B. Unfried u.a. (Hrsg.): Transnationale Netzwerke

Titel
Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen


Herausgeber
Unfried, Berthold; Mittag, Jürgen; van der Linden, Marcel; Himmelstoss, Eva
Reihe
ITH-Tagungsberichte 42
Erschienen
Anzahl Seiten
332 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig

Die beiden zentralen Begriffe im Titel des hier anzuzeigenden Bandes verweisen auf zwei getrennte, gleichwohl verwandte und miteinander in enger Beziehung stehende Diskussionszusammenhänge in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die in den letzten Jahren zunehmend an Prominenz gewonnen haben. Beide können in die wissenschaftliche Bewegung im Gefolge des spatial turn und der sich intensivierenden Forschung zu Geschichte, Formen und Bedingungen von Globalisierung eingeordnet werden. Sie reagieren mit ihr auf das wachsende Unbehagen an der Staatsfixiertheit innerhalb der beiden disziplinären Formationen, also auf die lange wirksame Privilegierung von an den Nationalstaat geknüpften Territorialitätsvorstellungen einerseits und von als hierarchisch geordnet erscheinenden Container-Räumen als Grundlage wissenschaftlicher Beschreibung und Analyse andererseits. In den Argumentationslinien, die sich sowohl um den Begriff der Transnationalisierung als auch um jenen des Netzwerks gruppieren, stehen im Gegensatz dazu Prozesse und Akteure im Zusammenspiel mit als historisch wandelbar verstandenen Strukturen im Vordergrund und werden bisher im Kontext des Nationalstaats erzählte Vorgänge in historisch länger zurückreichenden Prozessen von globalen Verflechtungen und Transfers verankert.

Den Herausgebern des Bandes, der auf zwei Konferenzen des ITH in Linz und Wien im Jahr 2007 zurückgeht, gelingt es, einen notwendigen Dialog im doppelten Sinne in Gang zu setzen: Zwischen den beiden Konzepten einerseits, zwischen den Disziplinen andererseits. Denn sowohl die Netzwerk- als auch die Transnationalisierungsforschung ist in den Sozial- und Geisteswissenschaften in unterschiedlichen wissenschaftsgeschichtlichen Rhythmen und Kontexten entstanden und hat nicht unbedingt deckungsgleiche Konzeptualisierungen und Operationalisierungen hervorgebracht.1 Die Beobachtung der sich verstärkenden Dynamik von De- und Reterritorialisierungsprozessen, an denen nicht-staatliche Akteure historisch und gegenwärtig einen erheblichen Anteil haben, wird von wachsenden Teilen der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft bestätigt. Die Kombination der transnationalen historischen Perspektive mit dem Instrument der Netzwerkanalyse kann sich vor diesem Hintergrund als ein Weg zur forschungspraktischen Bewältigung der damit verbundenen Herausforderung erweisen. Jürgen Mittag und Berthold Unfried vermuten eingangs, dass „Grenzen und Grenzziehungen immer durchlässiger werden“ (S. 9), „Entterritorialisierungs- und Entgrenzungsprozesse“ (S. 11) zum Machtverlust des Nationalstaats beitragen und sich transnationale Netzwerke eindeutig von nationalstaatlichen Strukturen abgrenzen ließen. Möglicherweise lässt sich eher von einer Dialektik der De- und Re-Territorialisierung sprechen, Globalisierung und Nationalisierung mithin als historisch parallele und sich gegenseitig bedingende Bewegungen beschreiben.2 Über die Plausibilität dieser Deutungsvorschläge wird sich die weitere Forschung verständigen. Die hier versammelten Beiträge skizzieren jedenfalls ein differenziertes Bild.

