Chinas Bedeutung für die internationale Geschichte nach 1945 ist unstrittig. Beijings Politik formte Prozesse des Kalten Kriegs wesentlich mit. Zudem entwickelte China in enger Verflechtung damit eigene Perspektiven auf Dekolonisierung und postkolonialen Nord-Süd-Gegensatz. Chinesische Aktivitäten – oder Passivität – gewannen zunehmend an Gewicht, wenn es um grenzüberschreitende wirtschafts-, umwelt- und sicherheitspolitische Herausforderungen ging. Allerdings stellen für zahlreiche Fragestellungen der Internationalen Geschichte detaillierte, multiarchivalisch gesättigte historische Aufarbeitungen der Positionen und Entscheidungsfindungsprozesse von Mao Zedong bis Xi Jinping weiterhin Desiderata dar. Dies liegt auch am ungenügenden Archivzugang in China (S. 237).
Die Lücken betreffen unter anderem Schlüsselmomente des Kalten Kriegs in Asien, die eng mit allgemeinen chinesisch-amerikanischen und chinesisch-sowjetischen Konfliktlinien verflochten waren.1 Von daher können es Historikerinnen und Historiker, die sich wie ich mit der Internationalen Geschichte dieser Jahre befassen, nur begrüßen, wenn historische Analysen sowie historisch untermauerte politikwissenschaftliche Darstellungen zusätzliches chinesisches Aktenmaterial vermitteln und chinesische Sichtweisen aufzuhellen versprechen.
Das neue Werk des Politologen Yuxing Huang bietet solche Einblicke und Denkanstöße. Der Autor ist Associate Professor im Department of International Relations der Tsinghua-Universität, einer der neun besten und finanzstärksten Universitäten des Landes. Man wird der Monographie nicht gerecht, wenn man sie nach offiziellen politischen Standpunkten durchkämmen wollte. Allerdings regt die Lektüre zu Überlegungen über gültige bzw. sagbare Geschichtsbilder und Terminologien in China an. Auch hier tritt die Selbstgewissheit hervor, mit der Beijing „als sozialistisches Land“ zugleich Internationalismus und „Patriotismus“ hochhält (S. 5). Der Darstellung zufolge haben nach dem Zweiten Weltkrieg (allein) die USA Spannungen in Ostasien gefördert (S. 14). Die UdSSR wurde ab den späten 1950er-Jahren aufgrund ihrer Differenzen mit Beijing zu einem „indirekten Alliierten der Feinde Chinas“ (S. 77).
Huang entwickelt in seiner Studie auf vergleichsweise breiter empirischer Basis eine „competition theory“ für regionale Beziehungen (S. 182). Er wendet sie nach einer ausführlichen Herleitung für ausgewählte Zeitabschnitte auf die drei Regionen maritimes Ostasien (1955–1965), Südasien (1955–1963) und Indochina (1962–1975) an. Das letzte Kapitel nutzt die Theorie für eine Analyse der „Regionaldiplomatie in der neuen Ära“ (S. 155) im Südchinesischen Meer und in Südasien. Für Huang ist China eine „regionale Großmacht in Asien“, die USA und Russland dagegen sind „globale Militärmächte“, wenn auch mit Verfallserscheinungen gerade der USA (S. 159–161).
Das historische Material der Hauptstudien schöpft aus einer beeindruckenden Vielzahl von Quellen: Neben freigegebenen Beständen des Archivs des Außenministeriums der Volksrepublik und unveröffentlichten Quellensammlungen in der Bibliothek der Universität des Außenministeriums sind hier Sammlungen zahlreicher Provinz- und Lokalarchive zu nennen. Dazu kommen zentrale Bestände amerikanischer Provenienz – überraschenderweise ohne die Eisenhower Presidential Library –, Sammlungen chinesischer Dokumente etwa der Volksbefreiungsarmee, die sich in amerikanischen Einrichtungen befinden, sowie Seitenblicke aus dem Bundesarchiv und sogar aus dem NATO-Archiv.
