P. Ridder: Konkurrenz um Menschenrechte

Titel
Konkurrenz um Menschenrechte. Der Kalte Krieg und die Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes von 1965–1993


Autor(en)
Ridder, Peter
Erschienen
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
382 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für Connections. A Journal for Historians and Area Specialists von
Sarah Knoll, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Kaum eine Institution wird heute deutlicher mit den allgemeinen Grund- und Menschenrechten in Verbindung gebracht als die Vereinten Nationen. Doch dies war nicht immer so. Unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs wurde die UNO in erster Linie zur Sicherung des Weltfriedens gegründet. Die Menschenrechte standen noch nicht ganz oben auf der Tagesordnung, obgleich die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Artikel 1 der UN-Charta festgeschrieben wurde. Gleichzeitig verbot die Charta im Artikel 2 jedoch das Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines Staates, was gegebenenfalls die Ahndung staatlicher Repressalien erschwerte. Erst auf der Weltmenschenrechtskonferenz in Wien 1993 wurde dieser Widerspruch formell ausgehebelt und der Schutz der Menschenrecht zur wichtigsten Aufgabe der Vereinten Nationen erklärt. Doch war dieser Bedeutungsgewinn Ergebnis des Kalten Kriegs oder möglich, weil er Anfang der 1990er-Jahre zu Ende ging? Dieser Frage geht der Historiker Peter Ridder in seiner nun veröffentlichten Dissertation nach.

Gängige Thesen vor allem aus den Reihen der Politikwissenschaften, den Rechtswissenschaften, aber auch den Geschichtswissenschaften über die Durchsetzung des UN-Menschenrechtsschutzes gehen davon aus, dass das größte Hemmnis am Weg zu Schutzmechanismen der Kalte Krieg war, wurden die wesentlichen Errungenschaften wie die Errichtung eines internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, die Sondertribunale für Jugoslawien und Kambodscha oder die Implementierung eines Hochkommissars für Menschenrechte doch erst in den 1990er-Jahren umgesetzt (S. 11f.).1 Dieses gängige Narrativ hinterfragt Ridder und stellt die These auf, dass sich der UN-Menschenrechtsschutz nicht trotz, sondern wegen des Kalten Kriegs durchsetzen konnte, dass dieser das Produkt des globalen Konflikts und der Konkurrenz um Menschenrechte sei (S. 12).

Nach Ridders Auffassung wurden die wesentlichen Grundfesten des heute angewendeten UN-Menschenrechtsschutzes zwischen 1965 und 1993 herausgebildet. Darunter fällt erstens die Etablierung des Treaty Based Monitoring (TBM), welches die Einhaltung von internationalen Verträgen wie der International Convention on the Elimination of Racial Discrimination (ICERD) von 1965 oder die Menschenrechtspakte von 1966 durch Expertenausschüsse überwacht. Zweitens das Charter Based Monitoring (CBM), welches die in der UN-Charta festgeschriebenen allgemeinen Verpflichtungen zur Einhaltung der Menschenrechte über die Einleitung von Untersuchungen oder die Einsetzung eines Sonderberichterstatters kontrolliert. Drittens die guten Dienste des UN-Generalsekretärs, welcher sich persönlich für Menschen einsetzt, die Opfer staatlicher Willkür wurden (S. 11).

Als wesentlichen Faktor für die Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes macht der Autor die Konkurrenz zwischen dem „Osten“ und „Westen“ aus. Dabei folgt er beim Verständnis des Terminus „Konkurrenz“ dem Soziologen Georg Simmel und geht von einem indirekten Kampf zweier Parteien um die Gunst eines Dritten aus. Um in der Gunst dieser dritten Partei zu steigen, verändern die jeweiligen Parteien ihre Verhaltensweisen (S. 20). Dementsprechend zentral ist für den Autor die Einbeziehung von Perspektiven dekolonisierter Staaten und – speziell ab den 1970er-Jahren mit dem steigenden öffentlichen Interesse an Menschenrechten – ziviler Akteure. Um die Wechselwirkungen zwischen Dekolonialisierung, Kaltem Krieg und zivilgesellschaftlichem Engagement und dessen Rückwirkung auf den Menschenrechtsschutz zu erkennen, ist ein Blick auf die Konkurrenz entscheidend, so die Ansicht des Autors (S. 21).

Perspektivisch sieht Ridder die Vereinten Nationen als den Ort, wo diese Konkurrenz zwischen „Ost“ und „West“ ausgetragen wurde, denn dort trafen Diplomat:innen, Aktivist:innen und Expert:innen aufeinander und diskutierten die Errichtung eines internationalen Systems zum Schutz der Menschenrechte. Der Fokus der Analyse liegt dabei nicht auf den Menschenrechtspolitiken einzelner Staaten, sondern darauf, wie diese auf die Vereinten Nationen und die Etablierung eines UN-Menschenrechtsschutzes zurückwirkten. Exemplarisch wird dabei auf jene Länder eingegangen, die nach Meinung des Autors in ihrem jeweiligen „Lager“ eine besondere Stellung einnahmen: die Bundesrepublik Deutschland, die USA, die Deutsche Demokratische Republik und die Sowjetunion.