Am Beginn des Bandes stehen begrifflich-theoretische und methodische Überlegungen. Susan Zimmermann zeichnet in ihrem Beitrag die Geschichte der Begriffe „international“ und „transnational“ nach und argumentiert, dass beide eine Reihe bedeutsamer Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Problem beider Herangehensweisen sei jedoch, dass sie die ihnen zugrunde liegenden Einheiten nicht ausreichend hinterfragten und somit letztlich die nationalstaatlichen Container fortschrieben. Zimmermann plädiert für „eine integrative Herangehensweise an das Themenfeld des Inter- und Transnationalen“ (S. 46) und für eine „angemessene Konzeptualisierung von Staat und Nation“ (S. 46). Dafür sei die Einbeziehung von Fragen der globalen Ungleichheit in die Forschungsagenda ein entscheidender Schritt. CHRISTOPH BOYER konstatiert eine wachsende Verundeutlichung des Netzwerk-Begriffs und versucht, in seinem Beitrag einen Vorschlag für einen pragmatischen Analyserahmen zu entwickeln. Netzwerke, als „soziale Konfigurationen“ (S. 51), „als Agenturen einer speziellen Art und Weise von Vergesellschaftung“ (S. 50), formal fassbar als Menge von durch Linien verbundene Knoten, erbringen spezifische Koordinations- und Kommunikations-, sowie Ordnungs- und Steuerungsleistungen. Sie ließen sich sowohl als Beschreibungskategorie als auch als analytisches Instrument einsetzen. Von sozialwissenschaftlichen Traditionen der Netzwerkanalyse ausgehend skizziert er den Beitrag historischer Forschung. Dieser liege vor allem in der Integration der prozessuale Dimension, nämlich die Entstehung, Entwicklung und den Zerfall in verschiedenen Phasen von Netzwerken zu untersuchen. Hier könnte man eine weitere historische Fragestellung ergänzen: Lassen sich übergreifende historische Perioden der (globalen) Ausbreitung von Netzwerken rekonstruieren oder können spezifische Netzwerkformationen bestimmten historischen Zeiträumen zugeordnet werden? Dies wäre eine Möglichkeit, den „discourse of newness“, der der Globalisierungsrhetorik im allgemeinen und vielfach auch der Netzwerksemantik im besonderen eignet, zu differenzieren. Dirk Hoerder konstatiert für das Feld der Migrationsforschung ebenfalls eine lange Tradition der Staatszentriertheit. Auch transnationale Ansätze in der Migrationsforschung blieben letztlich auf den Nationalstaat fixiert. Vielmehr argumentiert er, dass die durch Migration geschaffenen Räume als „translocality“ (S. 86) verstanden werden müssten und erst in einer transkulturellen Analyse fassbar würden. Ravi Ahuja unterstreicht die Bedeutung von Hierarchien und Machtdifferenzen in Netzwerken, und kritisiert die diesbezügliche Blindheit und normative Aufladung verschiedener sozialwissenschaftlicher Netzwerkbegriffe. Mit seiner einleuchtenden Studie zu den Arbeits- und Migrationsnetzwerken indischer Seeleute im 19. Jahrhundert zeigt er, wie mit dem Begriff des Netzwerks, den er als „Infrastrukturen differenzierender Integration“ (S. 101) reformuliert, ein analytisches Instrument für die „Dynamik gesellschaftlicher Prozesse“ (S. 101) gewonnen werden kann.

Der zweite Teil des Bandes widmet sich der Rolle normativer Netzwerke bei der Zirkulation von Ideen und Wertvorstellungen in globalen Arenen. Kees van der Pijl untersucht die Geschichte hegemonialer Strukturen in der globalen politischen Ökonomie von der industriellen Revolution bis in die heutige Zeit, von spezifischen Konstellationen politischer und ökonomischer Cluster kapitalistischer und staatlicher Akteuren bis hin zu transnationalen Netzwerken wie der Bilderberg-Gruppe. Ariel Colonomos zeigt für den Bereich des internationalen Rechts die Bedeutung von regierungsnahen und unabhängigen Rechtsanwälten in den USA bei der Entstehung und Entwicklung neuer Normen. Sebastian Schüler rekonstruiert anhand der Pfingstbewegung die Entstehung transnationaler religiöser Netzwerke, durch die einerseits religiöse Heilsgüter globalisiert und zirkuliert, diese andererseits in lokalen Kontexten verortet würden.

Im dritten Teil stehen Wissens- und Politiknetzwerke im Mittelpunkt. Vor allem die Studie von Giuliana Gemelli zeigt, dass Netzwerke auch gezielt als Instrument zur Erreichung politisch-normativer Zwecke eingesetzt werden. Dabei könne mitunter eine Eigendynamik entstehen, die den jeweiligen „Netzwerkarchitekten“ unter Druck zu setzen vermag. Gemelli untersucht die Rolle der Ford-Foundation bei der Reorganisation der europäischen sozialwissenschaftlichen Strukturen in den sechziger und frühen siebziger Jahren. Die Strategie der Vernetzung sei hier gezielt gewählt worden, um den europäischen Widerstand gegen amerikanische Einflüsse abzufedern. Dies hatte sich anfangs, beim hier diskutierten European Consortium for Political Research, als relativ erfolgreich bei der Verbreitung amerikanischer Standards und Methoden in der europäischen Sozialwissenschaft erwiesen. Dagegen hatten europäische Netzwerke in den siebziger Jahren, u.a. mit der European Association of Experimental Social Psychology, einen erheblichen Grad an Selbstständigkeit erlangt, was Gemelli als „process of decolonization“ (S. 183) beschreibt. Auch Maria Mesner verdeutlicht in ihrer Untersuchung der Entwicklung einer globalen Bevölkerungspolitik seit der Zwischenkriegszeit die Transformationen historischer Netzwerke durch veränderte Rahmenbedingungen und die Integration neuer Akteure. Daniel Maul verweist in seiner Studie zur International Labour Organisation und ihrer Rolle bei der Reform der kolonialen Sozialpolitik zwischen 1940 und 1944 auf die Bedeutung internationaler Bürokratien als eigenständige Akteure bei der Gestaltung internationaler Agenden. Netzwerke erscheinen in diesem Fall als Möglichkeit, mangelnde Verhandlungsmacht und Sanktionspotentiale auszugleichen, die Stärke von Sekretariaten internationaler Organisationen scheint hierbei vor allem bei der Generierung von Expertenwissen und der Setzung von Themen für internationale politische Agenden zu bestehen. Mit dem Instrumentarium der quantitativen historischen Netzwerkanalyse nähert sich Dieter Plehwe der Geschichte des Neoliberalismus, die eng mit der Mont Pèlerin Society verbunden ist.

