Mit Thuggee, der englischen Schreibweise für Hindustani: thagi, wurde noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein organisiertes Verbrechen im Verbund mit orientalistischer Grausamkeit in Britisch-Indien assoziiert. Danach begingen in der Region südlich von Agra religiös motivierte Räuberbanden rituelle Morde, indem sich Gruppen oft als Mendikanten, Musikanten oder Gaukler ausgaben, einzelne oder ebenfalls in Gruppen Reisende über Tage begleiteten, sie dann des Nachts mit Hilfe eines Seidenschals erdrosselten, meist am Wegrand verscharrten, und mit dem Diebesgut im Dunkeln verschwanden. Gleich Sati (Suttee), der „indischen Witwenverbrennung“, galt thagi in britisch-kolonialen Augen als Inbegriff indisch-orientalischer Religiosität, deren Aberglauben und Götzendienste zu allerlei monströsen Verbrechen verleitete oder anstiftete. Die einschlägigen Berichte und Darstellungen von William Sleeman zu „Thuggee“ in den 1830er-Jahren generierten eine ganze Reihe literarischer Erzeugnisse, die das Thema begeistert aufnahmen und ein Lesepublikum im viktorianischen England bedienten, das an Schauergeschichten wachsenden Gefallen fand.
Was aber verbarg sich hinter diesen Geschichten von Mord, Raub, Religion und Ritual? Handelte es sich um eine rein koloniale Erfindung, die Verschwörungsszenarien einer nur schwer beherrsch- geschweige denn regierbaren Bevölkerung entwarf, um so einen starken Militärapparat zu rechtfertigen? Dann wäre thagi bloß Teil eines essenzialisierenden imperialen Diskurses. Oder handelt es sich um die „Romantisierung“ eines Phänomens, das von einer gewissen Sensationslüsternheit herrührt, die Stereotypen bediente, die den „Orient“ und seine Menschen als geheimnisvoll, bunt, laut und zugleich brutal-grausam darstellten? So gesehen wäre thagi Teil eines orientalistischen Diskurses, dem es an Essenzialisierungen ebenso wenig mangelt. In jedem Fall aber war thagi ein geeignetes Mittel, Stimmungen im kolonialen Indien wie im heimischen Großbritannien zu schaffen, die die Zivilisierung einer als barbarisch-unzivilisierten Bevölkerung jederzeit rechtfertigte. Eine Minderheitsmeinung, die von Kolonialbeamten geäußert wurde, besagte allerdings, dass es sich bei thagi lediglich um organisiertes Bandentum handelte. Derart nüchtern betrachtet ließ sich das „Phänomen“ herrschaftsideologisch freilich nicht in Wert setzen, weshalb der Ansicht auch keine weitere Aufmerksamkeit widerfuhr.
Kim A. Wagner gelingt in seiner Dissertation nichts Geringeres als die Entzauberung eines kolonial-indischen Mythos, der offensichtlich aus zahlreichen Zutaten bestand. Indem Wagner die bekannten Quellen nochmals sorgsam liest, oft gegen den Strich, und fragt, was sie eigentlich über die Thags aussagen, und dazu neues Material heranzieht, kommt er zu dem überzeugenden Schluss, dass thagi in der Tat eine Form des organisierten Bandenwesens war, das in Teilen Nordindiens am Ende des 17. Jahrhunde erstmals, seit Beginn des 19. Jahrhunderts dann zunehmend auftrat. Methodisch und methodologisch an E.P. Thompsons „Whigs and Hunters“ erinnernd, erschließt Wagner die soziale Welt der Thags, indem er versiert die Aussagen von Kronzeugen und Gerichtsakten auf ihren eigentlichen Aussagewert und Inhalte hin untersucht, Fragen und Antworten analysiert, und dabei auch die Vorteilswahrung von bekennenden Thags berücksichtigt.
Aufgrund der Vielfältigkeit und Verstreutheit der thagi konzentriert sich Wagner exemplarisch auf die Gegend um Sindouse, einen Ort, der südlich der Yamuna und der Chambal liegt, und im Rahmen von thagi berüchtigte Berühmtheit erlangte. Anhand der Berichte britischer Distriktbeamter und Offiziere kann Wagner aufzeigen, wie innerhalb weniger Jahre das Stereotyp des rituell mordenden und raubenden „Thug“ entstand und Handlungsbedarf bei der noch schwachen Kolonialmacht auslöste. Als halb-nomadisierende Gruppen wurden Thags zur latenten Bedrohung eines auf eine nur sesshaft kontrollierbare Bevölkerung ausgerichteten Staates stilisiert. Gleich anderer wandernder Gesellschaftsgruppen wie Fakire und Sanyassins wenige Jahrzehnte zuvor, versuchte auch hier der Kolonialstaat eine bestimmte Gruppe nicht nur zu kriminalisieren – Kriminelle waren Thags ohne Zweifel –, sondern sie vor allem als eine geschlossen agierende Gruppe („Kaste“, Ethnie, Sippe) mit festen Verhaltensregeln und Normen festzuschreiben, ihr erbliche und damit rassisch-genetische Degeneriertheit, zumindest aber Verdorbenheit zu unterstellen, um ihrer so administrativ, juristisch und militärisch besser oder überhaupt habhaft werden zu können.
