Von Kriegsverbrechen in Syrien bis zum Bestreben britischer Politiker, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten – Menschenrechte sind in aller Munde, wenn auch leider allzu oft in negativen Schlagzeilen.
Auch in der Geschichtswissenschaft haben sie seit einiger Zeit Konjunktur. Hier wendet man sich bisher jedoch vor allem der Aufstiegsgeschichte der Menschenrechte zu. Eine Vielzahl von Veröffentlichungen der letzten Jahre hat sich mit der Entstehung und dem Erfolg, der Interpretation und Umsetzung, aber bisweilen auch mit den Herausforderungen und der scheiternden Sicherung der Menschenrechte beschäftigt. Die hier behandelten Werke sind ein nicht repräsentativer Ausschnitt einer boomenden Forschungslandschaft. Behandelt werden in dieser Rezension eine Biographie von Prost und Winter über René Cassin und eine Monographie über die Genese der Vereinten Nationen (Plesch, „America, Hitler and the UN“), sowie vier Sammelbände (Spierling/Wintle, Hoffmann, Frei/Weinke und Láníček/Jordan), die sich jeweils explizit oder schwerpunktartig mit der Frage der Genese der Menschenrechte im Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen.
Bei der Lektüre lassen sich Leitmotive erkennen, die sich durch alle Veröffentlichungen und Diskussionen des Themas ziehen. An diesen Leitmotiven möchte ich dementsprechend die vergleichende Rezension ausrichten: erstens wird mit Blick auf die Chronologie die Frage nach Kontinuität oder Bruch diskutiert; zweitens wird auf der Akteursebene zwischen Agency auf staatlicher, internationaler oder transnationaler Ebene unterschieden; drittens wird auf inhaltlicher Ebene gefragt, ob unter Menschenrechten Kollektivrechte oder Individualrechte verstanden wurden; und viertens widmen sich alle hier behandelten Veröffentlichungen Debatten um Menschenrechte und der Frage nach ihrer Instrumentalisierung.
Die erste Leitfrage beschäftigt sich mit der Frage nach Bruch und Kontinuität der Menschenrechte im Zweiten Weltkrieg. Die Frage, welchen Einfluss die Erfahrung des Weltkriegs und der Holocaust auf den Bedeutungszuwachs der Menschenrechte hatten, wird viel diskutiert. Dass das 20. Jahrhundert zunächst einen stetigen Anstieg der Bedeutung der Menschenrechte sah, ist dabei unumstritten – Kirsten Sellars Ausdruck des „Rise and Rise of Human Rights“ wird hier gerne angeführt. Die genaue Verortung der Ursprünge sowie von Hoch- und Krisenzeiten jedoch unterliegen unterschiedlicher Interpretation. Die meisten Autoren widersprechen einer eindeutigen Zäsur des Zweiten Weltkriegs, betonen aber die besondere Bedeutung der im Krieg erlebten Gewalt (Winter, Winter/Prost, Plesch) ebenso wie der gemeinsamen Alliierten Politik in der Ausbildung unseres heutigen Menschenrechtsverständnisses.
In „European Identity and the Second World War“ sieht Michael Wintle den Zweiten Weltkrieg als wichtige Zäsur im Europäischen Selbstbewusstsein. Dem Ende des Krieges sei zunächst eine „post-war negativity“ gefolgt, die erst in den 1950er- und 1960er-Jahren durch ein neues Selbstbewusstsein abgelöst wurde. Dennoch sei der Zweite Weltkrieg grundlegend für eine neue europäische Identität gewesen, die auch eine spezifisch europäische Lesart der Menschenrechte hervorgebracht habe und grundlegende Änderungen in den Europavisionen herbeigeführt habe, nicht nur, aber auch durch die Grenzerfahrungen des Krieges und des Holocaust (European Identity, S. 4–7). Helle Porsdam schließt sich im selben Band dieser Chronologie an, wenn sie die juristische Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs untersucht und konstatiert, dass eine neue europäische Identität nach dem Krieg sich maßgeblich auf Menschenrechte berief. Während man in Amerika vom „rights talk“ sprach war es in Europa von Anfang an ein „human rights talk“. Im Zentrum ihrer Argumentation stehen dabei der Europäische Gerichtshof und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und deren Beitrag, Menschenrechte zu etablieren (European Identity, S. 22–23). Annette Weinke betont in „Toward a New Moral World Order?“, die neuere Forschung habe immer mehr dargelegt, dass der „rights talk“ nicht nur eine Reaktion auf Gewalt gewesen sei, sondern auch eine Aushandlung verschiedener Formen des Internationalismus. Die Forschung zum Menschenrechtsdiskurs sei vielfach zweigeteilt und befasse sich entweder diplomatiegeschichtlich mit Entwicklung und Institutionalisierung oder aber mit der zivilgesellschaftlichen Sphäre. Wichtig ist ihr, herauszustellen, dass der Menschenrechtsdiskurs nicht erst mit Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeflammt sei, sondern auf eine lange Traditionen zurückgreifen konnte, die Weinke auf das Ende des Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Entstehung eines neuen Rechtsregimes und neuer internationaler Institutionen datiert. Erst zu diesem Zeitpunkt, so ihre These, konnten sich die Menschenrechtsdiskurse des 19. Jahrhunderts wirklich institutionell verankern. Der nächste Schnitt nach 1945 ließe sich dann vor allem an der dreifachen Krise des politischen Liberalismus, des Nationalstaats und des Kolonialismus festmachen. Weinke sieht zudem in dem starken Bezug des Menschenrechtsdiskurses auf den Zweiten Weltkrieg und das „Nie-Wieder“-Motiv einen Versuch, unterschiedliche Erfahrungen der Länder während des Zweiten Weltkriegs zu überschreiben und sich so gemeinsam einem gewaltentsagenden Diskurs anzuschließen (World Order, S. 34–35). Mitherausgeber Norbert Frei betont den subversiven Charakter der Menschenrechte – auch im positiven. Trotz der langen Linien der Entwicklung der Geschichte der Menschenrechte ist ihm der Zäsurcharakter der Jahre 1945 bis 1948 wichtig, da diese das Verständnis ebenso wie die Anerkennung der Menschenrechte maßgeblich verändert hätten (World Order, S. 249–250). Auch Regula Ludi stellt in ihrem Beitrag zu diesem Band 1945 als einen Wendepunkt heraus, da jenes Jahr den Wechsel vom Prinzip des kollektiven Selbstbestimmungsrechts hin zum dominanten Prinzip der Lösung von Minderheitenproblemen markiere.
Stefan-Ludwig Hoffmann schreibt in der Einführung zum von ihm herausgegebenen Sammelband „Moralpolitik. Geschichte der Menschenrechte im 20. Jahrhundert“ von der Universalisierung der Menschenrechte nach 1945, führt jedoch zugleich vier Problemkomplexe ein, die die weitere Entwicklung bestimmt hätten: die Konstellation des Kalten Kriegs, Dekolonisierung und die Verrechtlichung der Welt, Globale Moralkampagnen und neuer Humanitarismus durch den Bedeutungsaufstieg von Nichtregierungsorganisationen und schließlich den Zerfall des Kommunismus. Mit Blick auf diese Problemkomplexe sieht er die Geschichte der Menschenrechte vor allem als „Konfliktgeschichte […] die kein Telos besitzt und auch ganz anders hätte verlaufen können“ (Moralpolitik, S. 36–37). Mark Mazower schließt sich ihm in seinem Beitrag an, der zwar die lange Vorgeschichte des Internationalismus vor 1945 betont, das Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch dennoch als Zäsur und „Ende der europäischen Epoche“ herausstellt (Moralpolitik, S. 41). Durch die Erfahrung existentieller Bedrohung hätten die Europäer erst den Wert von Menschenrechten erkannt, was zu einem Bruch mit alten Gewissheiten und zum Aufstieg neuer souveräner Staaten geführt habe.
