Historiker erreichen nur selten den Bekanntheitsgrad des schottischen Historikers Niall Ferguson, der seit einigen Jahren in Harvard lehrt. Obgleich er die Auswirkungen seines Status als celebrity unter den Historikern auf sein Privatleben beklagt,1 ist seine mediale Präsenz nicht zuletzt unzähligen großspurigen Fernsehauftritten geschuldet, in denen er vorzugsweise neokonservative Argumente vertritt und beispielsweise über Barack Obamas Nahostpolitik schimpft, die angeblich dem Islamismus Vorschub leiste. Bemerkenswert ist indessen, dass Ferguson im Gegensatz zu anderen Fernsehhistorikern zunächst einmal fachlich tiefsolide Arbeit geleistet hat. Seine Dissertation über Hamburger Kaufleute im frühen zwanzigsten Jahrhundert etwa fand weite Anerkennung in Fachkreisen. So sehr man sich über das Hinausposaunen seiner zweifelhaften politischen Überzeugungen ärgern kann, sollten ihm Historiker vielleicht zunächst dankbar sein, dass er wichtige Fragen der Geschichtswissenschaft einem sehr viel breiteren Publikum nahebringt.
Dass selbst ein Londoner Boulevardblatt wie der Evening Standard Fergusons letztes, hier in einer gelungenen deutschen Übersetzung zu besprechendes, Werk rezensiert, lässt wenig Zweifel über die Reichweite seines Publikumserfolgs. Dass selbst eine solche Rezension in einer des Empire-Skeptizismus gänzlich unverdächtigen Zeitung wie dem Evening Standard das Werk als „imperiale Geschichte ohne die hässlichen Stückchen“ bezeichnet, lässt wiederum wenig Zweifel über die politische Stoßrichtung des Buches.2 Wie auch schon in früheren Werken geht es Ferguson darum, das, was er als die Überlegenheit des Westens gegenüber den Resten wahrnimmt, zu erklären und damit, implizit wenigstens, auch daraus ableitbare politische Führungsansprüche zu legitimieren.
Die Kernargumente des Buches lassen sich in wenigen Worten zusammenfassen und Ferguson sorgt gerne dafür, dass man ihm selbst dabei zwanzig Minuten lang im Internet zusehen kann.3 Seit etwa 1500 habe sich herauskristallisiert, dass der Westen effektiver wirtschafte als die Anderen und irgendwie in jeder Hinsicht besser sei als der „Rest der Welt“. Mit dem „Westen“, so zeigt sich im Laufe der Lektüre, meint der Autor vor allem Großbritannien und Nordamerika, der „Rest“ ist hauptsächlich Asien, aber auch Afrika und Lateinamerika. Diese Sichtweise erstaunt insofern, als doch noch um 1700 viele der weltweit größten und wohlhabendsten Städte im spanischen Imperium lagen. Zudem deutete, wie der amerikanische Wirtschaftshistoriker Kenneth Pomeranz eindrucksvoll gezeigt hat, bis nahezu 1800 immer noch wenig auf eine sozioökonomische und technologische „great divergence“ zwischen Südostengland und den Niederlanden einerseits und dem Yangtse-Delta in China andererseits hin.4
Ferguson ist aber vollends ungeneigt, sich von Bedenkenträgern beirren zu lassen. Der „Westen“ habe, so ist in diesem Buch zu lesen, sechs „Killerapplikationen“ entwickelt, mit denen sich auf viel längere Sicht seine Vormachtstellung zementiert habe. Dabei handle es sich erstens um intraeuropäische Machtrivalitäten, die eine im Vergleich mit der außereuropäischen Welt größere Konkurrenzfähigkeit hervorgebracht habe. Zweitens stießen wissenschaftliche Erkenntnisse und damit technologische Neuerungen in Europa auf geringeren Widerstand, vor allem religiöser Natur. Die Verankerung von Eigentumsrechten habe drittens für größere Rechtssicherheit und vorausschaubares privates Wirtschaften gesorgt. Viertens – der substantielle Unterschied zur zweiten „Applikation“ ist nicht immer klar hier – habe westliche Medizin zu einer Anhebung des Lebensstandards geführt. Fünftens zeichnete sich der „Westen“ durch die Entwicklung moderner Formen des immer breiteren Konsums aus. Und schließlich habe es im Westen eine andere und letztlich erfolgreichere Arbeitsethik gegeben. Hier beruft sich der Autor im Kern auf Max Webers bekannte These über die protestantische Ethik.
