Dieses Buch dreht sich um die Frage, wie die Sowjetunion das Finanzsystem von Bretton Woods erfolgreich aushebelte. Es ist eine Fortsetzung von Sanchez-Sibonys erstem Buch, in dem er die These verfocht, dass die Sowjetunion niemals Autarkie gesucht, sondern immer Teil des globalen Marktes habe sein wollen, auch schon unter Stalin.1 Auch in diesem Werk konzentriert er sich auf die 1960er- und frühen 1970er-Jahre, in denen der Sowjetunion die größten Durchbrüche bei Handelsabschlüssen und Gewährung von Krediten gelang. Irritierend ist zunächst, dass Sanchez-Sibony die Geschichte der Finanzströme in erster Linie als Geschichte der Gas-Deals erzählt, denn er stellt die These auf, dass die langfristigen Lieferverträge von Gas und auch Öl in erster Linie dem Zweck dienten, der Sowjetunion langfristige Kredite zu günstigen Konditionen zu verschaffen. Diese Geschichte der Gasdeals zwischen der Sowjetunion und den westeuropäischen Staaten ist aber bereits von Per Högselius erzählt worden.2 Sanchez-Sibony legt nur eine andere Deutung darüber, nämlich, dass es der UdSSR nicht um Energiehandel oder um Entspannung im Kalten Krieg, sondern um die Aufweichung des Bretton-Woods-Systems gegangen sei: „The Soviets did not use energy in the materialist key of the conventional narrative […]. They did not simply want to barter energy for things. What they wanted was […] rather a new relationship with the West, which is to say, a new relationship with the global production and circulation of capital.” (S. 14) Allerdings ist das weitestgehend Sanchez-Sibonys Interpretation, denn Dokumente, die das wörtlich belegen, fehlen ihm meist.
Der Unterschied zu Högselius besteht nicht allein darin, dass Sanchez-Sibony die These vertritt, die Gaslieferungen seien nur Mittel zum Zweck gewesen. Der Unterschied liegt auch darin, dass Högselius in Archiven in Russland, in der Ukraine, in Österreich und in Deutschland geforscht hat, während Sanchez-Sibony nahezu sein ganzes Buch und seine ganze Argumentation auf dem Archivbestand Nummer 413 des Außenhandelsministeriums der Sowjetunion im Moskauer Wirtschaftsarchiv aufbaut. Dadurch argumentiert Sanchez-Sibony nicht nur ganz aus der Perspektive Moskaus, sondern aus der Perspektive des Handelsministeriums. Ihm entgeht dabei, dass das Politbüro mitunter wesentlich zögerlicher war, was den Bau einer transkontinentalen Pipeline einerseits und den Anschluss des erzkapitalistischen Westdeutschlands daran andererseits betraf. Da er nahezu durchgängig das ahistorische „the Soviets“ verwendet, wird bei ihm leider meist nicht deutlich, wer hier tatsächlich auf Seiten Moskaus agierte und welche Ideen aus dem Handelsministerium über Jahre hinweg gegen mehr oder weniger starken Widerstand im Politbüro durchgesetzt werden mussten.
Das Buch beginnt verwirrend mit einem siebenseitigen biographischen Exkurs zu einer Person, die nur als „Lorenzo“ vorgestellt wird und an deren Karriere als Ökonom und Vertreter der spanischen Außenhandelskammer Sanchez-Sibony demonstrieren will, dass ein einfacher Spanier mit linken Ansichten als Finanzspezialist im globalen Markt zum Fall von Bretton-Woods beitragen konnte. Sanchez-Sibony betont, dass Bretton Woods nicht durch eine konzertierte Aktion zu Fall gebracht worden sei, sondern: „It was overcome using tools, as Lorenzo used, forged in the aspiration for a socialist world. But what they forged at length, was a new form of capitalism.” (S. 7) Dies ist Auftakt und Leitmotiv des Buches zugleich. Sanchez-Sibony geht noch einen Schritt weiter, wenn er die These aufstellt, letztlich habe im Kalten Krieg nicht der Westen triumphiert, sondern der Ostblock obsiegt, weil er nicht nur die Handels- und Finanzsanktionen der kapitalistischen Welt aushebelte, sondern auch seine eigenen Regeln durchsetzte (S. 10).