Wirft man mit Wagner einen genauen Blick auf die Thags und ihre Verhalten, dann kann man folgendes Bild zeichnen. Offensichtlich gibt es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in besagter Region tatsächlich Gruppen von Thags, die auch andere Bezeichnungen tragen, die in Verbänden von 10 oder 20 Mann, gelegentlich auch von über 600 Personen, als Begleiter von Reisenden Raubmorde begehen. Religiöse Motive sind dabei nicht zu erkennen. Thags tauchen auch als Begleiter militärischer Trosse oder der Banjara-Packochsen-Kolonnen auf, dienen generell als Unterhaltungskünstler und sind zugleich gefürchtet. Ähnlich der europäischen „Zigeuner“ sind Thags Teil einer Gesellschaft, die auf deren Dienste angewiesen ist, mit deren Auftauchen aber auch Ängste verbunden werden. Thags sind fester Bestandteil einer in Teilen mobilen Gesellschaft, ohne die Wirtschaft und Handel nicht funktioniert hätte. Zudem waren die Thags gesellschaftlich durchaus akzeptiert, wenn sie in lokalen Steuerlisten auftauchen und obendrein den Schutz von Zamindars, lokalen Steuereinziehern und Grundbesitzern, besaßen.
Teilweise operierten die Zamindars mit den Thags, oder reiche Bauern fungierten als Kreditgeber für Thag-Raubzüge. Um sich während ihrer Aktionen abzustimmen, benutzen Thags eine verschlüsselte Sprache, die freilich keine Geheimsprache im Sinne von Geheimbündlern war – das eben war die Assoziation der Kolonialbeamten – , sondern ein weit verbreiteter und elaborierter Banditen-Jargon, um unverstanden kommunizieren zu können. An einem gesonderten Fall aus dem Jahr 1810 kann Wagner demonstrieren, dass es sich bei manchen Thag-Operationen auch um traditionelle Fehden zwischen Rajputen-Clans handelte, wie sie in der besagten Region durchaus üblich und Ausdruck von im regional-gesellschaftlichen Kontext legitimer Rechtswahrung waren. Zugleich war der Fall, bei dem ein britischer Offizier ums Leben kam, auch ein erster Widerstand gegen die neue Herrschaft, die, wie die Moguln versuchten, eine zentrale Staatsgewalt mit effizientem Steuereinzug zu etablieren. Zamindar wie Thags wandten sich gleichermaßen gegen die Kassierung von Privilegien und Rechten, insbesondere aber gegen die Festlegung von neuen, höheren Steuersätzen. Thags und Zamindars handelten hier in gegenseitigem Interesse, Schutz gewährend und Milizen stellend.
Dass es zum vermehrten Auftreten von Thag-Aktionen gekommen ist, mag einerseits an der gesteigerten Aufmerksam der britischen Kolonialmacht und ihres Sicherheitsbedürfnisses gelegen haben. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Demilitarisierung, die die Briten in den annektierten Gebieten soweit es ging durchführten, zu einer wachsenden Verelendung auf dem Lande führte. Da der landwirtschaftliche Boden in den ökologisch höchst instabilen „ravines“ von Chambal und zufließenden Flüssen nur begrenzt nutzbar war, waren auch der „Verbäuerlichung“ von vornherein Grenzen gesetzt. Hier setzt auch die einzige Kritik an Wagners ansonsten brillanter Studie an: Wenn Thagi offenkundig kein koloniales Konstrukt ist und erste Überlieferungen vom Ende des 17. Jahrhunderts stammen, wäre zu fragen, ob nicht die umfangreichen Entwaldungen unter den Moguln zur Ausweitung der landwirtschaftlichen Nutzfläche gerade im Kernbereich ihrer Herrschaft zu ersten gravierenden Umweltzerstörungen in der ökologisch sensiblen, weil semi-ariden Region von Yamuna und Chambal geführt haben. Ökologischer und fiskalischer Druck auf knappe Ressourcen wären demnach Ursachen für die wachsende Gewaltbereitschaft. Vor diesem Hintergrund würden Thags dann doch in die Kategorie der „social rebells“ fallen, wie sie Eric Hobsbawm aufgestellt hat, die aber Wagner für seine Banditen nicht gelten lassen will.
Durch diese Anmerkungen werden die Erkenntnisse der Untersuchung keinesfalls geschmälert. Insgesamt nämlich gelingt es Wagner, in Abgrenzung von Gayatri Spivak, die behauptete, die „subalterns“ könnten durch wissenschaftliche Forschung nicht zum Sprechen gebracht werden, die Thags gleichwohl sprechen zu lassen und einen Teil ihrer Gesellschaft, ihres Lebens, ihrer Handlungsweisen und Handlungskompetenzen in ein Licht zu rücken, den Marginalisierten der damaligen kolonialen Gesellschaft und nachfolgend der kolonialen Geschichtsschreibung erstmals eigenes Gewicht zu geben. Ohne Zweifel gehört „Thuggee“ von Kim A. Wagner in jede Seminarbibliothek von Südasien-Studien, denn sie stellt einen wichtigen Beitrag zu einer neuen Historiografie zu Südasien dar. Zu wünschen wäre, dass Wagners Studie generell in den Kreisen von Kultur- und Sozialhistorikern rezipiert wird.