Die Erfahrung und Erinnerung des Zweiten Weltkriegs und insbesondere des Holocausts wird immer wieder als maßgeblicher Einfluss auf die weitere Menschenrechtsdebatte und -gesetzgebung angeführt. Daniel Levy betont in seinem Beitrag zum Band „Toward a New Moral World Order?“ den starken Einfluss von Erinnerungen an den Holocaust. Das Leid des Holocausts und die sich entwickelnde Schicksalsgemeinschaft der Überlebenden bildete seiner Ansicht nach einen Imperativ des internationalen Gedächtnisses („cosmopolitan memory imperative“, World Order, S. 213), der die Entwicklung der Menschenrechte beschleunigte. Er sieht Menschenrechte inzwischen als eine globale Währung („global currency“), welche von einzelnen Gruppen und Staaten jeweils genutzt werden könne (World Order, S. 218). Auch Karen-Margrethe Simonsen weist im Band „European Identity and the Second World War“ auf die Bedeutung des Holocaust in der Nachkriegszeit hin. Die Holocaust-Literatur, so ihre These, habe europäische Identität nachdrücklich geprägt und dazu geführt, dass die Grenzen zwischen Identität und Politik verschwimmen. Ricardo Gil Soeiro und Irene Zwiep schließen sich im selben Band der These zur zentralen Rolle des Holocaust an. „The two clearest reactions in the context of Europe to the war were horror at the Holocaust and a growth in importance of human rights in the post-war debates“, fasst der Herausgeber ihre Position zusammen (European Identity, S. 17). Weiterhin unterstützt Hagen Schulz-Forberg diese Periodisierung und die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs als Katalysator der Menschenrechte, die er zudem stark europäisch verwurzelt sieht.
Dem entspricht die Argumentation von Dan Plesch, der sich in seinem Buch „America, Hitler, and the UN“ mit der Entstehung der Vereinten Nationen während des Zweiten Weltkriegs befasst. Die Vorgeschichte der späteren, 1945 offiziell in San Francisco gegründeten United Nations als eine von Churchill und Roosevelt bereits unter diesem Namen ersonnenen Waffen-Allianz, ist, wie er zu Recht geltend macht, bisher wenig beachtet. Mit Unterschriften der „Big Three“, danach Chinas und anderer Alliierter Mächte, wurde 1942 zum ersten Mal eine Institution namens United Nations ins Leben gerufen. Die Mitgliedschaft war jedoch zunächst exklusiv und auf alliierte Mächte beschränkt. Neben den Baltischen Staaten wurde zunächst auch dem Freien Frankreich die Unterschrift verweigert. Plesch sieht in den Debatten während des Krieges eine essentielle Vorarbeit zur Entstehung der Charta der Vereinten Nationen nach dem Krieg, vor allem, da die teilnehmenden Staaten sich bereits hier mit dem Konflikt zwischen Machtkonkurrenz und notwendigem Konsens auseinandersetzen und an ihm abarbeiten mussten. Das Kapitel „Justice for War Crimes: Auschwitz and Nuremburg“ zählt zu den stärksten Kapiteln des Buches, wohl auch weil Plesch ein ausgewiesener Experte der United Nations War Crime Commission (UNWCC) ist. Die 1943 ins Leben gerufene UNWCC, war das erste multinationale Abkommen zu Internationalen Kriegsverbrechen auf dem Weg zu den vielbeachteten Prozessen in Nürnberg und Tokyo, während Plesch die Geschichte des UNWCC heute als beinah vergessen beklagt (America, Hitler, and the UN, S. 101).
Die UNWCC und das parallel geplante International Military Tribunal in Nürnberg (IMT) entwickelten so ein Konzept des internationalen Verbrechens, das den Überbau für Konzepte wie Verbrechen gegen den Frieden, gegen die Menschlichkeit und auch den Begriff des Genozid dargestellt habe. Insbesondere der Anklagepunkt eines Angriffskriegs war neu, ebenso die Schöpfung des Konzepts krimineller Organisationen und die Entwicklung von gemischten zivil-militärischen Gerichtshöfen. Sehr umstritten war, ob man Deutsche für Verbrechen gegen Deutsche ebenso wie gegen Bürger anderer Staaten haftbar machen könne. Die Exilregierungen Polens und der Tschechoslowakei waren bei den Bemühungen, das UNWCC ins Leben zu rufen, laut Plesch besonders aktiv. Insbesondere das British Foreign Office und das US State Department beobachteten die Zusammenarbeit der kleinen Staaten und einiger zivilgesellschaftlicher Gruppen zugunsten der Formulierung von Menschenrechten argwöhnisch, da ihre britische und amerikanische Regierungen der Einführung eines Prinzips des Eingriffs in die inneren Angelegenheiten eines Staates kritisch gegenüberstanden (America, Hitler, and the UN, S. 103). Nach kurzer Kooperation wandten sie sich schließlich im Mai 1944 nach einer ersten deutlicheren Definition von Kriegsverbrechen durch die Kommission vom UNWCC ab, die Ideen des UNWCC jedoch, so Plesch, zirkulierten zu diesem Zeitpunkt bereits in London und Washington und konnten so ihre eigene Wirkung entfalten. Während die USA zwar offiziell einer UN-organisierten Front gegen Kriegsverbrecher widersprachen, trugen sie Pleschs Meinung nach durch ihre Teilnahme am UN-System während des Krieges dennoch maßgeblich zu dessen Aufbau bei. Fragen der Zuständigkeiten und der Problematik von internationaler Zusammenarbeit und staatlicher Souveränität waren zentral in den Diskussionen, auch bei der 1943 ins Leben gerufenen United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA). Zusammenfassend sieht Plesch die Atlantic Charter als politisches Fundament der Erklärung der Vereinten Nationen. Auf diesen Ausgangspunkt sollten die Charta der Vereinten Nationen und die folgenden Erklärungen aufbauen und den Grund bereiten für die internationale Kooperation und damit auch die Menschenrechtsarbeit der Vereinten Nationen. Zwei vermeintlich vernachlässigte Punkte liegen ihm dabei am Herzen: Zum einen sei die finanzielle Seite der internationalen Kooperation oft unterschätzt worden. Insbesondere das Lend-lease Programm der Vereinigten Staaten interpretiert Plesch jedoch als die Grundlage der Zusammenarbeit der Vereinten Nationen (S. 186). Zum anderen sieht er zwar den Ursprung der UN in der engen Kooperation von USA und Großbritannien, doch insbesondere die UNWCC verdanke viel der Arbeit den „weaker states“, darunter vor allem Polen und der Tschechoslowakei.
Jan Ifversen, Wendy Webster, Henk van der Liet und Manet van Montfrans analysieren im Band „European Identity and the Second World War“ jeweils die Herausbildung einer europäischen Identität nach dem Zweiten Weltkrieg, die das Fundament für die gemeinsame Menschenrechtspolitik bot. Webster tut dies anhand der Untersuchung britischer Wahrnehmung der Europäischen Identität, wobei ihm zufolge die Nazi-Verbrechen einen wichtigen Abgrenzungspunkt boten und damit die Menschenrechte wieder in den Vordergrund stellten ; van Montfrans analysiert die Arbeit Albert Camus und des französischen Europagedankens. Ihrer Ansicht nach stand Camus‘ Werk immer auch in enger Verbindung einerseits mit der Tradition der französischen Resistance und andererseits mit einer Kritik am europäischen Kolonialismus angesichts der Situation in Algerien.
Viele dieser auf den Zweiten Weltkrieg konzentrierten Beiträge verweisen auf die lange Vorgeschichte und die Ursprünge der Menschenrechte im 19. Jahrhundert. Deren konkrete Rückverfolgung bildet jedoch leider eher die Ausnahme. Bereits ein Einbeziehen des frühen 20. Jahrhunderts bleibt eher die Ausnahme. Kollmeier betont im Band „Toward a New Moral World Order?“ starke Kontinuitäten vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg im Umgang mit Staatenlosigkeit. Dem zeitlichen Horizont würden sich wohl auch die Autoren der Cassin-Biographie, Antoine Prost und Jay Winter, anschließen, die die Menschenrechte ja nicht zuletzt im französischen Titel als „Projekt einer Generation“ beschreiben.
