein Beispiel aus dem Bereich des geistigen Eigentums mag diese Überlegungen veranschaulichen. Ende des 19. Jahrhunderts wird mit der Berner Übereinkunft das erste zwischenstaatliche Bündnis zum Schutz von Urheberrechten eingeführt. Die an der Gründung beteiligten, vorwiegend europäischen Staaten reagierten mit diesem Bündnis auf das seit Beginn des Buchdruckes akute Problem des grenzüberschreitenden Handels mit Büchern, der ihren unautorisierten Nachdruck beförderte, ohne dass das nur territorial beschränkte staatliche Rechtsregime diesen Handel und Nachdruck unterbinden konnte. Mit der Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes sollte dieses Problem gelöst werden.

Obwohl dieses Bündnis auf den ersten Blick die rechtlichen Befugnisse und die Reichweite der beteiligten Staaten bei der Regulierung von Produktion, Verwertung, Verbreitung und Rezeption kultureller Güter stärkte, setzte es die nationalen Gesetzgebungen gleichzeitig einem starken internationalen Druck aus. Sehr schön kann man das an einer Diskussion über die Dauer des Urheberschutzes nach dem Tod des/r Autors/in ablesen. Auf der Revisionskonferenz der Berner Übereinkunft 1908 in Berlin begann eine heftige und bis nach dem Zweiten Weltkrieg andauernde Diskussion darüber, ob die Werke nach dem Tod des Autors für 30 oder für 50 Jahre geschützt werden sollten. Mit Ausnahme der deutschsprachigen Länder Deutschland, Österreich und Schweiz führten beinahe alle Mitgliedsstaaten der Berner Übereinkunft 1908 die 50-jährige Schutzfrist ein. Bis zur Einführung der 50-jährigen Schutzfrist in Deutschland 1934 war die Schutzfristenfrage Gegenstand sehr emotionalisierter Debatten, die zwischen zwei Argumentationen schwankten: auf der einen Seite der Verweis auf das öffentliche Interesse in Deutschland an einer 30-jährigen Schutzfrist (schnelle Aufhebung von Verlegermonopolen und ein freier Zugang zu künstlerischen Werken für Kulturschaffende) und zum anderen das Drängen seitens der Berner Übereinkunft auf eine einheitliche Regelung und damit auf eine Schutzfrist von 50 Jahren. Hinzu kamen wirtschaftspolitische Überlegungen: Gewann der deutsche Buchhandel als auflagenstärkster Buchhandel in Europa durch die 30-Jahres-Frist klare Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Buchmärkten, die der 50-Jahres-Frist verpflichtet waren, verloren die deutschsprachigen Autor/innen wiederum gegenüber der internationalen Konkurrenz an Einkommensmöglichkeiten, da ihre Werke schneller auf den freien Markt und damit verbilligt in die Läden kamen – eine Situation, in der mancher Zeitgenosse den Bankrott der deutschen Literaten zugunsten der Blüte des deutschen Buchhandels vorhersah, wie es sich Ende der 1920er-Jahre in Ansätzen auch abzeichnete. Entgegen der öffentlichen Meinung und mithilfe eines Regierungsgesetzes, das die fehlende parlamentarische Mehrheit für diesen Beschluss umschiffte, wurde 1934 schließlich die 50-jährige Schutzfrist eingeführt. Ausschlaggebend dafür war Österreich, das diese Frist bereits 1933 einführte, was deutschsprachigen Verlegern, die in Österreich publizierten, eindeutig Wettbewerbsvorteile einräumte, die nur durch eine Angleichung der Schutzfristen verhindert werden konnten.8

