Die Beschäftigung mit der Geschichte grenzüberschreitender Interaktionen in der Moderne hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt gewonnen. Neben der Erforschung wirtschaftlicher Zusammenhänge, politischer Strukturen oder transnationaler Bewegungen rücken zunehmend globale Netze und die dahinter stehenden Individuen und Gruppen in den Blick der Forschung. Im Zentrum solcher Analysen steht das individuelle Handeln und die Frage, inwieweit einzelne Akteure treibende Kräfte von Prozessen globaler Integration sein können und welche Bedeutung ihnen jeweils für die Genese und Transformation sozialer, kultureller, politischer oder wirtschaftlicher Zusammenhänge zukommt. Der vorliegende, von den australischen Historikerinnen Desley Deacon, Penny Russel und Angela Woollacott herausgegebene Band nimmt genau diese Forschungsfragen auf, zu denen in den letzten Jahren bereits eine ganze Reihe von Studien erschienen sind.1 Das Ziel des Bandes ist es, das geschichtswissenschaftliche Genre der Biographie zu transnationalisieren. Das heißt, der biographische Zugriff soll aus der oftmals vorherrschenden Konzentration auf nationale Kontexte gelöst werden, um seine Tauglichkeit für die Analyse grenzüberschreitender Beziehungen zu erproben und die Grenzen einer kulturgeschichtlichen Herangehensweise an die Untersuchung globaler Zusammenhänge auszuloten. Zu diesem Zweck, versammelt der Band 21 biographische Fallstudien, vornehmlich von Historikern aus Australien und den USA mit einem entsprechenden Schwerpunkt auf dem British Empire und Nordamerika.
Der Beschäftigung mit den transnationalen Biographien legen die Herausgeber zwei Annahmen zugrunde. Erstens gehen sie davon aus, dass die bisherige Biographieforschung mit der Konzentration auf nationale Funktionsträger ein substantiell verkürztes Bild moderner Lebensläufe vorgelegt hat, das primär die Vorgaben nationaler Meistererzählungen bediente, statt die tatsächlichen Ausmaße individueller Werdegänge in der Moderne zu reflektieren. Dementsprechend gehen die Autoren davon aus, dass globale Lebensläufe wegen ihrer Komplexität und der Tendenz, sich eindeutigen Kategorisierungen zu entziehen, im Rahmen nationaler Untersuchungsdesigns unsichtbar bleiben. Die Aufgabe eines transnationalen Ansatzes besteht darin, ein theoretisches und methodisches Instrumentarium zu erarbeiten, das die geschichtswissenschaftlichen Analysekategorien im Genre der Biographie kritisch reflektiert und es erlaubt, Lebensläufe außerhalb gängiger nationaler und internationaler Klassifikationsmuster ans Licht zu bringen. Zweitens ist damit die Kombination von bekannten Personen mit den Geschichten subalterner Lebensläufe verknüpft in der Annahme, dass es gerade die vermeintlich randständigen Individuen und Gruppen waren, die als Sklaven oder unfreie Arbeiter, als politische Aktivisten der zweiten Reihe, als Reisende oder auch als Hochstapler zur Herausbildung einer global vernetzten Moderne maßgeblich beigetragen haben.
Die teilweise sehr kurzen und bisweilen noch im Vortragsstil gefassten Beiträge sind in vier großen Abschnitten angeordnet. Der erste Abschnitt „Writing Lives Transnationally“ widmet sich grundsätzlichen methodischen Herausforderungen, mit denen die geschichtswissenschaftliche Erforschung transnationaler Lebensläufe umzugehen hat. Die Beiträge von Martha Hodes und Pamela Scully stellen die Frage, wie transnationale Biographien unter den Bedingungen einseitiger oder nur lückenhafter archivarischer Überlieferung geschrieben werden können, welche erkenntnistheoretischen Probleme fragmentierte Lebensläufe für globale Narrative mit sich bringen und wie das Spannungsverhältnis zwischen alltäglichen Handlungen und globalen Bezügen methodisch gelöst werden kann. Penny van Toorn und Michael A. McDonnell setzen sich in ihren Beiträgen mit den problematischen Implikationen eindeutiger Zuschreibungen auseinander, indem sie zeigen, dass die Anwendung geschlechtsspezifischer, sozialer oder politischer Analysebegriffe auf die jeweiligen Biographien oftmals das Risiko birgt, die Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen Gruppen zu verdecken.