In Abgrenzung zu den Vertretern der Weltkriegs-Zäsur wird in anderen Beiträgen der weitere Verlauf der gesellschaftlichen, politischen und juristischen Menschenrechtsdebatte nach 1945 aufgegriffen. Insbesondere die Beiträge zu Kolonialismus und Imperialismus stellen die 1960er- und 1970er-Jahre als sehr viel bedeutenderen Einschnitt heraus als die Zäsur von 1945, wie Fallbeispiele zu Menschenrechtsdebatten während der Dekolonialisierung, insbesondere im Band „Moralpolitik“ zeigen. Daniel Maul merkt in seinem Beitrag an, dass der Kalte Krieg weniger Einfluss auf die Entwicklung des Menschenrechtsdiskurses hatte als oft vermutet. Stattdessen zeige sich, dass sich unterschiedlichste politische Lager die Sprache der Menschenrechte aneigneten. Raphael Biermann belegt schließlich im selben Band anhand des Kosovo-Konflikts in Bezug auf das völkerrechtliche Interventionsverbot, dass nicht einzelne Ereignisse wichtige Zäsuren darstellen, sondern sich vielmehr an diesem langsame und langjährige Normenänderungen manifestieren. Diese Erkenntnis lässt sich wohl auf die Menschenrechtsdebatte insgesamt übertragen.
Zweites Leitthema sind die handelnden Akteure hinter dem Aufstieg der Menschenrechte: Stehen Nationalstaaten im Zentrum, ist es ein Erfolg der Internationalisierung und internationaler Organisationen oder sprechen wir von einem transnationalen Aushandlungsprozess? Dabei diskutieren einige der hier behandelten Untersuchungen einzelne Personen als maßgebliche Akteure, andere sehen Institutionen als hauptverantwortlich, wieder andere sprechen vor allem von der Rolle der Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft.
Die biographischen Skizzen zum Juristen René Cassin (Prost/Winter; Winter, Glenda Sluga ) sehen ihn als eine der wichtigsten Personen in der Entwicklung der Menschenrechte. Dabei war er zugleich wichtigster Vertreter eines französischen Verständnisses von Menschenrechten (Droits de l’Homme), später dann aber auch Repräsentant der europäischen Auslegung gegenüber der dann dominierenden amerikanischen Lesart. Zugleich steht er für die Kontinuität vom Internationalismus der Zwischenkriegszeit über die Kriegsallianzen hin zu einer neuen europäischen Annäherung und einem neuen internationalen Verständnis von Menschenrechten. Wichtige Grundlage war die Exilpolitik in London während der Kriegsjahre, in der Winter vor allem die Zusammenarbeit von Militärs und ehemaligen Soldaten mit Juristen als Nährboden für einen neuen Menschenrechtsaktivismus ansah. Winter schreibt in seinem Beitrag zum Band „European Identity and the Second World War“ die Menschenrechtserklärung von 1948 vor allem dem Verdienst einiger weniger Akteure zu, unter ihnen Cassin, die bereits lange vor „den zwei politischen Erdbeben“ von 1933 und 1939 aktiv dazu beigetragen hatten, alternative Konzepte staatlicher Souveränität zu entwerfen (European Identity, S. 59). Viele davon hatten ihre politische Erfahrung und ihre Begeisterung für Internationalismus in Genf beim Völkerbund gelernt. Meilensteine auf dem Weg zur Menschenrechtserklärung sieht Winter bereits früh im Krieg: 1941 in der Atlantic Charter und den Konferenzen von St. James 1941/1942 sowie die Erklärung der United Nations vom 1. Januar 1942. Zentral sei dabei, dass die Erklärung der 3. Konferenz von St. James die Anklage und Verfolgung von Kriegsverbrechen und deren Ahndung durch Prozesse zu einem der Kriegsziele erhob. Die Einrichtung einer Inter-Allied Commission on War Crimes habe diese Schritte ab 1942 verfestigt, Cassin als Französischer Delegierter stellte eine weitere Konstante: er sollte bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Einrichtung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 1958 (Cassin als erster Vize-Präsident, dann ab 1965 als Präsident) der als einer ihrer engagiertesten Vorstreiter verbunden bleiben.
Die Cassin-Biographie von Jay Winter und Antoine Prost „René Cassin et les droits de l’homme“ trägt im französischen Original den Untertitel „Das Projekt einer Generation“ – und dies ist programmatisch für ihren Ansatz. Cassins Verwundung im Ersten Weltkrieg und seine Kriegserfahrung allgemein ist in ihrer Interpretation maßgeblich für sein weiteres politisches Handeln und sein Engagement für die Menschenrechte. Von 1924 bis 1938 war Cassin Mitglied der französischen Delegation beim Völkerbund und pflegte enge Kontakte zur International Labour Organization (ILO). Parallel baute er als eine der zentralen Persönlichkeiten nicht nur die französische Veteranenbewegung mit auf sondern wirkte an der Gründung und Etablierung zweier internationaler Veteranenverbände mit: die interalliierte FIDAC (Fédération Interalliée des Anciens Combattants) und die die Versöhnung mit dem ehemaligen Kriegsgegner anstrebende CIAMAC (Conférence Internationale des Associations des Mutilés de Guerre et des Anciens Combattants, siehe Kapitel 3). Sie betonen, dass Cassin bereits in Genf in der Zwischenkriegszeit vom Konzept der staatlichen Souveränität abgerückt sei, welches er als einschränkend für internationale Zusammenarbeit empfand. Cassin war, so Prost und Winter, ein „Partisan des Völkerbunds“ (René Cassin, S. 81). Insbesondere sein Kontakt zu anderen Juristen internationaler Ausrichtung in Genf sei wichtig für seine weitere Karriere und seine weiteren politischen Ziele und deren Umsetzung gewesen. Sein Engagement für Menschenrechte basierte auf seiner Ausbildung und seinem Wissen als Jurist, seiner persönlichen Erfahrung von Gewalt und Invalidität im Ersten, vom Exil im Zweiten Weltkrieg und schließlich auf seiner intensiven Erfahrung des Internationalismus in Genf und in den internationalen Veteranenverbänden. Cassin war dort neben Maurice Dejean offizieller Vertreter Frankreichs an den St.-James-Konferenzen, was Winter und Prost den „Beginn einer neuen internationalen Karriere Cassins“ nennen (René Cassin, S. 185). Cassin hatte, wie sie schreiben, „begriffen, dass man mit der Wiederherstellung der Würde und der Integrität der politischen Regime der besetzten Länder beginnen müsse. Aber es gab auch Übereinstimmung über die Notwendigkeit, staatliche Souveränität in der neuen internationalen Ordnung zu beschränken“ (René Cassin, S. 189). Diese Erkenntnis sei das Fundament für die Charta der Vereinten Nationen 1945 ebenso wie für die Menschenrechtserklärung 1948 gewesen, und Cassin befand sich stets am Puls dieser juristischen Suchbewegungen. Auch wenn seine offizielle Rolle in London die eher unbedeutend klingende des „Commissaire à la Justice et à l’Education“ war, sei Cassin als zweiter Mann hinter de Gaulle anzusehen. Während de Gaulle sich vor allem den militärischen Fragen und der Machtpolitik widmete, war Cassin einerseits stets im Dienste Frankreichs, andererseits aber auch weiterhin überzeugter Internationalist, der seine Ziele durch gekonntes Netzwerken und Zusammenarbeit mit anderen Exilregierungen verfolgte. Seinen juristischen Hintergrund nutzte er auch für die Gründung und Teilnahme an verschiedenen Fachkomitees, darunter solche zur Etablierung einer juristischen Nachkriegsordnung, zur Ahndung von Kriegsverbrechen sowie auch ganz allgemein zur Untersuchung von Problemen nach Beendigung der Kampfhandlungen. Sein Ziel, so Winter und Prost, sei nicht weniger als „das Beenden des Krieges und die Organisation des Friedens“ (René Cassin, S. 204). Ein gut geplantes Ende des Zweiten Weltkriegs sollte Lehren aus dem Ersten Weltkrieg ziehen und diesmal zu einem stabilen Frieden führen. Darin war die Frage der Menschenrechte und vor allem der Minderheitenfragen zentral. Während der Kriegsjahre 1942 und 1943 sammelten Cassin und seine Mitstreiter (darunter der Jurist Hersch Lauterpacht) Daten und Dokumente, verfassten Erklärungen und Empfehlungen, und versuchten so eine neue, auf den Menschenrechten basierende internationale Ordnung zu entwerfen. In dem im August 1943 erlassenen Dokument wurde eine Art Präambel für eine neue französische Verfassung entworfen, die sich maßgeblich auf die Menschenrechte berief. Aus diesen Genfer und Londoner Wurzeln speiste sich schließlich Cassins Einfluss auf die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Winter und Prost sehen Cassin als Motor sowohl hinter der Gründung der UNESCO als auch hinter der Einrichtung der Menschenrechtskommission. Obwohl Historiker über die Hauptarchitekten der Menschenrechtserklärung streiten – auch Eleanor Roosevelt, Charles Malik und P.