Sexuelle Gewalt in Kriegszeiten war lange Zeit nicht von Interesse für die geschichtswissenschaftliche Forschung. Studien zu diesem Thema erschienen eher aus der Feder feministischer AktivistInnen wie Susan Brownmiller, deren populärwissenschaftliches Buch „Against our Will“ (1975)1 zum Klassiker avancierte, oder von PolitikwissenschaftlerInnen und SoziologInnen. Erst in den vergangenen Jahren widmete sich unter anderem die deutsch- und englischsprachige Forschung dem in dieser Hinsicht untererforschten Zweiten Weltkrieg.2 Auch die beiden hier besprochenen Sammelbände teilen das jüngst erwachte geschichtswissenschaftliche Interesse an sexueller Kriegsgewalt. Der Band „Sexual Violence against Jewish Women during the Holocaust“, herausgegeben von Sonja M. Hedgepeth und Rochelle G. Saidel, erhielt zum Zeitpunkt der Publikation im Jahr 2010 in den Vereinigten Staaten viel öffentliche Aufmerksamkeit. Der Band „Rape in Wartime“, der 2012 von Raphäelle Branche und Fabrice Virgili editiert wurde, ist zeitlich-thematisch breiter angelegt. Beide Bücher liefern interessante Denkanstöße, offenbaren aber auch die enormen methodischen Herausforderungen in der historischen Erforschung von sexueller Gewalt.
Der Band „Rape in Wartime“ geht partiell auf eine im Mai 2009 in Paris abgehaltene Tagung zurück, seine einleitenden Überlegungen sind aber das Ergebnis eines längeren Kooperationsprojektes von HistorikerInnen zu Fragen von Krieg und Geschlecht. Dementsprechend zeichnen gleich sechs AutorInnen für die Einleitung verantwortlich, in der hauptsächlich Fragen hinsichtlich des Forschungsfeldes Krieg und sexuelle Gewalt gestellt und vermeintlich universelle Wahrheiten zum Thema angezweifelt werden. Sexuelle Gewalt in Kriegszeiten sei über lange Zeit als unvermeidbare Begleiterscheinung jeglicher bewaffneter Auseinandersetzung betrachtet worden. Dass Vergewaltigungen zum Krieg gehörten, sei zu einer Art universellen Wahrheit geronnen, die von der geschichtswissenschaftlichen Forschung nicht hinterfragt und historisiert worden sei. Doch die AutorInnen der Einleitung weisen auf die Divergenz unterschiedlicher Erscheinungsformen hin und fragen: „If, however, there are significant variations in the manner, scale and temporality of rapes in wartime, how should we explain and understand these?“ (S. 2). Dementsprechend fordern sie, sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten nicht einfach anzunehmen, sondern zu dokumentieren und zu erklären und geben den Lesenden respektive den Forschenden einen Fragenkatalog an die Hand. Die vierzehn Beiträge haben sehr unterschiedliche Zuschnitte, die Bandbreite der Themen reicht von der russischen Militärgesetzgebung über sexuelle Gewalt seit der Frühen Neuzeit und Studien zu Fakt und Fiktion sexueller Übergriffe im Ersten und Zweiten Weltkrieg inklusive ihrer Vorläufer- und Folgekonflikte bis zu jüngeren kriegerischen Auseinandersetzungen in Tschetschenien, sowie in mehreren afrikanischen Staaten, die summarisch in einem Aufsatz präsentiert werden.
Insgesamt entsprechen die Aufsätze den Forderungen der Einleitung: Sie zeigen verschiedene Erscheinungsformen sexueller Gewalt in unterschiedlichen historischen und aktuellen Konfliktkonstellationen auf. Krieg bedeutet zwar stets Gewalt, aber nicht immer sexuelle Gewalt – wie beispielsweise Tal Nitsán anhand des israelisch-palästinensischen Konflikts argumentiert, wo kaum Übergriffe stattfanden. In anderen Konstellationen gehörten sexuelle Übergriffe jedoch zur Tagesordnung, wie Natalia Suarez Bonilla am Beispiel des kolumbianischen Bürgerkriegs zeigen kann. Sie waren dort Teil eines Spektrums an Gewalt gegen Zivilisten, das Folter und Entführung umfasste und sich in Form von Vergewaltigungen häufig gegen Frauen richtete.