Im letzten Teil des Bandes sind Studien zur internationalen Arbeiterbewegung versammelt. Ottokar Luban untersucht die Versuche europäischer Sozialisten, der Krise der II. Sozialistischen Internationale während des Ersten Weltkriegs durch den Aufbau informeller Netzwerke wie der Zimmerwalder Antikriegsbewegung zu begegnen. Mit dem Jewish Labour Committee steht in der Studie von Catherine Collomb und Bruno Groppo eine weitere Organisation der Arbeiterbewegung im Mittelpunkt. Getragen von jüdischen, meist polnischen Emigranten setzte es mit seinen Versuchen, europäische Gewerkschaftsfunktionäre in den dreißiger und vierziger Jahren vor den Verfolgungen des in Europa um sich greifenden Nazismus und Antisemitismus zu retten, entscheidende Impulse für die Internationalisierung der bis dahin weitgehend isolierten amerikanischen Arbeiterbewegung. Bei Augusta Dimou stehen wiederum intellektuelle Netzwerke im Zentrum des Interesses. Sie untersucht Wissenstransfers am Beispiel der Ausbreitung der sozialistischen Theorie in Südosteuropa. Die Kombination der Netzwerkanalyse mit transfergeschichtlichen Ansätzen erweist sich hier als besonders fruchtbar und macht ein weiteres Potential dieser Zugänge deutlich. Dimou argumentiert, dass die Geschichte des sozialistischen Denkens als gesamteuropäische Transfergeschichte, als Ost-West-Beziehungsgeschichte erzählt werden könne. Durch transfergeschichtlich informierte Netzwerkanalysen können nicht nur die eingangs thematisierten nationalstaatlichen Kategorien historischer und sozialwissenschaftlicher Beschreibung, sondern darüber hinaus traditionelle eurozentrische Meta-Narrative problematisiert werden. Dieses Potential besitzen u.a. auch die Studien von Zimmerman, Hoerder, Ahuja, Gemelli und Mesner.

In den Beiträgen des Bandes werden die Variationen von Transnationalisierungs- und Netzwerkkonzepten und ihre forschungspraktische Übersetzung für konkrete Problemfelder und Fragestellungen deutlich. Sie zeigen, wo die Potentiale solcher Analysekategorien liegen können und demonstrieren gleichzeitig - dies unterstreichen auch die Herausgeber in der Einleitung - „dass die Forschungsanstrengungen nicht abgeschlossen sind“ (S. 25). Die hier versammelten Ergebnisse dieser Bemühungen sind dabei einerseits ein überzeugendes Beispiel für den Dialog über Disziplinengrenzen hinweg, andererseits können sie als deutliche Aufforderung dazu verstanden werden, dieses Gespräch nicht abreißen zu lassen.

Anmerkungen:
1 Auf die unterschiedlichen Aspekte des transnationalen verweisen im Band insbesondere die Beiträge von Mittag, Unfried, Zimmermann und Hoerder. Die Netzwerkanalyse besitzt sowohl in der Soziologie als auch in der Politikwissenschaft eine längere Tradition, einen guten Überblick über die Literatur geben im Band vor allem die Beiträge von Boyer und Neurath / Krempel. In der Disziplin der Internationalen Beziehungen, die hier weniger Beachtung findet, gruppiert sich die Diskussion u.a. um Ansätze der global governance und der Transnational Advocacy Networks. Vgl. u.a. Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, Frankfurt a. M. 1999; Kathryn Sikkink / Margaret Keck, "Transnational advocacy networks in international and regional politics", in: International Social Science Journal 51 (1999), 159, S. 89-101.
2 So beispielsweise Neil Brenner, "Beyond state-centrism? Space, territoriality and geographical scale in globalization studies", in: Theory and Society 28 (1999), 2, S. 39-78; Michael Geyer / Charles Bright, "World History in a Global Age", in: The American Historical Review 100 (1995), 4, S. 1034-1060; Ulf Engel / Matthias Middell, "Bruchzonen der Globalisierung, globale Krisen und Territorialitätsregimes - Kategorien einer Globalgeschichtsschreibung", in: Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 15 (2005), 5/6, S. 5-38.

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21.05.2009
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