-C. Chang werden als Kandidaten geführt – sehen Winter und Prost Cassins Beitrag, für den er schließlich 1968 den Nobelpreis verliehen bekam, als ausschlaggebend an. Gleichzeitig betonen sie, dass die Erklärung ohne bestimmte glückliche Fügungen nicht zustande gekommen wäre: Zum Einen betraf dies die enge Zusammenarbeit einiger Dutzend Personen – zum anderen die Tatsache, dass die Generalversammlung der Vereinten Nationen ohne Gegenstimme zugestimmt hatte, was im sich verschärfenden Klima des Kalten Krieges kaum wahrscheinlich schien. Winter und Prost interpretieren die Erklärung „als letzten politischen und moralischen Akt der Allianz, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen hatte“ (René Cassin, S. 290). Dem Einfluss Cassins schreiben sie zu, dass die Erklärung den Titel „Allgemeine Menschenrechtserklärung“ und nicht „Internationale Menschenrechtserklärung“ bekam, was nicht nur eine sprachliche Feinheit sei, sondern betonen sollte, dass es sich nicht nur um ein Abkommen der Staaten handele, sondern die Erklärung jeden einzelnen beträfe (René Cassin, S. 302f.). Nach der erfolgreichen Annahme der Menschenrechtserklärung wandte Cassin sich wieder Europa zu und engagierte sich dafür, in der im Entstehen begriffenen europäischen Zusammenarbeit den Platz der Menschenrechte zu sichern. Durch seine aktive Teilnahme an der Menschenrechtskommission und am Europäischen Gerichtshof, hatte Cassin, so betonen Winter und Prost, „die institutionellen Grundlagen gelegt für die europäische Ausbildung der Menschenrechte. Auf diesen Grundlagen konnten andere sie später aufbauen. Den Pionieren aber verdankt man den Ausgangspunkt“(René Cassin, S. 312–313). Die Ernennung zum Nobelpreisträger 1968, im Jahr der Menschenrechte der Vereinten Nationen, kam für Cassin dennoch überraschend. In seiner Dankesrede bezog er sich nicht nur auf seine Arbeit während der Zeit der Kommission, sondern stellt das Projekt der Menschenrechte in einen größeren Kontext, aus dem die Erfahrung des Ersten Weltkriegs und der Internationalismus der Zwischenkriegszeit nicht wegzudenken gewesen seien. Die Menschenrechte, so betonte er, seien für ihn und seine Mitstreiter „ein brüderliches Ideal“, für das es sich zu sterben lohne (René Cassin, S. 316).
Cassin lässt sich leicht als einer der von Mikael Rask Madsen im Band „Moralpolitik“ untersuchten juristischen Akteure definieren, die sich der „legal diplomacy“ verschrieben und über diese den Menschenrechten zum Durchbruch verholfen hätten. Die Herausbildung der Menschenrechte sei keinesfalls geradlinig gewesen. Gerade das Zusammenspiel von Recht und Politik war bei dieser Entwicklung maßgeblich, da viele Akteure Arbeitserfahrung in beiden Sphären hatten. Diese zentralen Akteure – Männer wie Cassin – nennt Madsen „legal entrepreneurs“ oder auch „legal diplomats“ (Moralpolitik, S. 171). Auch die Europäische Menschenrechtsgesetzgebung sei ursprünglich als Form von „legal diplomacy“ entstanden.
Neben Individuen werden auch Gruppen, Organisationen und Institutionen als Akteure in der Herausbildung und Umsetzung der Menschenrechte untersucht. Daniel Roger Maul diskutiert im gleichen Band die Rolle der International Labour Organization (ILO) in den letzten Jahren des Krieges und in der anschließenden Phase der Globalisierung der Menschenrechte. Die ILO stelle dabei einen Sonderfall unter den internationalen Organisationen dar: Die 1918 gegründete Organisation wurde während des Zweiten Weltkrieges nicht aufgelöst, sie arbeitete nicht nur mit Regierungen, sondern auch mit NGOs zusammen und sie baute auf ein stabiles Fundament auf, welches vor der Menschenrechtsdebatte entwickelt worden war und sich mit sozialer Gerechtigkeit statt mit Rechten befasste. Mit anderen Worten: Sie war zielgruppenorientiert. Maul sieht trotz der langen Kontinuität der ILO ihre wichtigsten Ursprünge in den letzten Kriegsjahren, die die ILO im Exil in Kanada verbrachte. Während die ILO sich jedoch selbst als maßgeblichen Menschenrechtsakteur sieht, ist Maul zurückhaltender und betont ihre Bedeutung vor allem in der Schaffung eines globalen Bezugsrahmens.
Gerichte, von Kriegsgerichten bis hin zu Europäischen Gerichtshöfen, gelten als wichtige Akteure in der Umsetzung der Menschenrechte. Helle Porsdam sieht im Band „European Identity and the Second World War“ in der Transnationalisierung von Menschenrechten in Abgrenzung zur rechtlichen Souveränität der einzelnen Nationalstaaten eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Entstehung einer europäischen Zivilgesellschaft. Dabei waren die Europäischen Gerichtshöfe und ihre Rechtsprechung zugunsten der Menschenrechte grundlegend in der Umsetzung. Insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe durch seine Taktik, die wohl zum großen Teil aus „shaming European nations“ bestehe, viel erreicht (European Identity, S. 32). Auch Hagen Schulz-Forberg betont im selben Band die Bedeutung der Europäischen Gerichtshöfe für die Etablierung und Umsetzung der Menschenrechte. Während das Europaparlament Menschenrechte als Thema forciert habe und klare Definitionen festlegen wollte, habe der Rat der Europäischen Union eher gebremst. Insbesondere Churchill sei aber einer der starken Befürworter der Menschenrechte als europäisches Anliegen gewesen.
Marco Duranti beschreibt im Band „Toward a New Moral World Order?“ die 1940er-Jahre als Zeitpunkt einer „human rights revolution“, welche ein Rehabilitierungsvehikel für die diskreditierten politischen Konservativen in Westeuropa geboten habe. Er argumentiert, dass die Entwicklung von Menschenrechtsgesetzgebung eine Reaktion auf den Aufstieg von Kommunisten und Sozialisten in der unmittelbaren Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs war. Die Befürworter eines Internationalen Menschenrechtsgerichtshof seien daher sehr verschiedenen politischen Lagern und Hintergründen zuzuordnen.
Philipp Gassert analysiert im gleichen Band das Russel-Tribunal von 1967 als Beispiel einer Herausbildung einer „human rights community“. Das Tribunal verfolgte, wie andere Bürgertribunale, eher eine Politik des „blaming and shaming“ denn die abschreckende Wirkung der Strafverfolgung (wie internationale Gerichtshöfe) und verstand sich als politisches Tribunal. Letztendlich hatte es zwar keinen Einfluss auf die Fortentwicklung des Völkerrechtes, jedoch großen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung des Vietnam-Krieges und der Rolle der USA. In den im Folgenden ebenfalls abgedruckten Diskussionsbeiträgen der Konferenz weist Kerstin von Lingen darauf hin, wie in den Tribunalen ebenso wie in den Gerichtshöfen Gerechtigkeitsvorstellungen ausgehandelt wurden. Zudem müsse man bei der historischen Aufarbeitung beachten, wie viele der Richter der Internationalen Gerichtshöfe danach ihre Karrieren bei den Vereinten Nationen fortsetzten. Miriam Rürup ergänzt, dass das Russell-Tribunal weniger als Wiederholung von Nürnberg, sondern vielmehr als Generalprobe für neue, in den 1970er-Jahren sichtbare Handlungsmuster dargestellt habe. Die „new moral world order“, die dem Sammelband seinen Titel gibt, sieht sie seit den 1970er-Jahren als etabliert an (World Order, S. 168).