Was zeigt diese Debatte? Beinahe gleichzeitig mit der nationalen Eingrenzung von Kultur und dem Aufbau eines nationalen Kulturkartells in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts geben die Mitgliedsstaaten der Berner Übereinkunft frühzeitig ihre Steuerungskompetenz im Bereich der Kultur ab, indem sie die Regelung des rechtlichen Rahmens der Berner Union und damit einer internationalen Organisation in die Hände gaben, die zwar auf der einen Seite nur auf der Basis von Mitgliedsentscheidungen neue Richtlinien erlassen konnte, von der aber als „quasi-autonomer supranationaler Akteur“9 gleichzeitig unbedingt der Ausbau des Autorenschutzes verlangt wurde, den sie erfolgreich auch gegen die kurzfristigen Interessen ihrer Mitgliedsstaaten betrieb. Aufgrund der „Mobilität und Fluidität geistiger Werke“10 sahen die europäischen Staaten sich frühzeitig gezwungen ihre Funktion der Territorialisierung und nationalen Organisation von Kultur in Teilen abzugeben und ihre Kulturproduzenten dem internationalen Wettbewerb auszusetzen, weil ihre Rechte nur durch Internationalisierung gestärkt werden konnten. Welche Rolle nehmen dann die Staaten ein? Sie werden zu Schaltstellen zwischen verschiedenen Interessengruppen, für deren Ausgleich sie verantwortlich sind, wenn sie öffentliche Interessen, private Interessenverbünde national und international organisierter Autoren/innen und Verleger/innen, eigene wirtschafts- und kulturpolitische Strategien sowie die Interessen anderer Staaten und schließlich regulative Maßnahmen internationaler Gremien miteinander in Einklang bringen müssen.

Dieses Beispiel zeigt, wie eine transnationale Geschichte die Problematisierung von Nationalstaaten mit der Analyse von Verflechtung und Konnektivität verbinden kann. Die Geschichte des geistigen Eigentums als Geschichte der Regulierung von Produktion, Vervielfältigung, Verbreitung und Rezeption von und dem Zugang zu kulturellen Gütern ordnet in dieser Perspektive Staaten in einen komplexen Aushandlungsprozess über den weltweiten Umgang mit Kulturgütern ein. Dieser wird nicht nur von offiziell institutionalisierten Akteuren/innen bestritten, sondern an ihm sind private Interessenorganisationen, Kulturindustrien, vage Positionen wie öffentliche Interessen und internationale Organisationen gleichermaßen beteiligt. Zusätzlich zu diesen Aushandlungsprozessen gilt es, die Aufmerksamkeit auf die Aneignung und Implementierung von Rechten, Regelwerken und entsprechenden Praktiken in die jeweiligen nationalen Kontexte, auf ihre Vermittlung mit heimischen Standards sowie Interessen und auf die daraus resultierenden Konflikte zu richten – ein unbedingt reziproker Prozess sobald die Frage kontrovers wird, wie normative internationale Regelwerke und ein dazugehöriges technisches Wissen in spezifische soziale und kulturelle Kontexte integriert werden, welche Konflikte das heraufbeschwören kann und in welcher Form diese Erfahrungen wiederum auf die Formulierung internationaler Regelwerke zurückwirken.

Dass dies eine Forschungsperspektive ist, für die in der politischen Praxis ein dringender Bedarf besteht, darauf weist etwa der von Wolf Lepenies herausgegebene Band „Entangled histories and negotiated universals“ mehrfach hin. So wird u.a. am Beispiel der Bekämpfung des HI-Virus in Westafrika einprägsam vorgeführt, dass hier nicht primär ein medizinisches, sondern ein politisches Problem virulent ist, nämlich die Übersetzung von medizinischem Wissen und Techniken „into locally viable strategies for acquiring resources and practical solidarity“ – ein Problem, das immer wieder zugunsten einer „medicalization of political phenomena“11 verdeckt wird. Ähnlich argumentiert Shalini Randeria, wenn sie das Eindringen transnationaler Rechtsregime in die nationale Rechtshoheit wie folgt beschreibt: „Law is an important battleground today, as it was under colonialism, on which interpretations of culture are contested, regulation of labor and access to property is challenged and relations of power and authority are negotiated. It is, therefore, a useful vantage point from which to analyse the global in local processes and to situate local analysis in large-scale processes.“12

Diese Beispiele lassen ein weites Spektrum aufscheinen für eine Transnationalisierungsforschung, die in der Kombination der methodischen Instrumentarien Vergleich und Transfer mit der Internationalen Geschichte die Diskussionen um die Einführung und die Auswirkungen von transnationalen Rechtsregimen für einzelne Regionen und Akteursgruppen problematisiert, indem sie über die Strategien der beteiligten Akteure/innen die Aushandlungsprozesse und Regionalisierung von internationalen Rechtsregimen in ihrer ganzen Konfliktträchtigkeit von rechtlicher Pluralisierung, Rollenkonflikten staatlicher Akteure/innen bis hin zu sozialen und kulturellen Abwehrstrategien zu fassen bekommt.