Auf dieser Grundlage bieten die konkreten Analysen relevante Einsichten, auch wenn das Forschungsdesign unter anderem Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen regionalen Entwicklungen nicht erfasst. In der hohen Politik wird in Chinas Verhältnis zu Japan und Taiwan erneut deutlich, dass sich Beijing Mitte der 1950er-Jahre in der Außenpolitik von sowjetischen Leitlinien und Interessen emanzipierte. Mao konnte sich 1957 eigener Aussage zufolge vorstellen, den chinesischen Vertrag mit der UdSSR von 1950 auszuhöhlen, um die amerikanische Präsenz in Japan zu schwächen (S. 66). Auf der anderen Seite registrierte China äußerst sensibel alle Anzeichen dafür, dass Moskau eine friedliche Koexistenz von China und Taiwan akzeptieren würde. Negativ wurde auch vermerkt, dass die UdSSR in den 1950er-Jahren die Vorteile einer chinesisch-sowjetischen Nuklearkooperation gegen die Gefahren einer japanischen Nuklearrüstung abzuwägen schien (S. 70–71). Allerdings bot Nikita Chruščev 1958 während der zweiten Taiwankrise laut chinesischen Quellen Beijing Bomber und Piloten an. Mao witterte verdeckte sowjetische Ansprüche auf Mitsprache in chinesischen Angelegenheiten und reagierte extrem zurückhaltend. Schon bald kommunizierte er seine grundsätzlichen Vorbehalte weitaus aggressiver (S. 74). Dasselbe Misstrauen durchzog die chinesische Politik in Südostasien nach 1965. Beijing fürchtete hier mitunter Einflussgewinne der UdSSR durch Verhandlungslösungen nicht weniger als amerikanische militärische Erfolge (S. 133–137, S. 146). In Südasien schließlich hatte sich China schon früh zu einem wesentlichen Absatzmarkt für die pakistanische Baumwollproduktion entwickelt. Dies eröffnete in der Region gegenüber amerikanischen, britischen und sowjetischen Interessen weiteren Handlungsspielraum. Selbst die Moskauer Diplomatie ging nach Karachis Beitritt zu CENTO und SEATO vorübergehend davon aus, dass chinesische Repräsentanten größere Chancen hätten, die pakistanische Außenpolitik zugunsten des sozialistischen Lagers zu beeinflussen (S. 95).
Am theoretischen Zugriff Huangs sind zahlreiche Aspekte beachtenswert. Kurzgefasst hing und hängt seiner Theorie zufolge der chinesische Umgang mit schwächeren Staaten in einer Nachbarregion von der Zahl der um diese Region konkurrierenden Großmächte und den dort vorhandenen chinesischen formalen oder informellen Allianzen ab: Die unterschiedlichen Konstellationen führen demnach entweder zu einheitlich oder unterschiedlich gestalteten Beziehungen Beijings zu den benachbarten Einzelstaaten.
Damit erscheinen die bilateralen Verbindungen Chinas als ein Instrument, mit dem sich Beijing gegen die USA und die UdSSR – exklusiven – Einfluss auf die Nachbarn bewahren wollte. In dieser Interpretation, die sich eng an realistischen Denkschulen orientiert, bediente sich die Volksrepublik bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren einer marxistisch-leninistischen Rhetorik, ohne in ihrer Politik stets die ideologischen Postulate zu beachten. Allerdings spielten beispielsweise im Verhältnis zu Indien Anfang der 1960er-Jahre ideologische Inhalte durchaus eine gewichtige Rolle: Die Regierung Nehru wende sich von der Friedenspolitik ab, erläuterte Zhou Enlai nach dem Krieg 1962 mongolischen Besuchern: „Wir müssen die Bedrohung und Gefahr des Imperialismus verstehen.“ (S. 121) Welche Balance die chinesische Politik bis heute zwischen grundlegenden Normen des Völkerrechts, marxistisch-leninistischer Ideologie und „traditioneller chinesischer Staatskunst“, zwischen taktischer Flexibilität und strategischer Unbeweglichkeit anstrebt, wird noch genauer zu ergründen sein.