Bei Bretton Woods, der Konferenz, die 1944 in Bretton Woods in New Hampshire stattfand und die ein festes Koordinatensystem für die internationalen Wirtschaftsbeziehungen und hier vor allem die Währungsverrechnung festlegen sollte, werde oft übersehen, so Sanchez-Sibony, dass dem neuen System ebenfalls Energie, nämlich die Ölförderung, zugrunde lag (S. 17). Nur auf dieser Basis habe der Goldstandard für den Dollar etabliert werden können (S. 20). Die Sowjetunion habe zum einen durch Investitionsprojekte dafür gesorgt, dass das Dollarvolumen auf dem globalen Markt derart wuchs, dass Nixon 1971 die Koppelung des Dollars an das Gold aufgeben musste. Zum anderen habe sie selbst mit der transkontinentalen Pipeline von Sibirien bis Italien eine dauerhafte Energie-Infrastruktur geschaffen, auf deren Basis sie ihre eigene Kreditpolitik durchsetzen konnte (S. 25f.).
Im ersten Kapitel erfahren wir, was aus zahlreichen Studien bereits bekannt ist3: dass Italien bereits in den 1950er-Jahren das erste westeuropäische Land war, das unverhohlen von der Sowjetunion Öl kaufte, um damit die Vormachtstellung der angloamerikanischen Ölmultis zu brechen. Dabei handelte es sich um Bartergeschäfte: Öl wurde gegen Röhren getauscht. 1965 schlugen dann die Italiener nicht nur den Bau einer Autofabrik in der Sowjetunion, sondern auch einer transeuropäischen Gaspipeline vor (S. 58). Der sowjetischen Seite, so Sanchez-Sibony, ging es dabei viel mehr um die Kreditbedingungen: „The deal’s main goal, in other words, was for a long-term credit arrangement to go with a long-term material bond with Western Europe.” (S. 62) Die staatliche italienische Mineralölgesellschaft bot nicht nur die ersehnten langfristigen Kredite an, sondern hatte so auch für westliches Kapital „die Tür geöffnet“ (S. 63). Nur für die nächste These hat Sanchez-Sibony keinen Beleg: „The Soviets were waiting for West Germany“ (ebd.). Liest man nur die Akten des Außenhandelsministers, mag das der Eindruck sein, aber aus den Akten des Politbüros geht eindeutig hervor, dass alle Vorstöße Nikolaj Patoličevs in dieser Hinsicht im Politbüro systematisch abgeblockt wurden, genauso wie die Vorstöße des bayerischen Wirtschaftsministers Otto Schedl oder der österreichischen Verhandlungspartner, die sich ebenfalls für Westdeutschland stark machten: Bis zum Februar 1969 war ein Anschluss der Bundesrepublik an das Pipelinenetz im Politbüro nicht gewollt, und das übersieht Sanchez-Sibony.4
Das zweite Kapitel ist Großbritannien gewidmet. Sanchez-Sibony führt aus, dass die Sowjetunion sich ständig über die Qualität der britischen Güter beklagte und nur deshalb an dem Handel festhielt, weil die gewährten Kreditbedingungen so vorteilhaft waren. Hier bekam Moskau die harte Währung, die es so dringend brauchte (S. 69). London wurde zum Finanzplatz für viele osteuropäische Länder und für international operierende Banken, die in sowjetische Geschäfte einstiegen, weil die Sowjetunion bald eine hohe Kreditwürdigkeit besaß (S. 78, S. 89). „As capital broadened geographical horizons beyond geo-ideological alliances, that Cold War logic, such as it was, was interrupted beyond recognition […] The socialists had won a Cold War.” (S. 90) Es stellt sich allerdings die Frage, ob es nur für den Effekt sinnvoll ist, von vielen Kalten Kriegen zu sprechen, gerade wenn die These des Autors eigentlich lautet, dass die Fronten nie derart verhärtet und undurchlässig waren, wie es oft angenommen wurde, und der „Kalte Krieg“ eigentlich ein ständiges Annähern, Aushandeln und Austesten war, ergo im Außenhandel gar nicht existierte.