Anmerkungen:
1 Exemplarisch dazu die Debatte in Geschichte und Gesellschaft: Conrad, Sebastian, Doppelte Marginalisierung. Plädoyer für eine transnationale Perspektive auf die deutsche Geschichte, in: GG 28,1 (2002), S. 145-169; Osterhammel, Jürgen, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: GG 27,3 (2001), S. 464-479; Wirz, Albert, Für eine transnationale Gesellschaftsgeschichte, in: GG 27,3 (2001), S. 489-498; van der Linden, Marcel, Vorläufiges zur transkontinentalen Arbeitergeschichte, in: GG 28,2 (2002), S. 291-304.
2 Vgl. Siegrist, Hannes, Transnationale Geschichte als Herausforderung der wissenschaftlichen Historiographie, in: geschichte.transnational, 21.12.2004, <http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=575&type=artikelikel>; Patel, Kiran Klaus, Transnationale Geschichte – Ein neues Paradigma?, in: geschichte.transnational, 17.12.2004, <http://geschichte-transnational.clio-online.net/forum/id=573&type=artikelikel>.
3 Middell, Matthias, Transnationalisierung und Globalgeschichte, in: Traverse 1 (2005), S. 42.
4 Vgl. Osterhammel, Jürgen, Transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27,3 (2001), S. 475.
5 Dazu Espagne, Michel, Transferanalyse statt Vergleich. Interkulturalität in der sächsischen Regionalgeschichte, in: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hgg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2003, S. 419-438.
6 Rittberger, Volker, Internationale Organisationen – Politik und Geschichte. Europäische und weltweite zwischenstaatliche Zusammenschlüsse, Opladen 1995, S. 25ff.
7 Vgl. zu den neueren Entwicklungen in der Geschichte der internationalen Beziehungen Conze, Eckhart; Lappenküper, Ulrich; Müller, Guido (Hgg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004.
8 Zur Debatte um die Schutzfrist: Beier, Nils, Die urheberrechtliche Schutzfrist. Eine historische, rechtsvergleichende und dogmatische Untersuchung der zeitlichen Begrenzung, ihrer Länge und ihrer Harmonisierung in der Europäischen Gemeinschaft, München 2001, S. 26ff.; Vogt, Ralf M., Die urheberrechtlichen Reformdiskussionen in Deutschland während der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2004.
9 Siegrist, Hannes, Geistiges Eigentum im Spannungsfeld von Individualisierung, Nationalisierung und Internationalisierung. Der Weg zur Berner Übereinkunft von 1886, in: Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hgg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden 2005, S. 52-61.
10 Dazu allgemein: Siegrist, Hannes, Geschichte und aktuelle Probleme des geistigen Eigentum (1600-2000), in: Zerdicke, Axel; Picot, Arnold (Hgg.), E-Merging Media. Kommunikation und Medienwirtschaft in der Zukunft, Berlin 2004, hier S. 328.
11 Nguyen, Vinh-Kim, Epidemics, Interzones and Biosocial Change. Retroviruses and Biologies of Globalisation in West Africa, in: Lepenies, Wolf (Hg.), Entangled Histories and Negotiated Universals. Centers and Peripheries in a Changing World, Frankfurt am Main 2003, S. 183-210, hier S. 205, 184.
12 Randeria, Shalini, Domesticating neo-liberal Discipline. Transnationalisation of Law, Fractured States and Legal Plurality in the South, in: Lepenies, Wolf (Hg.), Entangled Histories and Negotiated Universals. Centers and Peripheries in a Changing World, Frankfurt am Main 2003, S. 175.

Redaktion
Veröffentlicht am
07.07.2005
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