Dominik Rigoll, ebenfalls im Band „Toward a New Moral World Order?“, beschäftigt sich anschließend mit der Menschenrechtsbewegung der 1968er-Generation in Westdeutschland und kritisiert, dass der Blick oft ausschließlich der jüngeren Generation gelte. Er hingegen befürwortet, die Rolle älterer Jahrgänge bei der Untersuchung stärker mit einzubeziehen, wobei es ihm weniger um „das Ausgraben vergessener Vorgeschichten“ gehe als vielmehr „um ein besseres Verständnis des Menschenrechtsaktivismus der 1970er-Jahre selbst, der enger mit den „europäischen Bürgerkriegen“ der 1930er- und 1940er-Jahre verwoben war, als es die Forschung heute wahrnimmt (World Order, S. 182–183). Dabei weist er zu Recht auf einen Faktor hin, der selbstverständlich sein sollte, aber doch allzu oft nonchalant übergangen wird: Der Menschenrechtsbegriff wandelte sich und die unterschiedlichen zeitgenössischen Akteure teilten nicht immer die gleiche Definition von Menschenrechten. Darüber hinaus wich insbesondere die Definition der historischen Akteure zuweilen deutlich von unserem heutigen Verständnis der Menschenrechte ab (World Order, S. 191).
Das dritte Leitmotiv ist das der inhaltlichen Interpretation der Menschenrechte und dem ihnen innewohnenden Konflikt zwischen Kollektivrechten und Individualrechten, die den Aushandlungsprozess, was unter Menschenrechten zu verstehen sei, und ihrer anschließende Umsetzung, stets verkomplizieren. Zu einem gewissen Teil gehört hierzu auch die Unterscheidung zwischen dem französischen Konzept der Droits de l’Homme und den anglophonen Human Rights.
Marc Frey stellt in „Toward a New Moral World Order?“ die These auf, dass das internationale Recht mit seiner Verwissenschaftlichung im 19. Jahrhundert positivistisch wurde und damit den staatlichen Souverän als Maß der Dinge etablierte. Dies wurde durch die Einbeziehung von Individualrechten nach dem Zweiten Weltkrieg ergänzt, jedoch in seinen Grundfesten kaum erschüttert, da weiterhin der Staat im Mittelpunkt stand. Selbstbestimmung wurde zu einem der grundlegenden Prinzipien im Internationalen Recht nach dem Zweiten Weltkrieg. Menschenrechte als normative Ordnung internationalen Rechts sieht Frey vor allem als Reaktion auf die Reflektion der Dekolonisierung.
Auch Glenda Sluga diskutiert in „Moralpolitik“ in ihrem Beitrag zu René Cassin die genaue Definition und die Bedeutungsverschiebung der Menschenrechte. Sie betont Cassins Engagement für das Individuum und zitiert seine Befürchtung, dass die Übersetzung der Droits de l’Homme in englische human rights einem Bedeutungsverlust gleichkomme. Die Droits de l’Homme hätten ebenso wie rights of man ihre Wurzeln in der Aufklärung, human rights seien dagegen bis in die 1940er-Jahre ein kaum benutzter Begriff gewesen. Zum Schutz der Droits de l’Homme befürwortete Cassin auch ein rechtlich verankertes Interventionsrecht der neuen internationalen Organisationen bei internationalen Krisen ohne Rücksicht auf nationale Souveränität (Moralpolitik, S. 98). Zu Cassins Enttäuschung verlor die französische Intepretation der Droits de l’Homme immer mehr an Einfluss, während der Begriff human rights aufstieg. Zugleich aber wurde dafür die universalistische Sicht durch die zunehmende Einbeziehung nicht-europäische (Dritt-Welt-)Länder vorübergehend gestärkt. In Slugas Folgerung aus Cassins Mühen war „das Schlagwort nationaler Souveränität im 20. Jahrhundert [als] das größte Hindernis für die internationale Umsetzung der Menschenrechte“ anzusehen (Moralpolitik, S. 113).
Kathrin Kollmeier betont in „Toward a New Moral World Order?“, insbesondere in der Frage der Rechte von Staatenloser regierte das Prinzip des Nationalstaats, der als Schutzmacht für den einzelnen dienen sollte und so den Staat erneut über die Rechte des Individuums stellte. Regula Ludi ergänzt in der folgenden Diskussion „Menschenrechte und der Nationalstaat sind siamesische Zwillinge: nicht voneinander zu trennen und trotzdem in einem Widerspruch gefangen, der sich offensichtlich nur durch den Erwerb einer Staatszugehörigkeit aufheben lässt“ (World Order, S. 75). Samuel Moyn schreibt in „Moralpolitik“ man solle die Menschenrechte, ähnlich wie die Zeitgenossen, eher im Kontext einer Neuerfindung des Konservatismus sehen. Der von ihm hier erkannte „Personalismus“ wandte sich dabei von Liberalismus und Kommunismus gleichermaßen ab wie von Individualismus. „[Personalistische Konzepte] beanspruchten, die Wahl zwischen Individuum und Kollektiv hinter sich zu lassen, und beeinflussten die Bedeutung von Menschenrechten im verfassungsrechtlichen Kontext der Nachkriegszeit.“ (Moralpolitik, S. 90)
Devin O. Pendas, ebenfalls in „Moralpolitik“, sieht in den während des Krieges verfassten Erklärungen, der Moskauer Erklärung vom Oktober 1943 und der ersten Kodifizierung im Londoner Statut im August 1945, das Versprechen einer neuen Ära, das nun als legalistisches Staaten UND Individuen im internationalen Recht anerkannte, indem die Verschränkung staatlicher und individueller Schuld betont wurde. Dieser Wandel war zunächst durch die Nürnberger Prozesse sehr erfolgreich, das Scheitern danach sei jedoch absehbar gewesen, da Staaten nur internationaler Rechtsprechung folgen würden, wenn diese in ihrem Interesse arbeite: „Völkerrecht ist nur die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln.“ (Moralpolitik, S. 231) Die Entwicklung habe durch den Kalten Krieg stagniert, sei dann erst in den 1990er-Jahren wieder aufgelebt.
Jay Winter stellt zu diesem Punkt in „European Identity and the Second World War“ die These auf, dass die grausame Besatzungspolitik der Nazis letztendlich Kräfte unter den Alliierten in Bewegung setzte, die das bankrotte Völkerbundssystem mit einer neuen internationalen Ordnung ersetzen sollten. Das bis dahin sakrosankte Konzept staatlicher Souveränität stand seiner Meinung nach neu zur Verhandlung, da offensichtlich geworden war, dass in Extremfällen in die Souveränität eines Staates eingegriffen werden müsse um gegebenenfalls das Schlimmste (Menschenrechtsverletzungen, oder Kriegsverbrechen) noch rechtzeitig verhindern zu können. Dies stand jedoch im Konflikt zum starken Bedürfnis der Wiederbestärkung der Territorialität, insbesondere der Staaten, die von den Nazis besetzt worden waren. So lange das Bedürfnis nach Territorialer Souveränität befriedigt werden konnte, stand bei vielen Staaten nun im zweiten Schritt der Wunsch nach der Einführung einer internationalen Interventionsmöglichkeit: „First came the need to restore the dignity of those states whose regimes had been destroyed by the Nazis. Territoriality came first. But, secondly, there emerged a growing consensus among the Allies on the need to reconstruct the international order on a different basis, one that rested on commitments which went beyond state sovereignty.“ (European Identity, S. 65–66)
Atina Grossman argumentiert in ähnlicher Weise in „Toward a New Moral World Order?“, dass das Schicksal der Juden im Zweiten Weltkrieg dazu geführt habe, dass die Forderung nach Menschenrechten auch den Ruf nach Nationalität und nationaler Identität beinhaltete, da die in der Zwischenkriegszeit errungenen Minderheitenrechte offensichtlich keinen Schutz bieten konnten. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Zweifel am ausreichenden Schutz der Staaten für ihre den Minderheiten angehörenden Bürger erneut offensichtlich.
