Die Erforschung der Herausbildung nationaler Identitäten und ihrer gesellschaftlichen Verankerung hat mit dem linguistic turn und der Verbreitung postmoderner Zugänge nicht nur deutlich an Relevanz gewonnen, sondern auch eine neue perspektivische Dimension erhalten. In Abgrenzung zur Nationalismusforschung1 und vor dem Hintergrund der transnationalen Verflechtungsgeschichte werden Nationen als diskursanalytisch dechiffrierbare Konstrukte betrachtet. Dass diese Perspektive gewinnbringend auf die Historiografiegeschichtsschreibung angewandt werden kann, bezeugt der von Stefan Berger und Chris Lorenz herausgegebene Sammelband, der als Teil einer Buchserie fungiert2, die sich die transnationale und vergleichende Erforschung der europäischen Geschichtswissenschaft seit dem 18. Jahrhundert zum Ziel gesetzt hat.
Im Kontext dieser Reihe untersucht der Band in 21 Einzelbeiträgen die Konstruktion nationaler Narrative anhand einzelner Historiker und historiografischer Schulen mittels „an in-depth analysis of representational or narrative strategies in individual cases or comparative setup“ (S. 4), wobei den prominentesten Historikern Europas zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert besondere Beachtung geschenkt werden sollte. Die theoretische und methodologische Klammer des Bandes folgt dem Paradigma der „narratological analysis“ (S. 28) historiografischer Texte, wie Jan Eckert in seinem Beitrag unter Auseinandersetzung mit den Konzepten Hayden Whites darlegt. Hier werden auch jene wesentlichen Analysekriterien exponiert, welche die folgenden Aufsätze in einer für einen Sammelband beeindruckenden Stringenz prägen: Diese reichen von der Herausarbeitung „narrativer Muster“ (S. 31) von Texten unter Berücksichtigung stilistischer Elemente über die Position des Autors bis hin zur „zeitlichen Konfiguration“ (S. 35) des Textes – beispielsweise der Frage von chronologischer versus systematischer Ordnung sowie des Verhältnisses von erzählter Zeit und Erzählzeit. Ein weiteres Kriterium, das Eckert nicht explizit erwähnt, ist die Intertextualität historiografischer Arbeiten.
Dieses analytische Prisma dient als Methode, die Konstruktion unterschiedlicher nationaler Narrative in verschiedenen europäischen Staaten zwischen dem ausgehenden 18. und späten 20. Jahrhundert sichtbar zu machen und zieht sich als roter Faden durch das Buch, auch wenn sich die einzelnen Beiträge durch unterschiedliche Akzentsetzungen kennzeichnen.
Inhaltlich lassen sich dabei folgende übergreifende Fragestellungen und Analyselinien herausfiltern. Eine Reihe von Texten thematisiert nationalhistorische Narrative in ihrem Verhältnis zum politisch-weltanschaulichen Hintergrund der AutorInnen als einem bestimmten Aspekt der Subjektivität von HistorikerInnen. Eine Form dieser Beziehung findet sich in der Umkodierung der religiösen Figuren Jeanne d’Arc und Jan Hus in nationalliberale Symbole des späten 19. Jahrhunderts, wie Monika Báar anhand der Arbeiten Jules Michelets und František Palackýs zeigt. Beide Historiker entkleideten die historischen Figuren ihres religiösen Deutungskontexts und identifizierten sie als Personifikationen jener Werte und Charakteristika, die sie in den zeitgenössischen Nationalbewegungen – der französischen bzw. der tschechischen – orteten. Árpád von Klimó arbeitet anhand der „liberalen Meistererzählungen“ Gyula Szekfűs und Benedetto Croces einen noch viel engeren Zusammenhang zwischen politischen Ideologien und nationalen Narrativen heraus, während Marc Caball den Einfluss von religiösem Hintergrund, sozialem Status und parteipolitischer Ideologie auf die Konstruktion der irischen Nationalgeschichte im späten 19. Jahrhundert nachweist. Thomas Welskopp und Pavel Kolář arbeiten die Persistenz nationaler Narrative und ihre Verbindung mit dem Klassendiskurs in den Arbeiten marxistisch geprägter Historiker heraus. Hugo Frey und Stefan Jordan sowie Peter Schöttler untersuchen die Reaktion von Historikern auf den Ersten und Zweiten Weltkrieg: Während es im ersten Fall nach 1945 zu einer Neukonzeption von Nationalgeschichten kam (bei Robert Aron und Friedrich Meineke), so suchten Henri Pirenne und Marc Bloch mittels einer Neukonzeption ihrer Disziplin durch einen komparativen Ansatz, die Relativierung nationaler Narrative sowie die politische Reflexion einen Ausweg aus der durch die Weltkriege entstandenen intellektuellen Krisensituation.