Dass Frauen nicht die alleinigen Opfer von sexueller Kriegsgewalt sind, dass das gesellschaftliche Tabu sehr stark ist und Männer ebenfalls Vergewaltigungsopfer sein können, wird in mehreren Aufsätzen deutlich. Nanaynika Mookherjee begegnete in ihren lebensgeschichtlichen Interviews zum Bangladesch-Krieg 1971 Erzählungen über sexuelle Gewalt westpakistanischer Gruppen gegen bengalische Moslems. Das Ausmaß der sexuellen Gewalt gegen Männer in diesem Krieg sei schwer zu bestimmen. Insgesamt waren Vergewaltigungen eine häufige Erscheinung in dem brutal geführten Krieg: Schätzungen über die Zahl vergewaltigter bengalesischer Frauen reichen von 200.000 bis 400.000. Im neu entstandenen Bangladesch seien sie als Kriegsheldinnen adressiert worden – männliche Opfer sexueller Übergriffe seien dagegen marginalisiert worden. Mookherjee resümiert: „The public silence relating to male rapes stands in marked contrast to the constant evocation of the rape of women.“ (S. 70) So wichtig ihre Beobachtung zur sexuellen Gewalt gegen beide Geschlechter ist, so verkürzt scheint ihre Schlussfolgerung, dass die Adressierung der vergewaltigten bengalischen Frauen als Kriegsheldinnen lediglich eine Schutzfunktion hatte: „to prevent them from being socially ostracised, and attempted to rehabilitate them“ (S. 60). Vielmehr dürften sie auch als Teil eines Opfernarrativs des neu gegründeten Nationalstaates Bangladesch gedient haben: Die geschändete Frau als Symbol für die geschändete Nation ist ein Muster, auf das schon mehrfach verwiesen wurde.3 Analog dazu wird in der bestehenden Literatur die Bestrafung des ethnischen/nationalen Gegners als Motiv für die Vergewaltigungen benannt. In dem Sammelband argumentiert etwa Katherine Stefatos anhand des griechischen Bürgerkriegs 1946 bis 1949, der ebenfalls ein hohes Maß an sexueller Gewalt aufwies, dass Übergriffe auch gegenderte Strafformen für die Frauen des politisch gegnerischen Lagers sein konnten.
Diese Auswahl aus den vierzehn Beiträgen des Bandes zeigt, dass die Gesamtlektüre wichtige Denkanstöße liefern kann, wenngleich die Kriegsdefinition insgesamt sehr weit gefasst ist. Die einzelnen Kapitel sind überwiegend interessante Fallstudien, die jedoch deutlich machen, dass die größte Herausforderung in der historischen Erforschung sexueller Kriegsgewalt die Quellenlage ist. Dunkelziffern sind zumeist hoch, so dass das Ausmaß der Gewalt nur annäherungsweise bestimmt werden kann. Dies macht auch Vergleiche zwischen den Konflikten und Kriegen schwer bis unmöglich. Eine Geschichte von „Rape in Wartime“ zu schreiben, scheint erst einmal und bis auf Weiteres zu heißen, Fragen zu stellen und nicht vorgefertigte Wahrheiten zu wiederholen.
Das Ausmaß sexueller Gewalt während des Holocausts war einer der öffentlichen Diskussionspunkte hinsichtlich des zweiten hier anzuzeigenden Sammelbandes. 2010 haben die Politikwissenschaftlerin Rochelle G. Saidel, die bereits umfangreich zu Aspekten des Holocausts publiziert hat, und die Literaturwissenschaftlerin Sonja M. Hedgepeth einen Band vorgelegt, den sie als das erste englischsprachige Buch zu diesem Thema bezeichnen: „This is the first English-language book to address the sexual violation of Jewish women during the Holocaust, a virtually unexplored subject“ (S. 1). Neben ereignisgeschichtlichen Beiträgen werden hier auch zahlreiche Annäherungen an literarische und kinematografische Erzählungen sexueller Gewalt gegen Jüdinnen vorgestellt. Gleich nach seiner Veröffentlichung im Jahre 2010 bekam das Buch öffentliche Aufmerksamkeit: Überregionale Tageszeitungen berichteten, TV-Features entstanden. Die Medien folgten ihren Logiken der Aufmerksamkeit für historische Themen, wozu gehörte, dass die Chiffre vom vermeintlichen Tabubruch – Einzelforschungen existierten bereits vorher – dankbar aufgenommen und zudem eine gewisse Sensationslust bedient wurde. In der Reaktion auf die öffentliche Rezeption meldeten sich mehrere Holocaustforscher zu Wort, denen diese thematisch enggeführte Diskussion über den Holocaust nicht behagte. Darunter war Lenore Weitzman, die Ende der 1990er-Jahre geschlechtergeschichtliche Fragen erstmals in die Holocaust-Forschung einführte.4 Sie argumentierte, dass sexuelle Gewalt nur einen geringen Prozentsatz der Frauen im Holocaust betroffen haben könne und eine zu starke Betonung der Übergriffe ein verzerrtes Bild liefern würde.5