Der Sammelband „Governments-in-Exile and the Jews during the Second World War“, herausgeben von Jan Láníček und James Jordan konzentriert sich auf Bedeutung des Holocaust für die Politik und Nachkriegsplanung der europäischen Exilregierungen in London. In diesem Kontext kommt die Frage nach Kollektivrechten und Individualrechten bzw. die Frage der Menschenrechte einzelner im Vergleich zu der Politik von Nationalstaaten immer wieder in den Blick. Antony Polonsky wirft die Frage auf, ob man angesichts der geringen oder sogar ausgebliebenen Hilfeleistung der Exilregierungen hier von „bystanders“ des Holocaust sprechen könne. Die Frage der eventuellen Mitschuld und der Bewegründe der unterlassenen Hilfeleistung zieht sich durch den ganzen Band, vor allem, da die Exilregierungen ja, wie Láníček betont, eine wesentlich höhere Verantwortung für die vom Holocaust bedrohten Juden hatten als die „großen“ Alliierten, waren es doch ihre eigenen Staatsbürger. Selbst zu Zeiten der Rückkehr waren jedoch viele der Exilregierungen ihren jüdischen Minderheiten gegenüber nicht allzu aufgeschlossen. Dariusz Stola und Adam Puławski weisen am polnischen Beispiel auf, durch welche Faktoren dies geschah. Stola verweist insbesondere auf die Abhängigkeiten von der jeweiligen Gastregierung während die polnische Exilregierung erst in Frankreich, dann in Großbritannien Zuflucht suchte. Polonsky kommt in Bezug auf die polnische Exilregierung und ihre Haltung zur Jüdischen Bevölkerung in Polen zu einem harten Urteil und kritisiert die mangelnde Bereitschaft, sich zum Schutze dieser einzusetzen. Anstatt gemeinsam gegen die nationalsozialistische Besatzung zu kämpfen, habe man sich auf der Grundlage traditioneller Trennlinien in der Gesellschaft allzu leicht gegeneinander ausspielen lassen und das jeweilige Leid der jüdischen und nicht-jüdischen polnischen Bevölkerung in Konkurrenz gestellt. Auch in Hinblick auf die Nachgeschichte des Zweiten Weltkriegs blieben gewisse antisemitische Strömungen dominant, nicht zuletzt da die strenge Besatzung und Ablehnung von Zusammenarbeit durch die Deutschen dazu geführt hatten, dass die antisemitischen Strömungen in Polen nicht durch Kollaboration diskreditiert worden waren (Governments-in-Exile, S. 11ff.).
Rainer Schulze analysiert die sogenannte Heimschaffungsaktion, bei der Spanien etwa 500 Juden aus Frankreich und 367 Juden aus Griechenland als Bürger anerkannte. Er widerspricht jedoch der These der besonderen Verantwortung der Exilregierungen und wirft stattdessen die Frage auf, inwiefern man Exilregierungen, die selbst ums Überleben ihrer Mitglieder und ihrer Bevölkerungen bangten, Tatenlosigkeit vorwerfen könnte, wenn doch andere Regierungen ebenfalls zögerten und Nichthandeln bevorzugten.
Jan Láníček weist wie viele der anderen Beiträger/innen des Bandes darauf hin, dass sich die Haltung und Stellungnahmen der Exilregierungen 1942 maßgeblich änderten, als über polnische Kanäle genaues Wissen über die Morde an den polnischen Juden nach London kamen. Dieses Wissen wurde in London unter den Exilregierungen und anderen alliierten Regierungen geteilt und auch über den BBC verbreitet. Dennoch blieben Hilfsaktionen aus. Insbesondere die polnische Exilregierung wurde später von Überlebenden des Holocaust angegriffen, die betonten, dass sie sich durch deren Tatenlosigkeit nicht mehr als Bürger der Exilregierung angesehen und vertreten fühlten. Láníček vertritt die These, dass die Exilregierungen in der Nachkriegszeit zwischen exklusivem und zum Teil antisemitischen Nationalismus auf der einen und einem eher internationalistischen Diskurs auf der anderen Seite schwankten, um sich ihre eigene Position sowohl zu Hause als auch bei den Alliierten zu sichern.
Dariusz Stola ergänzt, dass viele Polen, die die Exilregierung als ihre Vertretung sahen, Minderheiten nicht als Teil dieser Gemeinschaft verstanden. Polen war in den Augen der meisten in Polen im Exil und Polen im Untergrund geteilt. Stola sieht das Scheitern der polnischen Exilregierung in Bezug auf eine Rettung ihrer jüdischen Bürger vor allem darin, dass sie völlig unvorbereitet von dem Ausmaß der Gewalt getroffen worden sei und dann mit Maßnahmen reagierte, die uneffektiv oder zu spät waren. Adam Puławski argumentiert dass sowohl die maßgeblichen Akteure des polnischen wie auch des jüdischen Untergrunds noch bis zum Ghettoaufstand und dessen Niederschlagung dachten, dass sie die Nazis durch Offenlegung und Anklage ihrer Verbrechen stoppen oder zumindest bremsen könnten. Nach einigem Engagement, insbesondere im Jahr 1942, Nachrichten aus Polen zu verbreiten, änderte sich die Einstellung im April 1943, als die Exilregierung befürchtete der Ghettoaufstands könne sich auf das gesamte Land ausweiten. Sie sprach sich explizit dagegen aus, den Aufstand über „limited and local support“ hinaus zu unterstützen (Governments-in-Exile, S. 128). Die Einstellung des polnischen Untergrunds war gespalten, denn einerseits kam es zu einer Annäherung, andererseits aber wollte man die eigenen Interessen schützen und keine großen Risiken durch Hilfe für die andere Seite eingehen.
Laut Martin J. Wein projizierte Beneš als Kopf der tschechoslowakischen Regierung viel von seiner Ersten-Weltkriegs-Erfahrung in den neuen Krieg und initiierte den Aufbau von Netzwerken nach altem Muster. Wein stellt die These auf, dass das Heydrich-Attentat von Beneš in voller Erwartung von Repressionen geplant wurde, von denen er sich einen größeren Zulauf in den Untergrund erhoffte. „While Beneš seemed to have cared to a limited degree for the Jews – or human lives at home in general – he also neglected Jewish interests in the exile community, again for political reasons.“ Dieses Desinteresse für die eigene jüdische Bevölkerung ist umso erstaunlicher, da laut einer hier zitierten Berechnung etwa 80 Prozent der insgesamt 44.000 tschechoslowakischen Flüchtlinge in alliierten Ländern Juden gewesen sein sollen (Governments-in-Exile, S. 140).
Renée Poznanski weist darauf hin, dass in den Reden von de Gaulle jüdische Franzosen nie erwähnt wurden, was typisch für die Politik der Exilregierungen gewesen sei. Während einerseits die de Gaullsche Exilregierung die antisemitische Gesetzgebung von Vichy verurteilte und, wo möglich, rückgängig machte (etwa in Nordafrika) oder für ungültig erklärte, scheute sie davor zurück, dies explizit zu benennen. Poznanski interpretiert das französische Schweigen als den Versuch, sich als rein französische Regierung darzustellen und dem Verdacht zuvorzukommen, man sei von Juden beeinflusst. In gewisser Weise sei man der Politik Polens und der Tschechoslowakei gefolgt, die den Fokus auf nationale Opfer lenkten und das Schicksal der Juden wenn überhaupt nur als einen Aspekt des nationalen Leidens mitaufgriffen. Der Herbst 1942 war auch hier ein wichtiger Wendepunkt; die nationalsozialistische Massenvernichtung der Juden konnte immer weniger ignoriert werden, insbesondere durch die Nachrichten aus Polen. Ab Januar 1944 konzentrierten sich Berichte über Deportationen wieder auf nicht-jüdische Gruppen oder führten diese nicht getrennt auf. Poznanski betont, dass eine andere Politik der Berichterstattung auch keine Garantie für die Rettung französischer Juden gewesen wäre, dennoch habe die Art der Unterordnung des jüdischen Schicksals dazu gedient „to downplay the isolation and then the extermination of the Jews“ und habe somit auch den Weg zu späteren Relativierungen innerhalb nationaler Opfergeschichten geebnet (Governments-in-Exile, S. 171).