Kapitel drei handelt von Österreich, das bekanntlich 1968 als erstes westeuropäisches Land einen Gas-gegen-Röhren-Vertrag mit der UdSSR unterzeichnete und noch im gleichen Jahr das erste „rote“ Gas bezog. Per Högselius hat diese Verhandlungen ausführlich beschrieben und auch Thane Gustafson hat kürzlich ein neues Buch dazu vorgelegt.5 Sanchez-Sibony macht geltend, dass es bei all den strittigen Punkten wie Lieferbeginn, Liefermenge und Preis einen für „the Soviets“ alles überlagernden Faktor gegeben hätte: die Kreditlaufzeit: „The gap was the measure of the world the Soviets wanted against the world as it functioned under Bretton Woods.“ (S. 114) Bei seinen Beteuerungen, dass es bei den Verhandlungen nicht um „diplomatic goodwill or geopolitical calculation“, sondern um reine Markt-Diskurse und -Logiken ging (S. 121), übersieht Sanchez-Sibony, dass es sehr wohl eine politische Dimension gab, denn Österreich strebte zu diesem Zeitpunkt eine Assoziierung mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft an, die ihr die Sowjetunion untersagte und dafür Gas anbot.6
Kapitel vier erzählt die ebenso bekannte Geschichte der Gasverhandlungen mit Westdeutschland. Auch hier geht es Sanchez-Sibony darum zu demonstrieren, dass der Deal allein den Regeln des Marktes bzw. den sowjetischen Kreditwünschen folgte und nichts mit Ostpolitik zu tun hatte (S. 129). Damit übersieht er, dass das Politbüro sehr wohl seine restriktive Haltung gegenüber Westdeutschland im Februar 1969 aus geostrategischen und politischen Erwägungen änderte: Westdeutschland sollte von China ferngehalten und Brandt der Weg ins Kanzleramt geebnet werden; zu Krediten und Finanzmarktpolitik fiel im Politbüro kein Wort.7 Dass „the Soviets“ plötzlich einen sehr niedrigen Preis für das Gas akzeptierten, den sie Österreich nicht zugestanden hatten, erklärt Sanchez-Sibony damit, dass Westdeutschland anders als die Alpenrepublik und Italien die Finanzressourcen und Produktionskapazitäten besaß, zu denen „the Soviets“ dringend Zugang wünschten (S. 153). Der nächste Schritt war dann, so Sanchez-Sibony, dass die Sowjetunion begann, sich Kredite auszubedingen, die die gewährten Dollar nicht an den Kauf von Röhren banden, sondern ihnen freie Verfügung über die harte Währung erlaubte (S. 162). Als 1974 die Ölkrise kam, stand der Markt und die Sowjetunion war sein Bannerträger, so Sanchez-Sibony (S. 171).