Quantifizierungen kann der Sammelband nicht liefern, da hierzu die Quellengrundlage fehlt. Dennoch können die Beiträge diverse Muster sexueller Übergriffe herausarbeiten, etwa Gewalt im Versteck durch die Helfer (Zoë Waxmann), durch einheimische Hilfstruppen (zum Beispiel Anatoly Podolsky am Beispiel der Ukraine) oder sexuelle Folter wie erzwungene Nacktheit durch die Deutschen (Nomi Levenkron). Zahlreiche Beiträge stützen sich überwiegend auf Egodokumente, seien es schriftliche Erinnerungen nach dem Kriegsende oder lebensgeschichtliche Interviews. Über 500 Zeugnisse aus dem Visual History Archive an der University of Southern California enthalten Berichte sexueller Gewalt, verübt von Deutschen, ihren Hilfstruppen, einheimischen Rettern oder auch innerhalb der Ghetto- und Lagergesellschaften, so Hedgepeth und Saidel in ihrer Einleitung. Manchen BeiträgerInnen gelingt es ausgezeichnet, die Narrative der sexuellen Gewalt in lebensgeschichtlichen Interviews zu entschlüsseln. So geht etwa Monika Flaschka überzeugend dem in lebensgeschichtlichen Erzählungen wiederkehrenden Narrativ von der Vergewaltigung nur schöner Jüdinnen nach. Die Bedingungen in den Konzentrationslagern – permanente Unterernährung bei starker körperlicher Arbeit sowie mangelnde Möglichkeiten zur Pflege der Körperhygiene – führten bei den meisten Insassinnen zu einer Entfremdung vom eigenen Körper, der häufig alle Zeichen der Weiblichkeit einbüßte. Das Sprechen über sexuelle Gewalt gegenüber attraktiven Frauen sei somit sowohl als Autodiskurs über den Verlust der Weiblichkeit zu klassifizieren, als auch Spiegel tatsächlichen Geschehens, da die deutschen Täter bevorzugt Frauen bedrängt haben dürften, deren Körper noch nicht zu stark von Krankheit gezeichnet waren. In anderen Beiträgen gehen Egodokumente und Fiktionalisierungen als Belege für Übergriffe etwas durcheinander, was zusammen mit dem gleichwertigen Schwerpunkt des Sammelbandes auf Fiktionalisierungen einen ambivalenten Eindruck hinterlässt. Der Zusammenhang von Erinnerungs- und Ereignisgeschichte hätte in einzelnen Beiträgen, aber auch in der Einleitung systematischer seziert gehört, so dass die Herausgeberinnen zwar den ersten englischsprachigen Sammelband zu diesem Thema editiert haben, aber eine systematische Erforschung und Darstellung von sexueller Gewalt im Holocaust weiter auf sich warten lässt. Angesichts der Dunkelziffern werden sich Wünsche nach einer Quantifizierung des Phänomens nie erfüllen lassen, doch wäre es dem Buch dienlich gewesen den Gestus des Tabubruchs bei diesem Thema nicht zu übertreiben. Ein Ergebnis dessen war die Medienberichterstattung, die die sexuelle Gewalt während des Holocausts stark betonte und sie nicht nur als einen Bestandteil der vielfältigen Repressions- und Terrormaßnahmen zeigte. Da einzelne Beiträge schon anderweitig publiziert wurden oder im umfangreicheren Original auf Deutsch vorliegen (Robert Sommer über KZ-Bordelle oder Brigitte Halbmayr über Formen sexualisierter Gewalt)6, ist der Band auch kein absolutes Muss für hiesige Bibliotheken.
Beide Bände sind aber zu begrüßen als Zeichen der weitergehenden Auseinandersetzungen mit sexueller Gewalt im Krieg. Sie verdeutlichen die methodischen Schwierigkeiten ebenso wie die großen Forschungslücken. Im Sinne der AutorInnen der Einleitung von „Rape in Wartime“ ist zu hoffen, dass noch mehr ForscherInnen sich den Herausforderungen einer Historisierung sexueller Kriegsgewalt stellen, von vermeintlich universellen Wahrheiten abrücken und einer zentralen Aufgabe der Wissenschaft nachkommen: Fragen zu stellen, auch wenn die Antworten nicht einfach zu finden sind.
Anmerkungen:
1 Susan Brownmiller, Against Our Will. Men, Women, and Rape, New York 1975.
2 Vgl. unter anderem Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten. 1939–1945, Paderborn 2004; David Raub Snyder, Sex crimes under the Wehrmacht, Lincoln 2007; Regina Mühlhäuser, Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941–1945, Hamburg 2010.
3 Vgl. unter Anderem Ruth Seifert, Der weibliche Körper als Symbol und Zeichen. Geschlechtsspezifische Gewalt und die kulturelle Konstruktion des Krieges; in: Andreas Gestrich (Hrsg.), Gewalt im Krieg. Ausübung, Erfahrung und Verweigerung von Gewalt in Kriegen des 20. Jahrhunderts, Münster 1996, S. 13–33.
4 Dalia Ofer / Lenore J. Weitzman (Hrsg.), Women in the Holocaust, New Haven 1998.
5 Vgl. Jessica Ravitz, Silence lifted. The untold stories of rape during the Holocaust, CNN, 24.07.2011, <http://edition.cnn.com/2011/WORLD/europe/06/24/holocaust.rape/index.html> (13.02.2013).
6 Robert Sommer, Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009; Helga Amesberger / Katrin Auer / Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt im Kontext nationalsozialistischer Verfolgung; in: Zeitschrift für Genozidforschung 5 (2004), 1, S. 40–65; Helga Amesberger / Katrin Auer / Brigitte Halbmayr, Sexualisierte Gewalt. Weibliche Erfahrungen in NS-Konzentrationslagern. Mit einem Vorwort von Elfriede Jelinek, Wien 2004.