Unter der Überschrift „Opportunities“ werden in der zweiten Sektion Migration und der Wechsel des sozialen und kulturellen Umfelds als Möglichkeiten begriffen, Brüche in der eigenen Biographie absichtlich herbeizuführen, um entweder soziale und ethnische Herkunft zu verleugnen oder diese durch eine andere Herkunftserzählung zu ersetzen, sobald diese in einem neuen gesellschaftlichen Kontext mehr Erfolg zu versprechen scheint. Beispiele dafür sind der britische Hochstapler John Dow in Australien oder die Musiker Cliff Richards und Engelbert Humperdinck, die beide in Indien geboren wurden, als Kinder nach Großbritannien kamen und dort im Zuge ihrer musikalischen Karriere nicht nur die Namen wechselten, sondern zudem bis an ihr Lebensende die Erzählung aufrechterhielten, aus englischen Kleinstädten zu stammen. Die Aufsätze von Cecilia Morgan und Penny von Eschen zeigen, wie die kanadische Schauspielerin Margaret Anglin und die afroamerikanische Tänzerin Katherine Dunham ihre Engagements in Europa, Nordamerika und teilweise auch Afrika nutzten, um die Bühne in einen Ort pluraler Identitätskonstruktionen zu verwandeln in der Absicht, rassenpolitische, geschlechtsspezifische und soziale Grenzen infrage zu stellen und neu zu definieren.
Der Abschnitt „Quests“ geht den Spuren subalterner Lebensläufe nach. Geographische Mobilität und die Transgression politischer und sozialer Normen werden hier als Resultat schwieriger Lebenssituationen interpretiert, aus denen die Protagonisten einen Ausweg suchen, indem sie Unterstützung im Ausland suchen oder dahin gehen, um ihren Appellen mehr Gehör zu verschaffen. Beispiele für eine solche Biographie, die von den Herausgebern an sich bereits als Akt des Widerstands interpretiert werden, sind der australische Aktivist Anthony Martin Fernando, der trotz massiver Restriktionen am Ende des 19. Jahrhunderts nach Europa und insbesondere in die Schweiz reiste, um dort Unterstützung für die Gründung eines selbstregierten und unter europäischem Mandat stehenden Reservats für die Aborigines Unterstützung suchte.
Die letzten Beiträge in der Sektion „Cosmopolitanism“ beschäftigen sich mit der Personengruppe, die sich bewusst nationaler Zuschreibungen entzieht und sich stattdessen als „citizens of the world“ begreift. Das Augenmerk liegt einerseits auf den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kosmopolitismus durch die Verschärfung oder Lockerung von Rechten möglich oder unmöglich machen, und andererseits auf der Art und Weise, wie Wissenschaftler, Künstler oder Schriftsteller (beispielsweise Rosita Forbes) sich als globale Subjekte verstehen und inszenieren.
Der Band bietet dem interessierten Leser eine Fülle von Material und eine große Bandbreite biographischer Fallstudien, die unterschiedlichen Aspekten transnationaler Biographien nachgehen und diese exemplarisch erkunden. Allerdings haben die Herausgeber darauf verzichtet, die Fallstudien zu systematisieren und einen übergeordneten Analyserahmen zur Diskussion zu stellen. Diese Aufgabe bleibt dem Leser überlassen, dem es obliegt, die Fülle der vorgestellten Lebensläufe so zu fassen, dass Tendenzen, Muster oder Formen transnationaler Mobilität und individuellen Handelns analytisch erfassbar werden. Diese Aufgabe wird bei einigen Beiträgen des Bandes zu einer wirklichen Herausforderung, weil die vielen Facetten der bisweilen komplexen Biographien eine narrative Darstellung mit sich bringen, die Systematisierung und Vergleichbarkeit erschwert. Auf der anderen Seite liegt die Stärke des Bandes in den vielen Biographien und der aufschlussreichen Mischung bekannter Personen mit mehr oder weniger bekannten Lebensläufen und den „subaltern lives“. Denn gerade hier zeigt sich, dass die Überschreitung geographischer und politischer Grenzen und die Transformation sozialer oder kultureller Normen die Akteure trotz unterschiedlicher Lebensbedingungen vor ähnliche Schwierigkeiten stellte. Gleichermaßen zögerlich nähert sich der Band der grundsätzlich Frage, wie die Verschränkung von lokalen, regionalen, nationalen und transnationalen Kontexten in einem Lebenslauf sowie die oftmals lückenhafte archivalische Überlieferung im Fall von historisch auf den ersten Blick unscheinbaren Personen methodisch sinnvoll aufgearbeitet werden kann. Die Aufsätze von Martha Hodes und Pamela Scully liefern hier erste Ansatzpunkte, aber sie zeigen auch, dass die Erforschung individueller Lebensläufe in einem globalen Kontext erst an ihrem Anfang steht.
Anmerkung:
1 Glenda Sluga / Julia Horne (Hrsg.), Cosmopolitanism. Its Past and Practices, in: Journal of World History 21 (2010) 3; David Lambert / Alan Lester (Hrsg.), Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge 2006; Bernd Hausberger (Hrsg.), Globale Lebensläufe. Menschen als Akteure im weltgeschichtlichen Geschehen, Wien 2006; Tony Balantyne / Antoinette Burton (Hrsg.), Moving Subjects: Gender, Mobility, and Intimacy in an Age of Global Empire, Urbana, IL 2008.