Im fünften Kapitel zu Frankreich betont Sanchez-Sibony abermals, dass der Handel Handel gewesen sei und nichts mit politischer Annäherung oder Entspannungspolitik zu tun gehabt habe (S. 172). Er führt aus, wie Frankreich die Sowjetunion nutzte, um US-Monopole zu umgehen, sehr wohl verstand, dass es der UdSSR in erster Linie um Finanzen ging, aber eben selbst genügend andere Gasquellen hatte, so dass sich ein Deal verzögerte (S. 191, S. 201f.). Dabei entgeht Sanchez-Sibony, dass sich der Abschluss auch deshalb verzögerte, weil der Präsident Georges Pompidou darauf bestand, in jeden Schritt einbezogen zu werden.8 Obwohl Sanchez-Sibony auf die Fünfjahres-Handelsabkommen eingeht und ausführt, dass Frankreich stets auf einer Institutionalisierung der Beziehungen bestand, sagt er nichts über die Arbeit der Grande Commission, die beide Länder 1966 etablierten.9
Sanchez-Sibony beendet sein Buch mit dem Deal, den schließlich auch Rom und Moskau 1971 unterzeichneten. Damit war der Triumphzug des trojanischen Pferdes „Gas gegen Röhren“, das die Finanzmärkte langfristig sowjetischen Bedingungen unterwarf, perfekt. „Market discourse had long been the medium the Soviets had used to manage relations with the West” (S. 218), so Sanchez-Sibony. Er hat damit ein Buch mit einer erfrischend provokanten These vorgelegt: die Sowjetunion habe nicht nur den Kalten Krieg um den Finanzmarkt gewonnen und Bretton Woods zerstört, sondern der globale Markt habe auch nichts mit Geostrategie oder Entspannungspolitik zu tun gehabt. Hier hätte ihn allerdings eine genauere Lektüre der vorhandenen Literatur und die Recherche in weiteren Archiven vor seinen verkürzten Urteilen bewahrt. Politik spielte fast immer auch eine Rolle. Sicher werden auch alle Bretton-Woods-Spezialist:innen auf die Auswirkungen des Vietnamkriegs auf den Dollar-Verfall verweisen, der hier überhaupt nicht erwähnt wird.10 Dennoch ist Sanchez-Sibonys Buch ein wichtiges Stück Forschung, die Neuinterpretation einer bekannten Geschichte und das leidenschaftliche Plädoyer, die Sowjetunion als globalen Marktplayer endlich ernst zu nehmen.
Anmerkungen:
1 Oscar Sanchez-Sibony, Red Globalization. The Political Economy of the Soviet Cold War from Stalin to Khrushchev, Cambridge 2014.
2 Per Högselius, Red Gas. Russia and the Origins of European Energy Dependence, New York 2013.
3 Elisabetta Bini, A Challenge to Cold War Energy Politics? The US and Italy’s Relations with the Soviet Union, 1958–1969, in: Jeronim Perović (Hrsg.), Cold War Energy. A Transnational History of Soviet Oil and Gas, Cham 2016, S. 201–230.
4 Susanne Schattenberg, Pipeline Construction as “Soft Power” in Foreign Policy. Why the Soviet Union Started to Sell Gas to West Germany, 1966–1970, in: The Journal of Modern European History, 20 (2022), S. 554–573, hier S. 559–561.
5 Högselius, Red Gas, darin Kapitel 4: “Austria: The Pioneer”, S. 45–66; siehe auch Thane Gustafson, The Bridge. Natural Gas in a Redivided Europe, Cambridge, Mass. 2020.
6 Susanne Schattenberg, Von Schlössern und Touristen, oder: Wie Österreich in die EWG wollte und sowjetisches Gas bekam (1966–1968), in: Christoph Augustynowicz u.a. (Hrsg.), Perlen geschichtswissenschaftlicher Reflexion. Östliches Europa, sozialgeschichtliche Interventionen, imperiale Vergleiche, Göttingen 2022, S. 213–220.
7 Schattenberg, Pipeline Construction as “Soft Power”, hier S. 562f.
8 Alain Beltran / Jean-Pierre Williot, Gaz de France and Soviet Natural Gas: Balancing Technological Constraints with Political Considerations, 1950s to 19080s, in: Perovic (Hrsg.), Cold
War Energy, S. 231–252, hier S. 237f.
9 Marie-Pierre Rey, La tentation du rapprochement France et URSS à l'heure de la détente, 1964–1974, Paris 1992, S. 273ff. Auch die Arbeit von Sophie Lambroschini über die sowjetischen Banker im Ausland scheint Sanchez-Sibony nicht zu kennen: Sophie Lambroschini, Deviant and Patriotic: Rogue Soviet International Banking Practices and the Blurred Boundaries of Corporate Norms. The Collapse of the Soviet Bank in Zurich, 1982–1986, in: Cahiers du monde russe 64,1 (2023), S. 171–198.
10 Michael D. Bordo, The Operation and Demise of the Bretton Woods System, 1958 to 1971, Cambridge, Mass. 2017.