Das Beispiel von Pirenne und Bloch verweist auf die Frage der transnationalen Perspektive historiografischer Texte, die sich als zweite große Linie des Bandes fassen lässt. Während Pirenne und in seinem Gefolge auch Bloch die Nationalgeschichtsschreibung öffnen wollten, um sie gegen nationalistische und rassistische Instrumentalisierungen zu immunisieren, sahen portugiesische und spanische Historiker um die Jahrhundertwende im Konzept einer „iberischen Zivilisation“ den Ausweg aus der Schwächung der jeweiligen Nation im Zuge (post-) imperialer Krisensituationen. Wie Xosé Manoel Núñez aufzeigt, war dieses Konzept erneut von hierarchischen Konzeptionen gekennzeichnet – gegenüber den ehemaligen amerikanischen Kolonien ebenso wie teilweise auch seitens Spaniens gegenüber Portugal. Ebenso wenig frei von nationalistischen Hegemonieansprüchen waren die Narrative der Historiografie des „Hochimperialismus“ im Russischen Reich und dem Vereinigten Königreich im späten 19. Jahrhundert, was der Konzeptualisierung einer transnationalen bzw. multikulturellen imperialen Identität deutliche Grenzen setzte (Andrew Mycock/Martina Loskoutova). Diesem Muster entsprechend kam es nach der Dekolonisierung zu einer weitgehenden Verdrängung nicht nur der imperialen Vergangenheit, sondern auch der Kolonialgeschichte aus dem Diskurs in Frankreich und Großbritannien, da dies den nationalen Selbstverständnissen entgegenstand (Robert Aldrich/Stuart Ward). Die Nationalisierung imperialer Vergangenheit untersucht Effi Gazi am Beispiel der Integration des gemeinsamen Erbes des mittelalterlichen Byzanz in die Narrative der griechischen und rumänischen Nationalgeschichte im späten 19. Jahrhundert. John L. Harvey und Jan Ifversen gehen der Konstruktion eines europäischen Geschichtsnarratives im frühen bzw. späten 20. Jahrhundert nach und weisen auf die mitunter präsente Konzeption einer hierarchischen Kulturgeografie (mental mapping) insbesondere gegenüber Osteuropa hin, ohne dies jedoch in bekannten empirischen Forschungssträngen3 oder dem Postkolonialismusparadigma4 zu verorten.
Neben der Untersuchung von Identitäten im Spannungsfeld von nationalen Grenzen und ihrer Überschreitung kreiert eine Reihe von Beiträgen selbst einen internationalen historiografischen Diskursraum, indem ein Phänomen im Spiegel von geschichtswissenschaftlichen Arbeiten aus unterschiedlichen Ländern untersucht wird. Jörg Hackmann analysiert verschiedene Konzepte zur estnischen Identität im Lauf des 20. Jahrhunderts, Geneviève Warland nimmt die Untersuchung der Religionskriege des 17. Jahrhunderts in den Werken liberaler Historiker aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Deutschland um die Jahrhundertwende in den Blick und David Laven stellt multiple Lesarten zur Geschichte des mittelalterlichen Lombardenbunds im frühen 19. Jahrhundert vor.