Yitzchak Kerem stellt mit Blick auf die griechische Exilregierung fest, dass einige Kontakte zu jüdischen Interessengruppen insbesondere 1942/43 bestanden, und dass im Oktober 1943 auf deren Bitte eine Radionachricht nach Griechenland gesendet wurde, die nichtjüdische Griechen um Unterstützung für die jüdische Minderheit bat. Weitere Wünsche nach ähnlichen Ansprachen wurden jedoch abschlägig beschieden, da die Regierung zunehmend vorsichtig wurde und Repressionen gegen die Bevölkerung fürchtete. Insgesamt habe es so laut Kerem nur sehr wenige Radionachrichten gegeben und die Regierung habe Rettung für Juden weder beworben noch betrieben.
Emmanuel Debruyne referiert die Ergebnisse der offiziellen belgischen Historikerkommission zur Politik der belgischen Autoritäten im Angesicht der Massenvernichtung der Juden. Laut Debruyne war die „jüdische Frage“ kein Thema für die Belgier in London. Obwohl biologischer Rassismus sich nicht durchgesetzt hatte, war die jüdische Gemeinschaft in Belgien ungeliebt. Insgesamt habe die Exilregierung sich sehr passiv verhalten und die Verfolgung der Juden verurteilt, ohne jedoch diese spezifisch herauszustellen oder als eigenes Problem wahrzunehmen, weshalb auch keine besonderen Maßnahmen getroffen wurden. Veerle Vanden Daelen ergänzt diese These mit dem Beispiel von Antwerpen welches trotz einer langen jüdischen Tradition aufgrund der hohen Kooperationsbereitschaft der nichtjüdischen Bevölkerung im eigenen Land zur Stadt mit der höchsten Deportationsquote wurde (Governments-in-Exile, S. 233). Es waren ökonomische und nicht humanitäre Beweggründe, die laut Vanden Daelen dazu motivierten, die jüdische Bevölkerung Antwerpens nach beiden Kriegen zurückzuholen.
Nele Beyens spricht von anscheinendem mangelndem Interesse der niederländischen Exilregierung an der Massenvernichtung der eigenen jüdischen Bevölkerung, zum Teil gemischt mit nur zum Teil verborgener Antipathie seitens der Regierung (Governments-in-Exile, S. 245). Die Informationen von Jan Karski über die Vernichtung polnischer Juden im späten 1942 brachten die Wende. In 1943 und 1944 kam es zu einigen offiziellen Versuchen von Rettungsaktionen für die jüdische Bevölkerung. Insgesamt aber sei die Politik der Regierung zaghaft gewesen, und die Anstrengungen zur Rettung der Juden sehr begrenzt. Erst kurz vor Ende des Krieges schien sich die Meinung zu ändern, aber zu diesem Zeitpunkt konnte dies keinen signifikanten Unterschied mehr machen.
Wenn auch der Sammelband zur Haltung der Exilregierungen zur Judenverfolgung in vielerlei Hinsicht einen in sich geschlossenen Themenbereich diskutiert, so werden doch ähnliche Aspekte der Menschenrechte auch in Untersuchungen von Besatzung, Kolonialismus und Minderheitenfragen behandelt.
Eric D. Weitz diskutiert in „Toward a New Moral World Order?“ den Konflikt von Selbstbestimmungsrecht versus Individualrechten am Beispiel der Teilung Palästinas und weist darauf hin, dass oft das eine das andere ausschließt oder sogar dessen Bedingungen verschlechtert, weshalb es auch keinen kontinuierlichen Fortschritt der Menschenrechte gäbe, sondern diese ihre Krisen und Probleme in sich tragen und immer wieder generieren.
Jan Eckel verweist im selben Band darauf, dass das Verhältnis von Antikolonialismus und Menschenrechten viel komplexer ist als bisher angenommen, da es von „politischen und moralischen Ambivalenzen, von taktisch wechselndem Kalkül und situativen Verwendungsweisen“ geprägt sei (World Order, S. 134). Postkoloniale Staaten versuchten Themenfelder der internationalen Normsetzung zu belegen und so Deutungshoheit zu erlangen. In dieser Spannung zwischen vielfachen Aneignungsversuchen und begrenzten Erfolg dieser Deligitimierungsversuche läge die wahre Bedeutung des Menschenrechtsdiskurses.
Im Band „Moralpolitik“ sieht A. Dirk Moses ebenfalls die Frage der staatlichen Souveränität als eines der Kernprobleme der UN während der Kriegsverbrecher- und Völkermordprozesse gegen pakistanische Soldaten in Bangladesch.
Anja Mihr untersucht im selben Band das europäische Menschenrechtsregime nach dem 11. September und kann in Europa keine umfassende Erosion von Menschen- und Bürgerrechten erkennen, wie sie sie für die USA konstatiert. In der folgenden Diskussion zitiert Constantin Goschler die Philosophin Hannah Arendt in ihrer Unterscheidung zwischen individuellen Rechten, die als Staatsbürgerrechte vom Staat abhängig seien einerseits und unverbindlichen Menschenrechten andererseits. Daher folge seiner Meinung nach auf den „Rise and Rise of Human Rights“ nach 1945 ab 1990 eine neue Situation, in der Menschenrechte offensiv untergraben wurden. Die Aufwertung des Individuums habe dabei jedoch nicht unbedingt zu einer Aufwertung der Menschenrechte geführt. Stattdessen sei Sicherheit, und insbesondere auch Sicherheit mit dem Individuum als Bezugspunkt, zunehmend wichtiger geworden und habe sich als Konzept im Diskurs verstetigt, welches nun auch in direkte Konkurrenz zu den Menschenrechten treten konnte (Moralpolitik, S. 245).
In Bezug auf das Selbstbestimmungsrecht und den europäischen Kolonialismus wird auch die Doppelzüngigkeit des Menschenrechtsdiskurses angeklagt: Hagen Schulz-Forberg stellt in „European Identity and the Second World War“ die These auf, dass europäische Aktivisten sich nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs weitgehend vom Selbstbestimmungsrecht abgewandt hätten, welches sie mit für den Ausbruch des Krieges und das Scheitern des Internationalismus der Zwischenkriegszeit verantwortlich machten. Wolfgang Schmale stellt im selben Band dar, wie Imperialismus und Kolonialismus den frühen europäischen Integrationsdiskurs weiterhin beherrschten. Durch ein Aufrechterhalten der europäischen Kolonialmächte sollte so Europa als dritte Macht gegenüber den USA und der Sowjetunion gestärkt werden.
Als viertes Leitmotiv wird die Instrumentalisierung von Menschenrechten angesprochen. Die Frage des Kolonialismus und der Dekolonisierung insbesondere ist eines der Themenfelder, welches die Frage nach der Authentizität oder Instrumentalisierung der Menschenrechtsdebatte aufwirft. Fabian Klose sieht in „Moralpolitik“ die Instrumentalisierung der Menschenrechte unter anderem in der „source of embarrassment“, die sie den Kolonialmächten bereiteten, da sie offensichtlich mit doppelten Standards agierten, wenn sie einerseits Menschenrechte befürworteten und einforderten, andererseits ihre Kolonialgebiete nicht aufgeben wollten und diese im Zweifelsfall mit Gewalt sichern wollten (Moralpolitik, S. 257).
Dekolonisierungskriege waren somit die ersten Herausforderungen für ein neues Menschenrechtsregime, doch durch Notstandsgesetze setzten Frankreich und Großbritannien die eben erst kodifizierten Menschenrechte außer Kraft. Letztlich waren es seiner Meinung nach die Versuche zur gewaltsamen Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft und die damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen, die dem Kolonialismus endgültig die Legitimationsbasis entzogen. Der Zweifel an der Aufrichtigkeit des westlichen Menschenrechtsdiskurses entspricht die These von Wolfgang Schmale in „European Identity and the Second World War“, dass in den frühen Stadien europäischer Integration eine starke Kontinuität von imperialer Rhetorik weiterhin vorherrschte. Europäische kulturelle und moralische Überlegenheit waren zu diesem Zeitpunkt noch ein Leitmotiv der europäischen Debatte. Jan Eckel, ebenfalls in „Moralpolitik“, untersucht die internationale Menschenrechtskampagne gegen Chile in den 1970er-Jahren und kommt zu dem Ergebnis, dass Chile als „Katalysator für die Menschenrechtsbewegung“ diente. Dabei konnten die Menschenrechtsorgane und -gruppen auf Informationspolitik zurückgreifen, um damit ihre mangelnden Ressourcen auszugleichen.