Deutlich wird, dass die beiden „Lager“ sehr unterschiedliche Vorstellungen von Menschenrechten hatten, die sich jedoch im Laufe der Zeit veränderten. So betrachteten sozialistische Staaten vor allem in den 1950er-Jahren wirtschaftliche, kulturelle und soziale Kollektivrechte als zentrale Grundrechte. In den 1960er-Jahren rückte dann die Dekolonialisierung im Kampf um die Gunst der „neuen“ Staaten und Rassismus in den Mittelpunkt des Interesses des sozialistischen Lagers. Durch das Anprangern der Apartheid-Politik in Südafrika oder des Rassismus in den USA sollte der „Westen“ moralisch diskreditiert werden. Der „Westen“ wiederum räumte den bürgerlichen und politischen Individualrechten den Vorzug ein und kritisierte die Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion, insbesondere anhand der Behandlung von Menschen jüdischen Glaubens.

Dass Menschenrechtspolitik dabei in erster Linie als Machtpolitik und als Mittel der Außenpolitik gedacht wurde, zeigt das Buch nachdrücklich. Nicht die Rechte von Gruppen oder Individuen standen im Mittelpunkt der Aktivitäten, sondern vielmehr die politischen Interessen und Ziele der involvierten Staaten. US-Präsident Jimmy Carter machte Menschenrechte in den 1970er-Jahren beispielsweise zum Kernelement seiner Außenpolitik. Sein Nachfolger Ronald Reagan konzentrierte sich in den 1980er-Jahren im Rahmen seiner „neokonservativen Menschenrechtspolitik“ auf Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion und ihren Verbündeten, um über diesen Weg sozialistische Staaten zu destabilisieren und sich Vorteile im globalen Wettstreit zu verschaffen. Die Politik der US-Regierung unter Reagan unterschied dabei deutlich zwischen Menschenrechtsverletzungen in „autoritären“ und „totalitären“ Staaten. In den Vereinten Nationen sollten öffentlich nur jene von „totalitären Regimen“, also von sozialistischen Staaten, angeprangert werden. Autoritäre Regime sollten verschont bleiben, da ihnen die Möglichkeit eingeräumt wurde, sich von innen heraus zu reformieren, was bei „totalitären“ Regimen unmöglich erschien. Die Doppelstandards sind nicht zu übersehen. Das Auftreten des bundesdeutschen Außenministers Hans Dietrich Genscher zur Einführung eines Menschenrechtsgerichtshof 1976 diente wiederum dazu, ein weiteres Mittel zu haben, um die DDR unter Druck zu setzen.

Wie die Arbeit deutlich aufzeigt, dienten im „Westen“ wie im „Osten“ Menschenrechtsfragen in erster Linie zur eigenen Profilierung. Der Autor sieht darin den Schlüssel zur Etablierung des UN-Menschenrechtsschutzes im Kalten Krieg: Gerade weil der „Osten“ und der „Westen“ in einer ständigen Konkurrenz lebten, in der sie sich stets als besseres Lager präsentieren wollten und damit abhängig waren von der Meinung Dritter – etwa der öffentlichen Stimmung oder der Unterstützung kürzlich dekolonisierter Staaten –, konnten sich Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte etablieren.

Die These, dass die Grundlagen des UN-Menschenrechtsschutzes im Kalten Krieg zu finden sind, wird vom Autor auf breiter Quellenbasis herausgearbeitet. Nicht zuletzt die seit den 1960er-Jahren vorhandenen Initiativen zur Einsetzung eines UN-Hochkommissars für Menschenrechte, die Etablierung eines UN-Menschenrechtsausschusses, die Einsetzung von Sonderberichterstattern oder die erstmalige Anwendung des CBM-Verfahrens gegenüber Chile in den 1970er-Jahren untermauern die Argumentation und zeigen auf, dass Diskussionen um den Schutz von Menschenrechten bereits im Kalten Krieg ein wichtige Rolle in den Vereinten Nationen spielten, auch wenn sie von den spezifischen machtpolitischen Interessen der involvierten Staaten getrieben waren. Inwieweit jedoch hierfür insbesondere die Konkurrenz zwischen „Ost“ und „West“ zentral verantwortlich war, bleibt an manchen Stellen etwas ungenau dargestellt.

Eine große Stärke des Buches ist die Langzeitperspektive. Durch die Fokussierung auf fast die gesamte Dauer des Kalten Kriegs und die ersten Jahre danach gelingt es der Arbeit, die Veränderungen im Diskurs um Menschenrechte innerhalb von Staaten, aber auch in der UNO deutlich herauszuarbeiten. Damit leistet das Buch einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Entstehung des UN-Menschenrechtsschutzes und zeigt, welchen Stellenwert die Vereinten Nationen im Rahmen staatlicher Menschenrechtspolitik hatten.

Anmerkung:
1 Vgl. u.a. Roger Normand / Sarah Zaidi, Human Rights at the UN. The Political History of Universal Justice, United Nations Intellectual History Project, Bloomington 2008; Rosemary Foot, The Cold War and Human Rights, in: Melvyn P. Leffler / Odd Arne Westad (Hrsg.), The Cambridge History of the Cold War, Vol. III: Endings, Cambridge 2010, S. 445–465.

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Veröffentlicht am
23.09.2022
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