Wie Jürgen Osterhammel in seiner Rezension in der Zeit, der eigentlich nicht viel hinzuzufügen ist, bemerkt hat, besteht das Hauptproblem des Buchs darin, dass Ferguson in einem analytisch nicht mehr handhabbaren „Superrätsel“ unzählige vollkommen unterschiedliche globalhistorische Fragen „verklumpt“. Osterhammels Fazit ist aus der Sicht eines akademischen Historikers nicht von der Hand zu weisen: „Man wird sich von diesem Buch eher unterhalten und ärgern als belehren lassen.“5 Ob es nun die analytischen Schwächen, empirische Blindstellen, der hoffnungslose Anglo-Amerika-Zentrismus, die mangelnde Fähigkeit Nuancen und Zweifel aufzunehmen, die Großspurigkeit des Tons oder einfach nur die unverbrämt rechtslastige politische Agenda sind: Der Leser wird in diesem Buch Vieles finden, über das er sich ärgern kann oder sogar sollte. Nur eines, nämlich mangelnde Sachkenntnis, wird man dem Autor kaum vorwerfen wollen.
Ohnehin aber eignet sich dieses Buch vielleicht weniger zur Beantwortung zweifelsohne wichtiger geschichtswissenschaftlicher Fragen als zu deren Anregung und zu einer Reflexion über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Geschichtswissenschaft heute. Es ist durchaus möglich, dass Fergusons Verkaufserfolge sich vor allem geschickten Vermarktungsstrategien von Verlagen und spektakulären öffentlichen Konfrontationen zuschreiben lassen. Das Buch ist sicher auch als gezielte Provokation gedacht. Offenbar verfehlte sie ihr Ziel nicht. In der London Review of Books bemängelte der indische Schriftsteller Pankaj Mishra Fergusons „schwärmerischen Blick auf das Empire“, der sich in diesem letzten Buch in einem „Mischmasch“ niederschlage, der voller „Verkündungen von der Kathedra, die sich oft als irre Gedankensprünge erweisen“, sei. Entgegen aller gegenläufigen Erkenntnisse bleibe Ferguson „seiner neoimperialen Vision auf trotzige Weise treu“.6
Ferguson reagierte prompt und schrieb, dass „Mishras verleumderischer und unlauterer Artikel“ die „berüchtigt linkslastige“ London Review of Books in „schwerwiegenden Verruf“ bringe und drohte schließlich mit einer Verleumdungsklage.7 Damit schaffte es Ferguson sogar auf die Meinungsseite des Observer: „Why on earth is the history man being quite so angry?“, fragte sich die Journalistin Catherine Bennett und befand, dass Fergusons Reaktion „den Beigeschmack der Schikane, nicht der intellektuellen Ernsthaftigkeit“ habe.8
Dass der eigentliche Inhalt von Fergusons Werk damit schnell in den Hintergrund trat, mag man in diesem Fall bedauern oder begrüßen. Wichtiger aber ist die Frage, ob ein solches Gezänk der Geschichtswissenschaft und ihrer Wahrnehmung in der breiteren Öffentlichkeit einen Dienst erweist. Wer Nachdenklichkeit und Umsicht als oberste Gebote beim Versuch historische Fragen aufzuwerfen und zu beantworten betrachtet, wird sich schwerlich für Fergusons Herangehensweise gewinnen lassen. Ein über die Universitäten hinausgehendes Publikum erfolgreich anzusprechen sollte andererseits nicht reflexartig als unzulässiger Populismus abgestraft werden. Statt sich über Fergusons vereinfachende und fragwürdige Thesen zu ärgern, könnte man sich ebenso gut darüber freuen, dass man sich an ihnen abarbeiten kann.
Anmerkungen:
1 William Skidelsky, Niall Ferguson: ‘Westerners don’t understand how vulnerable freedom is’, in: The Guardian, 20.2.2011 <http://www.guardian.co.uk/books/2011/feb/20/niall-ferguson-interview-civilization> (06.03.2012).
2 Alex von Tunzelmann, Civilization: The West and the Rest is imperial history without the nasty bits, in: Evening Standard, 26.5.2011 <http://www.thisislondon.co.uk/lifestyle/book/article-23930944-civilization-the-west-and-the-rest-is-imperial-history-without-the-nasty-bits.do> (06.03.2012).
3 <http://blog.ted.com/2011/09/19/the-6-killer-apps-of-prosperity-niall-ferguson-on-ted-com/> (06.03.2012).
4 Kenneth Pomeranz, The Great Divergence. China, Europe, and the Making of the Modern World Economy, Princeton 2000.
5 Jürgen Osterhammel, Sein Superrätsel, in: Die Zeit, 16.1.2012 <http://www.zeit.de/2012/03/L-P-Ferguson> (06.03.2012).
6 Pankaj Mishra, Watch this Man, in: London Review of Books, Vol 33, No.21, 3.11.2011 <http://www.lrb.co.uk/v33/n21/pankaj-mishra/watch-this-man> (06.03.2012).
7 Ebd.
8 Catherine Bennett, Why on earth is the history man being quite so angry?, in: The Observer, 4.12.2011 <http://www.guardian.co.uk/commentisfree/2011/dec/04/catherine-bennett-niall-ferguson-libel> (06.03.2012).