Auch Andreas Eckert spricht im selben Band von einer Instrumentalisierung der Menschenrechtsdebatte, in diesem Fall aber vor allem durch den Versuch afrikanischer Nationalisten, sich den Menschenrechtsdiskurs anzueignen um sich politisches Kapital zu sichern. Menschenrechte hatten weniger Priorität als Fragen der Nationsbildung und der Armutsbekämpfung. Menschenrechtsrhetorik blieb meist nur auf die internationale Diplomatie begrenzt, etwa wenn Kolonialherrschaft in Frage gestellt werden sollte. Schnell jedoch wurden „rechtliche Normen und Verfahrensweisen […] zum Mittel des Widerstands, der Anpassung und der Innovation von Afrikanern“ (Moralpolitik, S. 320). Für diese Entwicklung diente der Zweite Weltkrieg durch die Schwächung der Kolonialmächte als Katalysator. Mit der Dekolonisierung wurde jedoch Freiheit gefordert, und keine Menschenrechte.
Die Kritik an einer politischen Instrumentalisierung ist dabei jedoch nicht nur Kolonialfragen vorbehalten. Menno Spiering macht in seinem Beitrag zu „European Identity and the Second World War“ ähnliche Doppeldeutigkeiten in der Begeisterung für eine europäische Atombewegung ausfindig, die sich trotz Kriegskritik und Hiroshima in Europa ausbreitete und sogar in einer „Atoms for Peace“-Bewegung mündete. Lora Wildenthal unterstreicht in ihren Beiträgen zu den Bänden „Moralpolitik“ und „Toward a New Moral World Order?“, dass Menschenrechte in Westdeutschland Argumentationsstrategien sowohl für die Linke, für Opfer des Nationalsozialismus und deren Unterstützer, aber auch für die Rechte, für (vermeintliche) Opfer der Alliierten und die Vertriebenen boten. Oft diente so laut Wildenthal „die Sprache der Menschenrechte sowohl dem Ziel universeller Gerechtigkeit als auch einem politischen Zweck. Beide sind notwendige Aspekte der Rhetorik der Menschenrechte – und beide sind notwendigerweise umstritten“. (Moralpolitik, S. 141)
Troebst zeigt in „Toward a New Moral World Order?“, wie die Sowjetunion versuchte, im Menschenrechtsdiskurs moralische Überhand zu gewinnen und beispielsweise die Menschenrechtserklärung gegen ihre westlichen Urheber zu wenden. Langfristig jedoch geriet der sowjetischen Regierung der Diskurs aus der Hand und führte zum Anstieg der internen politischen Opposition in den sozialistischen Staaten. Zum gleichen Themenbereich analysiert Jennifer Amos in „Moralpolitik“ die Haltung der Sowjetunion zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und stellt fest, dass die Sowjetunion die Menschenrechte auf ihre eigene Weise adaptierte, jedoch die Menschenrechtsdebatte zugleich den Konflikt des Kalten Krieges offenbarte: Während der Westen politische Rechte und Bürgerrechte betonte, sprach der Osten von wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Amos schlussfolgert, dass „das sowjetische Außenministerium […] die Menschenrechte als Teil seiner Außenpolitik im Kalten Krieg“ benutzt habe (Moralpolitik, 153), indem es innenpolitische Erfolge in Bildung und sozialer Sicherheit hervorhob und das Versagen der kapitalistischen Länder an Beispielen wie Rassendiskriminierung, Arbeitslosigkeit, Kolonialisierung herausstellte. Ernst Wawra diskutiert in „Toward a New Moral World Order?“ ebenfalls den sowjetischen Fall und weist darauf hin, dass ab den 1950er- und 1960er-Jahren zunehmend Bezug auf die Menschenrechte genommen wurde. In Ergänzung zu Jennifer Amos macht er deutlich, dass Dissidenten bereits zeitnah den offiziellen Menschenrechts-Diskurs als leere Versprechung ansahen. „Die Instrumentalisierung war eine wichtige Voraussetzung für die Herausbildung der Bürger- und Menschenrechtsbewegung ab Mitte der 1960er Jahre, die zeitlich mit dem Übergang von Nikita Chruschtschow zu Leonid Breschnew zusammenfiel.“ (World Order, S. 186) Bis in die 1980er-Jahre seien diese Anwendungen der Menschenrechte jedoch staatlich erfolgreich unterdrückt worden. Wildenthal fasst in ihrem Diskussionsbeitrag in „Toward a New Moral World Order?“ schließlich zusammen, dass der Menschenrechtsdiskurs zwar immer strategisch war, weist jedoch darauf hin, dass dies diesem nicht die Kraft nähme (World Order, S. 118). Im Gegenteil weise der Versuch der Instrumentalisierung wohl eher darauf hin, dass sich der Menschenrechtsdiskurs genug etabliert hatte um eine Strategie darzustellen – was an sich einen Etappensieg für die Menschenrechte bedeutete.
Zusammenfassung
Die hier behandelten Veröffentlichungen bieten mit ihren verschiedenen Schwerpunkten einen sehr lesenswerten Ausschnitt der wissenschaftlichen Debatte um die Historisierung der Menschenrechte. Während sich die Monographien auf ihr klarer eingegrenztes bestimmtes Thema konzentrieren, bemühen sich die Sammelbände darum, die Bandbreite der Meinungen und Fallbeispiele zu ihrem Thema darzustellen. In dem von Frei und Weinke herausgegeben Sammelband „Toward a New Moral World Order?“ wurden auch Kommentare und substantielle Teile der Diskussion auf der Tagung schriftlich als Text wiedergegeben, um die Auseinandersetzung innerhalb der Wissenschaftsgemeinde ebenso darzustellen wie den aktiven Prozess von Wissensaustausch. Diese Komplexität ist ein sehr lobenswerter transparenter Zugang, der die Vielschichtigkeit der Meinungen und der Ergebnisse verschiedener Fallbeispiele offenbart. Eine großzügige Auswahl exzellenter Autoren verspricht zudem, einen breiten Überblick über die wichtigen Experten, Themen und Thesen des Feldes zu geben – wie man es sich von einem Sammelband nur wünschen kann. Zuweilen fragt man sich als Leser jedoch, ob eine stärkere Herausstellung einer gemeinsamen Fragestellung und gemeinsamer Thesen nicht auch wünschens- und lesenswert gewesen wären. Liest man die Bände komplett, wird die Vielzahl von Themen und Thesen offensichtlich, die nicht in allen Fällen durch einen gemeinsamen Rahmen wieder völlig zusammengebunden wird. Die thematisch engste Vernetzung haben dabei die englischsprachigen Bände von Láníček/Jordan und Spierling/Wintle. Im Fall von Láníček/Jordan ließe sich nur wünschen, der Aufsatz von Láníček, der einen Gesamtüberblick über die Haltung der Exilregierungen gegenüber den Juden bietet, wäre nicht als Beitrag eingeordnet worden, sondern zu einem zusammenfassenden Schluss überarbeitet worden. Auch dem Band von Spierling/Wintle hätte ein zusammenfassendes Kapitel gut getan, doch wird viel durch die durchdachte Gliederung des Buches aufgefangen.
Während die Menschenrechts-Sammelbände (Frei/Weinke und Hoffmann) Debatten und Diskursen sehr viel Raum geben, konzentrieren sich Winter/Prost und Plesch am anderen Ende des Spektrums sehr auf die politischen Entscheidungen einzelner Akteure. Wintle und Spiering lassen sich wohl in der Mitte verorten.
Obwohl die Beiträge und Bücher der verschiedenen Autoren eine nennenswerte Bandbreite an Themen abdecken, bleiben einige Themen erstaunlicherweise sehr randständig. So ist der Fokus trotz des Gegenstands der universalen Menschenrechte weiterhin überwiegend eurozentrisch („Moralpolitik“ ist hier in eingeschränktem Maße globaler) und maskulin – sowohl was die Akteure als auch die Objekte der Menschenrechtsdebatten betrifft. Trotz aller Fülle der Veröffentlichungen zu Menschenrechten aus historischer Perspektive bleibt noch viel zu tun. Auf dem Weg dorthin lassen sich alle hier besprochenen Werke als Lektüre empfehlen.