Huang definiert eine Großmacht als „Nationalstaat mit unabhängigen“, innerhalb einer gegebenen Region überlegenen „offensiven militärischen Fähigkeiten“. Diese sowie die Gewährung von Auslandshilfen betrachtet der Autor als die zwei wesentlichen Mittel im Wettbewerb der Großmächte (S. 8–9, S. 20, S. 47). Weitergehende historische Analysen werden die Bedeutung von internationaler Soft Power und die eigentlichen staatlichen Eigenschaften der Volksrepublik ausführlicher diskutieren. Es ist von besonderer Bedeutung, dass dem Autor zufolge die chinesischen Führungen ab 1949 in ihren Beziehungen zu den Nachbarstaaten von traditionellen, statisch sino-zentrischen Machthierarchien ausgingen, und der Autor formuliert seine Theorie offenbar entlang dieser Grundposition (S. 3–5). Somit bleiben Vorstellungen und Ziele der Peripherien in der Interpretation außen vor. Die Ausrichtung an Beijing war für viele dieser Staaten weder eine Selbstverständlichkeit noch wünschenswert: Das galt für Indien ebenso wie für Japan und Vietnam, um besonders markante Gegenbeispiele zu nennen. Sie und andere suchten nach 1945 immer wieder nach nicht-chinesischen Gegenkräften. Daneben glätten die Vorannahmen Huangs weitgehend Nuancen, Widersprüche und Entwicklungsstufen im jeweiligen Verhältnis zu Washington und Moskau. Die Prämissen lassen zudem keinen Raum für die Diskussion von Chancen einer systemüberwölbenden Zusammenarbeit zwischen den Staaten. Internationale Ordnungsvorstellungen, in denen souveräne Staaten auf völkerrechtlicher Basis in internationalen Organisationen und Regimen gleichberechtigt und ausgleichend zusammenwirken, finden keinen Widerhall.
In diesem Rahmen von Machtkonkurrenzen und Nullsummenspielen hat der chinesische Aufstieg, so ein Fazit der Studie, die „steten chinesischen Sicherheitsprobleme nicht“ gelöst, aber sowohl das Machtgefälle zwischen Beijing und den meisten seiner Nachbarn ausgeweitet und das zwischen China und den USA verringert (S. 178). Für die weitere theoretische Diskussion in den Internationalen Beziehungen und in der Internationalen Geschichte sind andere Befunde der Arbeit anregender, nämlich die (erneute) Frage, inwieweit die gängigen Theoriegebäude in den Fächern tatsächlich global denken und damit unterschiedliche historische Erfahrungen aufnehmen können oder ob sie doch weiterhin eurozentrischen Ordnungsmustern Vorrang einräumen und damit an Erkenntniswert für globale Fragestellungen verlieren (S. 184–186). Inwieweit derlei Debatten emanzipatorische Anliegen verfolgen oder an hegemoniale Ideen gebunden sind, sei dahingestellt. Der Aufruf des Autors, in Theorie und Praxis der Internationalen Beziehungen – und implizit der Internationalen Geschichte – bislang unterpräsentierte Regionen stärker einzubeziehen, indem man vergleichende Zugänge und multidisziplinäre Kooperationen intensiviert, verdient jede Unterstützung (S. 187). Es wird darauf zu achten sein, dass der Austausch alle Perspektiven auf Augenhöhe aufnimmt und auf solider Quellenbasis geführt werden kann.
Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Lorenz Lüthi, Cold Wars. Asia, the Middle East, Europe, Cambridge 2020.