Vor rund 40 Jahren fasste der amerikanische Politologe Stanley Hoffmann einige Faktoren zusammen, die aus seiner Sicht dafür sprachen, die „International Relations“ (IR) zu einer „amerikanischen“ Subdisziplin der Sozialwissenschaften zu erklären. Neben der politisch-militärischen Sonderstellung der USA nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Empirizismus der amerikanischen Wissenschaftskultur sei dafür auch die Rolle der aus Europa vertriebenen Wissenschaftler entscheidend gewesen. Nicht nur hätten diese aufgrund ihrer Verankerung in den Rechts- und Geisteswissenschaften dazu beigetragen, die bis dahin recht provinziellen amerikanischen Sozialwissenschaften für innovative Fragen und Methoden zu öffnen. Vielmehr hätten sie auch ihre lebensweltlichen Erfahrungen über den Atlantik mitgebracht, die sich aus den existentiellen Problemen der europäischen Zwischenkriegszeit sowie der Verarbeitung von Ausgrenzung, Flucht und Exil gespeist hätten. Dabei sei es den neu-amerikanischen Wissenschaftlern nicht ausschließlich um die Transplantation abstrakter Theorien und Ideen gegangen, sondern gleichzeitig hätten sie die IR immer auch als Schlüssel zum Aufbau einer „besseren Welt“ verstanden.1
Mit seiner Würdigung der Emigranten als Ideengebern und intellektuellen Aushängeschildern der damals noch jungen Disziplin folgte Hoffmann (1928–2015) – selbst ein aus Frankreich in die USA eingewanderter, ursprünglich aus Österreich stammender Forscher mit jüdischen Wurzeln – einer seit den 1970er-Jahren verbreiteten Deutung der wissenschaftlichen Emigration. So waren es anfangs vorwiegend die ehemaligen „Émigré Scholars“ selbst, die sich des Themas aus einer akteurszentrierten, oftmals autobiographischen Perspektive annahmen. Deren auffällig häufige Hinwendung zu Themen der internationalen Politik und des Rechts wurde einerseits als Reaktion auf individuelle Verfolgungserfahrungen aufgefasst, andererseits aber auch als aktiver Schritt zur Assimilierung gesehen, der sich aus der Identifikation mit typisch amerikanischen Normen und Werten ergeben habe.
Wie der in Coventry als Senior Lecturer tätige Herausgeber Felix Rösch in der instruktiven Einleitung seines Bandes betont, waren es sowohl positivistische Strömungen in den amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaften als auch institutionelle Arrangements, die dazu beitrugen, dass der Topos einer „American discipline“ lange Zeit unhinterfragt geblieben sei (S. 1). Ausschlaggebend für diese relativ undifferenzierte (Selbst-)Einschätzung sei nicht nur das quantitative und qualitative Übergewicht amerikanischer Forschungseinrichtungen gewesen, sondern auch eine ontologisch-epistemische Orientierung, die sich einem anwendungsbezogenen, an amerikanischen Interessen ausgerichteten Wissenschaftsverständnis verpflichtet gefühlt habe (S. 2).
Doch wie ist es zu erklären, dass sich jene „Küchen der Macht“, wie Stanley Hoffmann sie 1977 nannte, die zuvor dem klassischen WASP-Establishment (= White Anglo-Saxon Protestant) aus Diplomaten, Rechtsanwälten und einflussreichen Wall-Street-Bankern vorbehalten gewesen waren, gegen Mitte der 1950er-Jahre nach und nach für die europäischen Neuankömmlinge öffneten? Inwiefern lässt sich der behauptete Zusammenhang zwischen der Pluralisierung des sozialen Profils und der inhaltlich-methodischen Ausrichtung der Disziplin tatsächlich nachweisen? Welche Instrumente stehen zur Verfügung, um den Transfer von Konzepten und Ideen zu erfassen? Dem Problem der Standortgebundenheit und beschränkten Kommunizierbarkeit komplexer akademischer Konzepte widmen sich die Beiträge von Hartmut Behr / Xander Kirke und Peter Breiner im ersten Abschnitt des Sammelbandes. Am Beispiel von typischen, noch heute gängigen Übersetzungsfehlern („International Law“ statt „External Law of the State“) zeigen sie auf, dass der Transfer von einer Wissenschaftskultur in eine andere meist mit zahlreichen Glättungen, Verkürzungen, teilweise aber auch regelrechten Verfälschungen verbunden ist.