Eine weitere Linie des Bandes umfasst Vergleiche nationaler Historiografien, wie sie Chris Lorenz mit der Analyse von zeitlicher Konfiguration und Brüchen in der deutschen und kanadischen Geschichtsschreibung entwickelt. Angelika Epple stellt die epistemologischen Grundlagen von historischen Werke der Aufklärung in Großbritannien und Deutschland gegenüber und Ilona Pikkanen analysiert den Entwurf nationaler Theatergeschichten in Finnland und Norwegen. Stefan Bergers Beitrag zeigt anhand der Werke Heinrich August Winklers und Norman Davies’ die Problematik re-nationalisierender Geschichtsnarrative im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert auf und weist darauf hin, dass die Dekonstruktion nationaler Identitäten innerhalb des geschichtswissenschaftlichen Diskurses weder einem unumstrittenen Konsens noch einer linearen Homogenität folgt.
In Summe bietet der Band ein Kaleidoskop an Beispielen für die Konstruktion nationaler Geschichtsnarrative, aber auch für ihre Überschreitung durch transnationale und transkulturelle Perspektiven, die jedoch keineswegs frei von der Festschreibung von hierarchischen Beziehungen sind und mitunter auch der Festigung nationaler Identitäten dienen. Die profund recherchierten und mit ausführlichen Literatur- und Quellenverweisen versehenen Beiträge stellen nicht nur neue Lesarten der europäischen Historiografiegeschichte vor und regen zum weiteren Nachlesen an, sondern bieten auch Impulse für die (Selbst-)Reflexion von HistorikerInnen und der metanarrativen Implikationen ihrer eigenen Arbeiten.
Kritisch bleibt anzumerken, dass die geografische Dimension der Beiträge jenes West-Ost-Gefälle innerhalb Europas reproduziert, deren Aufhebung eine dezidierte Zielsetzung der Buchreihe darstellt5: Der Fokus des Bandes liegt deutlich in Westeuropa und die Überrepräsentation der analysierten historiografischen Narrative aus dem Vereinigten Königreich, Irland, Deutschland und Frankreich kontrastiert scharf mit einer dünnen Präsenz von Süd-, Nord- und Zentraleuropa, während bei den nur marginal vorhandenen osteuropäischen Ländern die Abwesenheit südosteuropäischer Länder (mit Ausnahme Rumäniens und Griechenlands) sowie der Ukraine und Polens besonders hervorsticht. Dieses räumliche Ungleichgewicht geht mit inhaltlichen Konzentrationen einher – so wird das Werk Henri Pirennes in vier Beiträgen (Lorenz, Leerssen, Warland, Schöttler), jenes von Marc Bloch in zwei (Lorenz, Schöttler) thematisiert. Auch wenn es dabei zu produktiven Überlappungen und Verzahnungen kommt, wäre eine breitere Streuung im Sinn der Fokussierung eines tatsächlichen europaweiten Untersuchungsfeldes wünschenswert. Weiterhin ist festzuhalten, dass die im dritten Band der Serie prominent firmierende Gender-Perspektive in diesem Band fast gänzlich abwesend ist: Historikerinnen werden kaum untersucht, während das Verhältnis von gender studies und nationalen Narrativen gar nicht aufgegriffen wird. Ebenso überrascht die weitgehende Absenz der postkolonialen Perspektive (bis auf vereinzelte Verweise auf Dipesh Chakrabarty), selbst in den Beiträgen, die sich mit Imperiengeschichte befassen, während die in mehreren Beiträgen angedeuteten Transferprozesse zwischen Historikern und Schulen stärker akzentuiert hätten werden können – gerade auch im Sinn der in der Einleitung erwähnten Intertextualität.
Anmerkungen:
1 Z.B. Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Ithaca 1983; Anthony D. Smith, Nationalism and Modernism: A Critical Survey of Recent Theories of Nations and Nationalism, London 1998.
2 Stefan Berger / Christoph Conrad / Guy P. Marchal (eds), Writing the Nation: National Historiographies and the Making of Nation States in 19th and 20th Century Europe, 8 Bände, Basingstoke 2008-2011.
3 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The map of civilization on the mind of the Enlightenment, Stanford 1995.
4 Johannes Feichtinger / Ursula Prutsch / Moritz Csáky (Hrsg.), Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, Innsbruck 2003.
5 So heißt es bei der Vorstellung der Reihe auf S.i des Bandes, diese „will bring together the histories of Western and Eastern Europe in an attempt to bridge the historiographical divide cemented by the long division of the continent by the Cold War“.