Der zweite und zentrale Teil des Bandes fragt nach dem Einfluss einzelner Wissenschaftler und deren Wirkungsgeschichte in den Vereinigten Staaten. Obwohl man sich an dieser Stelle ein deutlich breiteres Sample und weniger inhaltliche Überschneidungen gewünscht hätte, sind die Fallstudien für sich genommen überwiegend lesenswert. So macht Peter Stirks Beitrag zu Hans Morgenthau und John Herz deutlich, dass die Dichotomie zwischen „idealistischen“ Völkerrechtlern und „realistischen“ IR-Forschern sowie die damit verbundene pauschale Charakterisierung ihres Lehrers Hans Kelsen als Verkörperung eines angeblich schwachen Rechtspositivismus nicht mehr dem Forschungsstand entspricht (S. 68). Aufschlussreich sind auch die historischen Beobachtungen von William E. Scheuerman, der nach den tieferen Ursachen für die unterbliebene Rezeption von Kelsens Werk in den Vereinigten Staaten der 1950er- und 1960er-Jahre fragt. Dabei gelangt er zu durchaus überraschenden Schlussfolgerungen. Auf der einen Seite hing es mit der Dominanz der von David Ricci an anderer Stelle genauer konturierten „liberalen Matrix“ aus ethischem Relativismus, Szientismus und repräsentativer Demokratie zusammen, dass Kelsens Ideen in den USA anfangs dem Mainstream zugerechnet wurden. Zum anderen wurde dessen Werk in der amerikanischen Wissenschaftskultur vielfach durch die skeptische Linse der jüngeren deutsch-österreichischen Emigranten wahrgenommen, für die Kelsen ein „convenient stand-in for a broader attack on influential currents in US political science“ gewesen sei (S. 88).
David Kettler und Thomas Wheatland, zwei führende Experten zur Frankfurt School in Exile2, nehmen Franz L. Neumanns Beitrag zur RAND Conference of Social Science in den Blick, wo er als linker Kritiker einer „realistischen“ Politik der Stärke und Befürworter einer „rationalen“ amerikanischen Außenpolitik auftrat. Während Neumann zu früh verstarb (1954), um nennenswerten Einfluss zu erlangen, stiegen die beiden Emigranten Ernst Jaeckh und Arnold Wolfers zu transatlantischen Defense Intellectuals auf, wie Rainer Eisfeld in seiner biographischen Doppelskizze zeigt. Weitere Beiträge befassen sich mit Waldemar Gurians Rolle als einer der Väter der Totalitarismus-These und einer apokalyptischen politischen Theologie (Ellen Thümmler), Carl Joachim Friedrichs außenpolitischen Konzeptionen der Zwischenkriegsphase (Paul Petzschmann) sowie dem politischen Mystizismus von Simone Weil (Helen M. Kinsella). Abgerundet wird der Band in einem dritten Teil schließlich durch zwei Beiträge von Alfons Söllner und Richard Ned Lebow, die zwar jeweils einen anregenden Rückblick auf die Entwicklungsschübe der Emigrationsforschung diesseits und jenseits des Atlantiks bieten, deren Typologien und Analysekategorien jedoch keine grundsätzlich neuen Perspektiven eröffnen.
Das Anliegen des Bandes, historische Orientierung über die ideologischen und weltanschaulichen Grundlagen der IR vermitteln zu wollen, ist prinzipiell zu begrüßen. Um diesen Anspruch einzulösen, hätte es jedoch operabler Leitfragen und eines konsistenten Untersuchungshorizontes bedurft. Vermutlich wäre dann besser erkennbar geworden, ob und wie sich durch den biographisch-erfahrungsgeschichtlichen Ansatz verallgemeinerbare Einsichten zur Programmatik, institutionellen Ausgestaltung und Wirkung der IR im Zeitalter des Kalten Krieges gewinnen lassen. Beispielsweise hat die ebenfalls 2014 veröffentlichte Studie von Udi Greenberg quellennah und trotz einzelner biographischer Kurzschlüsse zumeist überzeugend vorgeführt, dass die „Émigré Scholars“ ihre spezifischen Weimarer Erfahrungen, ihr tendenziell elitäres Politikverständnis und einen gegen Kelsen gerichteten Rechtsskeptizismus nicht nur auf die amerikanische Nachkriegsdemokratie übertrugen, sondern dass sie ihren gewachsenen Einfluss vielfach auch dafür nutzten, um eine Universalisierung und robuste Verbreitung des amerikanischen Modells in anderen Weltregionen zu propagieren.3 Obwohl sich die International Relations vermutlich auch ohne die Emigranten zu einem hegemonialen Projekt entwickelt hätten, haben diese Akteure der Disziplin ihren ganz unverwechselbaren Stempel aufgedrückt.
Anmerkungen:
1 Stanley Hoffmann, An American Social Science: International Relations, in: Daedalus 106 (1977), H. 3, S. 41–60, hier S. 47, <https://www.amherst.edu/system/files/media/0084/Hoffman.pdf> (04.05.2016).
2 Siehe etwa Thomas Wheatland, The Frankfurt School in Exile, Minneapolis 2009; rezensiert von Detlev Claussen, in: H-Soz-Kult, 22.12.2009, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-13323> (04.05.2016).
3 Udi Greenberg, The Weimar Century. German Émigrés and the Ideological Foundations of the Cold War, Cambridge 2014.